Diesel Train - eine Zugfahrt in Jamaica

muggele

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„Diesel Train“Eine Zugfahrt von Montego Bay nach Greenval / Jamaica, 3.7.1987
(„scenic journey“ – Zitat des South American Handbook 1987)


Der Wecker schrillt; schläfrig drehe ich mich um, um zu sehen, wie spät es ist, doch das Bettlaken hat sich um mich verwickelt und ich muss mich zuerst davon befreien; es ist fünf Uhr morgens; ah ja, ich habe ja etwas Besonderes vor heute! Ich schäle mich aus Laken und Bett. In einer halben Stunde kommt das Taxi, um mich vom Ocean View Guest House in Montego Bay zum Bahnhof zu bringen. Zug fahren möchte ich heute! Zug fahren in Jamaica! Ich freue mich auf dieses kleine Abenteuer wie ein König!

Das Guest House liegt etwas erhöht am Hang; von hier hat man eine prächtige Sicht auf die Bucht und das Meer. Es ist angenehm kühl und ruhig; nur die besser Verdienenden leben hier, haben ihre Villen und ihre Angestellten.

Das Frühstück fällt eilig und entsprechend karg aus: einen Fruchtsaft und ein trockenes Toastbrot, etwas Wasser nehme ich mit.

Jamaica gehört zu den Grossen Antillen und ist die drittgrösste Insel der Karibik mit einer Fläche von 10\'991 km2 und rund 2,7 Millionen Einwohnern. Die Hauptstadt Kingston zählt gut 585\'000 Einwohner und ist angeblich die gefährlichste Stadt der Karibik; Montego Bay als wichtigster Touristenort hat rund 83\'000 Einwohner. Entdeckt wurde Jamaica von Christoph Kolumbus, doch da kein Gold gefunden wurde, war die Insel für die Spanier nicht interessant genug. Ende des 17. Jahrhunderts wurde sie dann von den Briten erobert. Wechselnde Kolonialherren prägten das Leben der Insel. Erst spät – 1834 – wurde die Sklaverei abgeschafft und 1962 erhielt Jamaica die Unabhängigkeit von Grossbritannien und ist seither Teil des Common Wealth.

Artig und ohne grossen Firlefanz hat mich der Taxifahrer mit seinem Gefährt zum Bahnhof gebracht. Natürlich lief auch um diese Morgenstunde Reggae-Musik im Autoradio und ein Kreuz und der Rosenkranz baumelten vom Innenspiegel. Den Fahrpreis hatten wir schon am Vorabend vereinbart, d.h. Wayne, der Hausherr hat das für mich geregelt; zur Abwechslung musste ich mich nicht selber darum kümmern – eine willkommene Erleichterung für mich als „white lady“.

Nun stehe ich ziemlich verloren am Bahnhof herum. Es ist immer noch finster, nur am Horizont zeigt sich schwach die Dämmerung. Ich komme mir vor wie einer der vielen Zugwaggons im Halbdunkel: scheinbar wahllos abgestellt, verloren, vergessen, auf eine noch nicht bestimmte Zukunft wartend, die vielleicht gar nie kommt.

Die Bahnhofshalle ist leer, der einzige Schalter mit einem schiefen Rollladen verbarrikadiert. Ich frage mich, ob hier wirklich um halb sieben ein Zug ins Landesinnere abfahren wird. Suchend schweift mein Blick umher, aber: kein Fahrplan, keine Hinweistafel, keine Anzeige, kein Bahnpersonal! Keine Menschenseele ist anzutreffen. Also gehe ich wieder nach Draussen; zwischen den Geleisen wuchert Gras, liegt allerhand Unrat. Innerhalb von wenigen Minuten hat die Sonne die Nacht zum Tag verwandelt und auf einen Schlag ist es hell und sogleich auch warm. Noch ist es angenehm, aber ich weiss genau, dass es bald wieder schwülheiss wird.

Über der Bucht und den umliegenden Hügeln hängen schwere bleigraue Wolken. Es ist Regenzeit und immer wieder – meistens um die Mittagszeit - gehen kurze, aber heftige Schauer nieder. Das Schöne daran ist (zumindest für mich) aber, dass es nie lange regnet und die Sonne meist rasch wieder zwischen den Wolken hervorschaut.

