Dirk, mein Bruder

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Dirk, mein Bruder
Alle, die in unserer Gegend wohnten, nannten es nur das Altmann Haus. Früher einmal hatte es einsam und abgelegen in einem Waldstück gestanden, doch seitdem neuer Baugrund am Stadtrand erschlossen wurde, war es in Sichtweite unserer neuen Wohnung. Keiner wusste genau wie alt der mit Efeu überwachsene Backsteinbau war. Selbst mein Großvater konnte sich nicht erinnern, dass jemals jemand in ihm gewohnt hätte. Teile des Daches waren schon seit Jahren eingefallen und Moos hatte sich auf die morschen Balken des Dachstuhles gesetzt. Meine, und alle Eltern der Kinder unserer Gegend hatten uns davor gewarnt in dem alten Gemäuer zu spielen, aber natürlich haben wir uns nicht daran gehalten. Das Altmannhaus hatte im Grunde genommen keine Überraschungen mehr zu bieten, alle Räume waren leer und viele Wände mit Graffiti beschmiert. Hin und wieder übernachteten Obdachlose oder Pärchen in dem alten Bau und ließen ihre Abfälle einfach dort liegen. Irgendwann war es uns auch zu langweilig Räuber und Gendarm zu spielen und mit 15 hat man andere Dinge im Kopf die einen ablenken. Nur mein jüngerer Bruder Dirk schaffte es mich immer wieder zu bewegen das Haus aufzusuchen. Dirk war zehn und nicht ganz Richtig im Kopf, wie Viele zu sagen pflegten. Er hatte bei seiner Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen, und nie richtig sprechen gelernt. Fast den ganzen Tag saß er vor der Glotze, obwohl er eigentlich nicht viel von dem verstand was da passierte. Seit seiner Geburt habe ich ihn nur selten lachen gesehen und in seinem Gesicht schien immer ein unergründlicher Schmerz zu Hause zu sein. Ich glaube ich war, außer meiner Mutter, der einzige zu dem er vertrauen hatte. Ich habe nie gelacht, wenn ihm wieder einmal etwas nicht gelang. Meine Eltern schleppten ihn zu verschiedenen Ärzten und Therapeuten, aber geändert hatte sich nie etwas. Eins der wenigen Dinge die ihn von seinem geliebten Fernseher weglocken konnte war, wenn ich mit ihm zum Altmannhaus ging. Dann war er wie ausgetauscht, er flitzte wie ein Derwisch durch alle Räume, untersuchte die wenigen Gegenstände die noch vorhanden waren und nur unter Einsatz aller Kräfte war er zu bewegen, wieder mit nach Hause zu kommen.
Anfang Mai, wir saßen gerade beim Frühstückstisch, als mein Vater uns über den Rand der Zeitung ansah, und beiläufig sagte, "das Altmannhaus soll abgerissen werden, es wird ein neuer Industriepark an der Stelle gebaut ". Mutter und meine Schwester schienen wenig beeindruckt, aber als ich in Dirks Augen blickte entdeckte ich blankes Entsetzen. Nach dem Frühstück saß er nicht wie üblich vor seiner geliebten Glotze, sondern ich fand ihn in seinem Zimmer sitzen, er starrte blicklos zum Fenster hinaus. " Dirk, was ist los mit dir ", fragte ich ihn. Zuerst reagierte er gar nicht, doch dann sah er mir direkt in die Augen. Sein Mund formte angestrengt nur ein Wort "Altmannhaus". Dann sprang er auf, lief auf mich zu und zerrte an meinem Arm. "Altmannhaus, Altmannhaus", stieß er erregt hervor. Dirk zeigte auf die Tür und wiederholte immer das gleiche Wort "Altmannhaus". Ich sah meinen Bruder an, dessen kleiner Körper am ganzen Leib Zitterte, und wusste, dass was immer ich mir für den Rest der Ferien vorgenommen hatte, verschoben werden musste. Es blieben noch sieben Tage Zeit, sieben Tage die ich Dirk schenken musste. Ich überlegte rasch, was zu tun war, dann packte ich ein paar Dinge zusammen, und machte mich mit Dirk auf den Weg. Je näher wir dem Haus kamen desto aufgeregter wurde mein Bruder. Und glauben sie mir, als wir am Altmannhaus ankamen schien es, als ginge von der Ruine eine Welle von Sympathie und Wiedersehensfreude aus. Ich verzog mich dann unter irgendeinen Baum und holte einen alten Schmöker heraus. Dirk flitzte sofort los und war von da an nicht mehr zu sehen. Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, den als ich auf die Uhr sah, waren bereits vier Stunden vergangen. Von meinem Bruder war keine Spur zu sehen, und nach dem ich mehrfach seinen Namen gerufen hatte fing ich an ihn zu suchen. Schließlich entdeckte ich ihn im obersten Stockwerk, er hatte eine alte Porzellanscherbe in der Hand, und ritzte mit ihr an einer Wand. Dirk, der sonst zu konzentrierter Arbeit kaum fähig war hatte ein fast türgroßes rechteckiges Muster in die Wand geritzt. Sein Gesicht war durch die ungewohnte Arbeit mit Schweiß bedeckt. Fast flehentlich sah er mich an und hielt mir die Scherbe hin. Ich nahm das Stück Porzellan entgegen und schaute mir die Wand genauer an. Dirk hatte nicht nur ein Muster in die Wand geschabt, sondern er legte eine Art Tür frei die wohl vor langer Zeit mit Tapete überklebt worden war. Jetzt war auch meine Neugier geweckt, was mochte sich wohl hinter ihr befinden. Während ich weiter ritze hatte sich Dirk erschöpft an die Wand gelehnt, die ungewohnte Arbeit hatte ihm doch stark zugesetzt. Nach wenigen Minuten war die Tür freigelegt, aber mir gelang es nicht sie zu öffnen. Erst nach längerem suchen fand ich im Müll eine alte Eisenstange, die ich als Hebel nutzen konnte. Ich stemmte sie in den Spalt, und nach kräftigem Rucken öffnete sich knarrend die alte Tür. Meine Erwartungen waren nicht all zu groß, dennoch war ich enttäuscht, als sich der Raum hinter der Tür lediglich als ein alter Wandschrank entpuppte. Einige morsche Kleiderbügel hingen noch an rostigen Stangen und ein alter Vorhang bedeckte die hintere Wand. Für Dirk hingegen schien es als hätten wir die Tür zu einem Zauberschloss geöffnet. Er berührte fast zärtlich all die wenigen Gegenstände, als wären sie kostbar und zerbrechlich. Ich ließ ihn dann allein in seiner Wunderwelt und verbrachte die restliche Zeit mit lesen. Am später Nachmittag suchte ich ihn erneut. Als ich die Treppe zum 1. Stock hinauflief wusste ich plötzlich das wir nicht mehr allein wahren. Wie weit entfernt hörte ich das Lachen von mehreren Kinder, und dazwischen auch die Stimme meines Bruder. Ich blieb auf der Treppe stehen, da ich meinen Ohren nicht Traute. Mein Bruder der kaum ein Wort sprechen konnte sang. Ich stürmte aufgeregt in das Zimmer, doch in dem Moment als ich die Tür öffnete, verstummten die Stimmen. Ich fand ihn im Schrank sitzend, er starrte auf die Wand an der vorhin noch der Vorhang gehangen hatte. Er lag heruntergerissen am Boden und ich erkannte, dass hinter ihm die ganze Zeit ein großer Spiegel versteckt gewesen war. Es war ein Spiegel wie man ihn gelegentlich noch in Antiquitätengeschäften findet, mannshoch und in dunkles Eichenholz gefasst. Dirk saß wie leblos vor ihm und starrte gebannt in ihn hinein. Und Dirks Spiegelbild sah mich aus sanften Augen an. Alles in seinem Gesicht wirkte entspannt und zufrieden, und ich musste unwillkürlich zurück lächeln. Dann erst bemerkte ich etwas was mich erstarren ließ, es war nur Dirk der mir entgegenlächelte, ich