Im Tageslicht sehe ich nun auch das Bahnhofsgebäude: die Fassade besteht aus ozeanblau gestrichenen Brettern; irgendwie gleicht es eher einer grösseren Baracke. Gedeckt ist das einstöckige Gebäude mit Wellblech. Verzierte und verschnörkelte Vordächer gegen den Bahnsteig hin bieten Schutz vor der tropischen Sonne und den Regengüssen. An einem Dachvorsprung ist ein grosses, breites Holzschild angebracht, auf welches mit weisser verschnörkelter Schrift sorgfältig „Montego Bay“ gemalt ist.

Am richtigen Ort bin ich also!

Ziellos stolpere ich den Geleisen entlang auf der Suche nach einem Hinweis oder einem Lebewesen. Plötzlich taucht hinter einem Waggon ein Mann auf. Er scheint nicht mal überrascht zu sein, mich hier anzutreffen und erklärt mir bereitwillig und freundlich, wo ich den Zug Richtung Kingston finde. Ich bedanke mich bei ihm, habe aber insgeheim Zweifel, ob ich das nun finden werde. Das „Patois“ oder „Jamaica-Talk“ (Englisch vermischt mit Ashanti-Wörtern – eine Sprache, welche die Sklaven aus Afrika mitgebracht hatten) ist für mich nach wie vor ziemlich schlecht zu verstehen. Ausserdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Jamaicaner sehr hilfsbereit sind, die Auskunft wohl gut gemeint, aber nicht immer richtig ist. Doch siehe da: nach wenigen weiteren Minuten zwischen Zügen und Geleisen bin ich nicht mehr die Einzige! Von allen Seiten tauchen mehr oder weniger schwer beladene Menschen auf und wackeln wie ich über Schotter und Geleise in die gleiche Richtung. Und: da steht tatsächlich ein Zug mit dunkelblau gestrichenen Wagen und er ist sogar mit „Kingston“ angeschrieben!

Von Montego Bay im Nordwesten der Insel führt eine Bahnlinie durchs Landesinnere Jamaica’s direkt nach Kingston im Südosten. Die Fahrt dauert insgesamt rund sechs Stunden und führt durch das hügelige Landesinnere. Zwei Drittel der Insel sind von einem Hochplateau bedeckt, ein Kalksteingebiet, das von Schluchten, Dolinen und zahlreichen Flüssen durchzogen ist. Entsprechend abwechslungsreich und vielfältig präsentiert sich die Landschaft. Der höchste Punkt liegt auf 2\'256 m in den Blue Mountains. Dieses Gebirge durchzieht die Insel von Nordwest nach Südost, aber im Ostteil, den wir mit dem Zug nicht berühren.

Ich hatte beschlossen, nur bis Greenval zu fahren und dort den von Kingston entgegen kommenden Zug zurück zu nehmen, damit ich gleichentags wieder in Montego Bay sein würde. Vor mir liegen sechs Stunden bunter Zugfahrt!

Ich suche mir einen freien Fensterplatz in einer Ecke. Allmählich füllt sich der Wagen mit üppigen Frauen, die mit riesigen Taschen und Körben unterwegs sind, spindeldürren Männern, die folgsam ihren Frauen nachzotteln, dazwischen hüpfen Kinder auf die letzten freien Sitze. Jemand hat riesige Jutesäcke zwischen die Sitzreihen gewuchtet, sodass dort gar niemand mehr Platz nehmen kann. Der Schaffner kommt fuchtelnd und mit ernster Miene herbei geeilt und will von jedem Fahrgast die Fahrkarten sehen. Jene, die noch keine besitzen, werden lautstark und ausführlich aufgefordert, eine Karte zu kaufen. Auch die dicken Jutesäcke bzw. deren Besitzer kommen nicht darum herum. Umständlich knipst der Schaffner Löcher in die Karten und übergibt sie zufrieden lächelnd dem Käufer. Er ist stolz! Sein dunkles Gesicht mit den vielen Falten lässt ein Ereignis reiches und intensives Leben erahnen. Aufrecht steht er vor den Fahrgästen und fordert Aufmerksamkeit. Die Autorität in Person. Die Schaffnermütze Richtung Hinterkopf verschoben, wirkt er voll und ganz in seinem Element.

Obwohl ich mich anständig und bieder angezogen habe und so unauffällig wie möglich verhalte, ein paar dumme Bemerkungen und scheele Blicke von einigen Männern treffen mich als Weisse, allein Reisende doch noch. Mit ein paar trockenen Bemerkungen retour verschaffe ich mir Respekt und werde während der ganzen Fahrt akzeptiert und in Ruhe gelassen.

Draussen vor dem Fenster stehen noch viele Leute. Alle reden und rufen durcheinander, winken und gestikulieren. Mir ist aber nicht klar, ob sie auch mitfahren wollen und keinen Platz mehr gefunden haben oder ob sie nur ihre Bekannten verabschieden oder einfach zum Vergnügen da sind. In all dem Chaos stehen auch noch die Verkäufer mit ihren Bauchläden voller Kleinkram wie Fäden, Sicherheitsnadeln, Pflaster, Streichhölzer, Kaugummi, Zahnbürsten, Seifen, Haarspangen und anderen lebensnotwendigen Waren. Einer bietet wunderschöne süsse Bananen an, ein anderer frittierten Fisch – in Zeitungspapier eingewickelt – eine wuchtige Frau hält ein lebendes Huhn in die Höhe und ruft etwas Unverständliches dazu. Mit dem Zeitungspapier habe ich meine liebe Mühe: das Fett und die Druckerschwärze... Ich wende meinen Blick ab; schliesslich gibt es Gründe für diese Art von Verpackung: hier zählen andere Verkaufsargumente als in den Supermärkten bei uns zuhause!

Codfish und Ackee (Kabeljau und ein einheimisches Gemüse) gehören neben dem allzeit und überall servierten Reis sowie curried goat (mit Curry rassig gewürztes Ziegenfleisch) zu den typischen Nationalgerichten Jamaica’s. Dazu gibt es allerlei Gemüse und Früchte in Hülle und Fülle.

Verwundert, ja fast benommen, beobachte ich dieses emsige Treiben. Bin ich im Kino? Welcher Film läuft da vor meinen Augen ab? Farbiger geht’s nicht mehr! Das ist Karibik! Und nicht Mittags um zwölf, nein morgens um halb sieben! Der weltberühmte Strand von Negril könnte dies niemals bieten!

Kurz vor sieben setzt sich der Zug weithin hörbar zaghaft in Bewegung: es rüttelt und schüttelt, knattert und ächzt, sodass ich Zweifel darüber bekomme, ob ich mir da etwas Schlaues ausgedacht habe. Ob wir Fahrgäste wohl in den Steigungen auch neben dem Zug hergehen können, wie damals auf dem Altopiano in den Anden? Ich bin ja wirklich gespannt! Natürlich pfeift der Zug auch. Unablässig tönt die Pfeife vor jeder Kurve, jedem Bahnübergang, jedem Dörfchen (und bestehe dieses nur aus einer Wellblechbaracke) und jeder Ziege, die auf oder neben dem Geleise steht. Ich werde den Eindruck nicht los, dass der Zugführer damit die Anwohner auf der ganzen Strecke grüsst. Oder singt er gar?

Aber: es fährt! Und wie! Bald liegt die Küstenlandschaft hinter uns und wir tauchen ein in ein hügeliges, üppiges Grün, über welchem träge der Morgendunst hängt, schlängeln uns zu immer neuen überraschenden Ausblicken in eine paradiesische Landschaft. Undurchdringbar das gründe Dickicht von wundervollen Bäumen, Bambus und farbenprächtigen Blüten. Dann wieder zieht eine Bananenplantage vorbei, später ein Zuckerrohr- oder Maisfeld und irgendwann verschwindet alles wieder im grünen Nichts. Hie und da sind kleinere Kornfelder sichtbar, daneben stehen einfache Häuser, manchmal aus Stein gebaut, häufig nur notdürftig aus Wellblech und Holz zusammen gezimmert; ein kleiner, wegen den Ziegen eingezäunter Gemüsegarten scheint für das Allernotwendigste zu sorgen.

Die tropische Vielfalt Jamaica’s – die Insel wird oft auch „Island of Springs“ - genannt ist überwältigend. Zitrusfrüchte und Kokosnüsse, Kaffee und Zuckerrohr sowie Bananen und Ananas gedeihen und werden exportiert. Der Kaffee der Blue Mountains ist einer der teuersten Kaffeesorten überhaupt und ist weltweit nur in ausgesuchten Delikatess-Geschäften erhältlich. Getreide, Mais, Kartoffeln, Ingwer u.a. werden für den Eigengebrauch angebaut.

Allerlei bunte Vögel – die berühmten „Humming birds“ - und Schmetterlinge bevölkern die Wälder und die Ufer der Flussläufe. Palmen reichen oft bis auf wenige Meter an das durch einen feinen Sandstrand abgegrenzte glasklare Meer.


Das Vorbeiziehen dieser malerischen Szenerie erinnert mich unweigerlich an einen älteren Reggae-Song Bunny Wailer’s:

There’s a land that I have heard about -
So far across the sea -
To have you on my dreamland would be like heaven to me -
We’ll get our breakfast from the tree -
We’ll get our honey from the bee -
We’ll take a ride on the waterfall -
And all the glory we live them all -
And we live together on that dreamland and have so much fun -Oh what a time that will be -
Oh yes, you wait wait wait and see -
We’ll count the stars up in the sky -
And surely we never die -

(frei übersetzt)
Es gibt ein Land, von dem ich gehört habe,weit weg auf der anderen Seite des Meeres -
Dich auf diesem Traumland dabei zu haben, wäre wie der Himmel auf Erden für mich -
Wir holen uns das Frühstück von den Bäumen -
Wir holen uns den Honig von den Bienen -
Wir reiten auf dem Wasserfall -
Alle Herrlichkeiten können wir erleben -
und wir leben zusammen in diesem Traumland und haben so viel Freude dabei -
Oh was für eine wunderbare Zeit wird das sein -
Oh ja, warte, warte und Du wirst sehen -
Wir werden die Sterne am Himmel zählen -
Und sicher werden wir niemals sterben -


Jamaica ist ein Paradies! – Zumindest für denjenigen, der es als Tourist mit harten US-Dollars in der Tasche besuchen kann – und für denjenigen, der den Worten Bunny Wailer’s nachempfinden kann...

Der Zug rattert an Einsiedlerbehausungen vorbei – dort wird nicht angehalten. Manchmal erhascht mich ein staunender Blick eines Kindes. Alles Unverständnis dieser Welt liegt in diesen dunkelbraunen Augen. Ein Nicht-Begreifen-Können, was sich da täglich vor seinem Zuhause abspielt, ohne es jemals fassen zu können.

Nach einiger Zeit regelmässiger Fahrt, die mich schon etwas einlullen wollte, verlangsamen wir unsere Geschwindigkeit und halten zum ersten Mal in einem Bahnhof an. Die Bezeichnung Bahnhof ist korrekt, tatsächlich handelt es sich um eine Handvoll einfacher, bunt gestrichener Häuser, zu denen eine rötliche Staubstrasse von Nirgendwo nach Irgendwo führt. Draussen hat sich wieder eine grosse Menschenmenge eingefunden. Alte zahnlose Weiber mit Kopftüchern quatschen mit gleichaltrigen Männern. Egal ob Alt oder Jung: die Männer tragen entweder helle Schiebermützen oder Sonnenbrillen, manchmal auch beides. Sicher aber tragen sie keine Waren herum. In der Regel sitzen die Männer im Schatten einer Bar oder eines Cafés beim Dominospiel, einem Glas Bier und oft mit einem joint „Ganja“ zwischen den Fingern... Jüngere Frauen balancieren riesige Körbe mit Waren auf ihren Köpfen und bahnen sich fast tänzerisch elegant ihren Weg durch die Menge. Ihre Kleidung leuchtet farbenfroh in der Morgensonne. Einige Passagiere steigen zu; ich wundere mich, wo sie noch Platz finden sollen, denn ausgestiegen ist niemand.

Eine Vielfalt von Waren und Essbarem wird auch hier feilgeboten: frischer und gebackener Fisch (wieder in Zeitungspapier verpackt), Früchte wie ganze Ananas, Mangos, Bananen, Kokosnüsse, Zuckerrohrstücke, Käse, Süssigkeiten und Kuchen in allen möglichen Varianten, gekühlte Getränke und Speiseeis. Einige Verkäufer bieten ihre Ware sogar im Zugabteil an und werden von den Passagieren freudig begrüsst. Ein reger Handel spielt sich in den Gängen und durch die Fenster ab, jeder scheint noch etwas zu brauchen, jeder das Passende anzubieten. Mir gefällt, wie die Früchte im Nu zu handlichen Häppchen zubereitet werden: Ananas werden mit einem riesigen Messer in sekundenschnelle geschält, in Scheiben geschnitten und in einem Plastiksäckchen dem Käufer gereicht. Kokosnüsse werden geschickt geköpft und mit einem Strohhalm gereicht oder in mundgerechte Stücke zerkleinert; ähnlich ergeht es dem Zuckerrohr zum Kauen. Nochmals werden Jutesäcke mit Ananas zugeladen. Dazwischen stolpert der Schaffner herum und mahnt mit gebieterischer Stimme zur Eile, zieht Fahrgeld ein, kontrolliert Ladungen und nimmt da und dort ein Schnäpschen! Seine Mütze thront inzwischen fast Schwindel erregend weit hinten! Ob er wohl noch den Überblick hat? Zwischen den Leuten draussen steht da und dort auch ein Kind, schaut mit grossen, dunklen Augen dem Treiben zu und starrt auf exotische Leute wie mich. Grössere Kinder versuchen sich schon als Verkäufer und bieten mit einem umwerfend liebenswürdigen Lächeln „Chiccles“ und Bonbons, Zigaretten und Streichhölzer an. Der Anblick der Kinder sticht mir ins Herz; was für eine Wahl haben sie, um je dieser Armut zu entfliehen!

Jamaica’s Wirtschaft wird geprägt durch den Export von Bauxit und dem Tourismus. In der Zeit, als ich Jamaica besuchte, gehörte es zum drittgrössten Produzenten weltweit dieses Erzes. Inzwischen belegt es nach Jahren des Einbruchs und erneuten grossen Anstrengungen wieder den vierten Platz nach Abbaumenge. Das zweitwichtigste Standbein ist der Tourismus. Rund 20% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Mit einem BIP pro Einwohner von USD 4’381 (2005; kaufkraftbereinigt / Wikipedia) gehört Jamaica aber zu den wohlhabenderen Ländern der Karibik (Vergleich CH: USD 32\'571 / seco).

Der Schaffner pfeift zum x-ten Mal gebieterisch und diesmal kommt etwas Ordnung in die Szenerie. Entschlossen teilen sich die Menschen auf in jene, die mit dem Zug weiterfahren möchten, und jene, die am Bahnsteig zurück bleiben. Sie treten respektvoll zurück, winken, rufen, lachen, während sich der Zug pfeifend und ratternd wieder in Bewegung setzt.

Der blaue Himmel spannt sich über das undurchdringlich scheinende Grün des Dschungels. Keine Wolke trübt das Blau im Landesinneren. An der Westküste hatte es jeweils um die Mittagszeit kurz geregnet. Man flüchtete vom Strand unter eines der Vordächer der zahlreichen Bars, trank etwas, schwatzte und nach zwanzig, dreissig Minuten schien wieder die Sonne, der weisse Sandstrand glitzerte im Kontrast zum hellblauen Meer.

Hier, im Landesinneren regnet es heute nicht. Nur drüben, in den Blue Mountains hängen tiefgraue, bleischwere Wolken.

Langsam zieht ein Bauernhof am Zug vorbei. Ein Esel und ein paar Ziegen grasen unter den Schatten spendenden Bäumen. Im Hintergrund ist ein gepflegtes Gemüsefeld sichtbar. Der Bildausschnitt entgleitet meinem Blickfeld, der Zug fährt in eine Kurve und nützt die Topografie aus. Unter einer Holzbrücke spült ein Fluss sein schlammig braunes Wasser eiligst fort. Das von den Ureinwohnern stammende Arawak-Wort „Xamaica“ bedeutet sinngemäss „Land von Wasser und Wald“. In der Tat: überall begegnen wir Wasser: Wasserfällen, Seen, Flüsse und rundum das zauberhafte karibische Meer. Eine grüne, fruchtbare Insel... „Island of Springs“!

Unser Zug hält wieder vor einer einfachen Hütte an, ein Mini-Bahnhof. Dasselbe Treiben wiederholt sich wie schon beim ersten Halt: ein farbiges Durcheinander von Menschen und Waren, Lachen und Rufen, Feilschen und Verkaufen. Ein schlicht, aber sauber gekleideter Mann steigt zu. Mit seiner Stimme übertönt er bald das allgemeine Gewirr und die Menschen beginnen, ihm zuzuhören. Er verkauft Gebetsbücher. Leider verstehe ich wieder kein Wort von seinem Patois, aber meine Mitreisenden lauschen seinen Worten respektvoll. Da und dort verteilt er Handzettel und fordert die Anwesenden auf, in seinen Gesang einzustimmen. Zuerst zögernd, bald aber verbreitet singen, klatschen und tanzen die Fahrgäste im Rhythmus des Predigers. Auch die Menschen draussen auf dem Bahnsteig haben in das Singen, Tanzen und Klatschen eingestimmt. Der Zug wiegt im Rhythmus des Gesangs, rund um mich sehe ich nur fröhliche, lachende Gesichter! Der „Diesel Train“ hat sich kurzerhand zu einem „Gospel Train“ gewandelt!

Der Fahrplan dieses Zuges wird wohl vom Leben der Menschen bestimmt, nicht von irgendwelchen Bürokraten. Was da alles Platz hat! Undenkbar bei uns! Und trotz dieser langen Pausen, trotz der gemächlichen Fahrt scheint es, der Zug treffe jeweils pünktlich an seinem nächsten Bestimmungsort ein. Denn immer stehen wieder Leute am Bahnhof und erwarten den Zug. Oder ist es einfach, dass sie mehr Zeit haben, auf den Zug zu warten? Pünktlichkeit in Jamaika ist nicht gleich zu setzen mit unserer Pünktlichkeit. „Soon come“ - immer wieder höre ich dieses „soon come“. „Soon come“ ist eine Lebensphilosophie, es ist verbindlich, was die Beziehung betrifft, aber völlig unverbindlich in Bezug auf die Zeit. Es kann in einigen Minuten sein, morgen oder irgendwann..., ein bisschen dem „mañana“ ähnlich.

Diese Pünktlichkeit hier scheint auf jeden Fall bekömmlicher zu sein; sie lässt soviel Raum für anderes, um zu „sein“... Nur: in wirtschaftlichen Einheiten gedacht kommt man damit nicht so weit.

Nach ein paar weiteren Liedern und Reden des Predigers taucht der Schaffner aus dem Nichts auf und verscheucht Fröhlichkeit und Tanz. Schliesslich ruckt der Zug an und nimmt seine Fahrt in Richtung Südosten wieder auf.

In dem allgemeinen Gewirr hat sich ein vielleicht 15jähriger Junge neben mich gesetzt. Sein Teint ist auffallend hell, er trägt ein gelbes T-Shirt, verbeulte Kakihosen und die unvermeidbaren weissen Tennisschuhe. Bei sich hat er eine halbvolle beige Sporttasche. Plötzlich fängt eine ältere Frau mit Kraushaar an, laut auf ihn einzureden. Sie tritt zu ihm hin, ihr Oberkörper gerät bedrohlich in Schräglage, ihre Stimme wird immer lauter. Offenbar beschuldigt sie ihn, ihr etwas gestohlen und es in seiner Tasche versteckt zu haben. Die Frau redet sich in Rage, während der Junge zu zittern beginnt und sich vor Scham nicht zu rühren wagt. Er hält den Blick ins Nichts vor sich gesenkt. Die Leute im Abteil haben das mitgekriegt und gesellen sich zögernd dazu; sie versammeln sich um uns herum, eine heftige Diskussion entbrannt. Allmählich ergreifen sie Partei: die eine Gruppe nimmt den Jungen in Schutz und stellt sich neben ihn, die andere versammelt sich hinter der schimpfenden Alten. Lautstark wird zwischen den beiden Gruppierungen verhandelt: Argumente werden in die Runde geworfen, mit den Händen in der Luft gefuchtelt, um die Aussagen zu unterstreichen. Der Junge und seine ominöse Tasche werden mit den unterschiedlichsten Blicken traktiert. Er fängt still an zu weinen, kann sich aber nicht wehren. Ich gebe ihm ein Taschentuch. Ein hilfloser, aber dankbarer Blick streift mich.

Der Junge sagt während der ganzen Zeit kein Wort, während sich rund um ihn herum die Mitreisenden schier in die Haare geraten. Es scheint aber, dass sie einen Kompromiss suchen, denn der Junge muss die Tasche nicht öffnen. Schliesslich tritt Friede ein: die Leute kehren zufrieden und schwatzend zu ihren Plätzen zurück, es wird ruhiger und der Junge sinkt in sich zusammen, als ob er im Sitz verschwinden wollte. Endlich hört man wieder das monotone Rattern des Zuges. Wo war denn diesmal der Schaffner? Er hatte diesmal wohl anderes zu tun...

Nach dieser aufwühlenden Episode tut es gut, für eine Weile nur dem einschläfernden Rhythmus des Zuges zu lauschen. Das regelmässige Rattern, von den kurzen grellen Pfiffen durchbrochen, wirkt beruhigend. Vor dem Fenster zieht immer noch diese paradiesische Landschaft unter dem blauen Himmel vorüber. Über den Blue Mountains im Osten hängen dieselben bedrohlichen Wolken wie schon Stunden zuvor. Hie und da queren wir einen Fluss, ein Bächlein, sehen in der Ferne einen wie von einem Landschaftsmaler gemalten Wasserfall. Ordentliche Felder, rötliche Erde, Plantagen, Palmen, Bambus, genügsame Ziegen, hellblau, rosa, grün, gelb oder knallrot gestrichene Häuser, immer weiter...

Verwirrt stelle ich fest, dass der Zug seine Fahrt wieder verlangsamt. Gemäss meiner Zeitrechnung müsste nun „mein“ Bahnhof auftauchen. Tatsächlich steht „Greenval“ am gelb gestrichenen Holzgebäude draussen. Es ist bald Mittag und nur ein paar vereinzelte Fahrgäste lösen sich aus dem Schatten des Gebäudes. Ich suche meine sieben Sachen zusammen und steige aus, hinein in die gleissende Sonne mitten in Jamaica. Aussergewöhnlich rasch setzt sich der Zug wieder in Bewegung, so als ob er die mit all’ den Spektakeln verlorene Zeit wieder einholen wollte. Ich sehe ihm gedankenverloren nach, bis er hinter der nächsten Biegung des Grüns verschwunden ist.

Was für eine Zugfahrt! Ich habe ein Gefühl in mir, als ob ich tagelang in diesem Abteil gesessen wäre. So viele Eindrücke! So viele Bilder! So viele Emotionen! Benommen setze ich mich mangels anderer Sitzgelegenheit auf den Boden unter dem Vordach des Bahnhofsgebäudes, lehne mich an die Wand und warte auf meinen Retourzug, der mich wieder nach Montego Bay bringen soll. Macht nichts, wenn es noch etwas dauert... Es eilt nicht... Soon come!

Die Strecke des „Diesel Train“ wurde 1992 eingestellt.(Text niedergeschrieben im 2007 aufgrund von Tagebuchnotizen anlässlich meiner grossen Südamerika-Reise 1987)
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Sorry, hat ein wenig gedauert mit der Freischaltung. Der Hausredakteur im Forum 'Erzählungen' ist derzeit ooo (out of order) und ich schau - viel zu selten, wie Du leider erfahren musstest - ein wenig nach dem Rechten.

Aber nu' bist Du drin ;-)

Welcome to the monkeyhouse...

Knipste seine Lächelleuchte, ehe er entfleuchte
 



 
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