war im Spiegel nicht zu sehen. Hier stimmte etwas nicht, ich blickte auf meinen Bruder, der immer noch völlig starr am Boden saß. "Wir müssen verschwinden!", schrie ich ihn an, dann fasste ich ihn am Arm und zog ihn wie eine Puppe hinter mir her. Es kam mir vor, als währe er plötzlich schwer wie Blei, und als ich mich noch einmal umsah entdeckte ich das sein Spiegelbild wie festgewachsen an ihm klebte. Je mehr ich an ihm zerrte desto kleiner wurde es im Spiegel. Dann, mit einem kräftigen Ruck war Dirk frei. Ein letztes Mal sah ich mich um und es schien mir, als wenn im Spiegel die verschwommenen Silhouetten von Kinder zu sehen währen, die ihre Arme nach mir ausstreckten und ich meinte leises Weinen zu hören. Ich schlug die Tür des Wandschrankes zu und hielt Dirk, der am ganzen Körper zitterte, fest an mich gedrückt während ich nach Hause lief. Meinen kleinen Bruders hatte die Anstrengung stark geschwächt. Auch zeigte er keinerlei Interesse mehr an seiner Umwelt, und saß in den nächsten Tage nur noch apathisch in seinem Zimmer. Wenn ich ihn ansah entdeckte ich in seinen Augen einen halb sehnsuchtsvollen, halb vorwurfsvollen Blick. Er streckte dann seinen Arm nach mir aus, und seine Lippen formten schwerfällig das Wort "Altmannhaus". Aber die Angst, noch einmal in das Gemäuer zurückzukehren, war zu groß für mich. Dann, einen Tag, bevor das alte Haus abgerissen werden sollte, war Dirk verschwunden. Ich wusste sofort wo er zu finden war, und das ich allein zu ihm musste. Trotz meiner 15 Jahre zog in der Gewissheit los, als ein Anderer zurückzukehren. Schon als ich die Treppe die in den ersten Stock des alten Hauses führte betrat, hörte ich Kinderlachen und auch die Stimme meines Bruders. Das Lachen verschwand als ich die Tür zum Zimmer öffnete. Ich fand ihn wie beim letzten Mal vor. Er saß vor dem Spiegel und blickte mich wiederum aus ihm heraus an. So sahen wir uns einige Sekunden Auge in Auge stumm an. Dann fing Dirks Spiegelbild an zu singen, und auch er selbst bewegte die Lippen, es schien ein fröhliches Lied zu sein, obwohl ich kaum ein Wort verstand. Langsam legte sich meine Anspannung. Jetzt hörte ich das sich andere Stimmen hinzugesellt hatten. Das Spiegelbild meines Bruder hob die Hand und winkte zuerst mir zu, dann hin zum Rand des Spiegels. Unerwartet erschienen zuerst zwei Kinderhände, dann schaute ich in die Augen eines blonden Mädchens, dass mich neugierig und doch ein wenig ängstlich musterte. Wenig später erschienen weitere Kinder, sie hielten sich an den Händen und sahen mich an. Dann, wie Wasser in einem Teich, nachdem man einen Stein hinein geworfen hatte, klärte sich der Hintergrund. Ich sah Bäume, Wiesen, Büsche, und ganz hinten stand das Altmannhaus. Aber es war nicht der Bau wie er jetzt da stand, sondern wie er wohl vor hundert Jahren ausgesehen hatte. Keine Spur von Moos und Efeu, sogar das Dach war frisch gedeckt. Dann sah ich mir die Kinder genauer an und mir fiel mir auf, dass etwas mit ihnen nicht stimmte. Eines der Kinder, ein Mädchen, schien blind zu sein, den es hatte keine Pupillen. Anderen Kindern fehlten Gliedmaße oder zeigten Verbrennungen. Manchen sah man nichts an, doch ich spürte das sich ihre Verletzungen im inneren, in ihrer Seele befanden. Aber das tat der Lebensfreude die sie ausstrahlten keinen Abbruch. Plötzlich verstummte der Gesang, und mein Bruder deutete auf etwas das im Wandschrank lag, und dann auf den Spiegel. Im dem Augenblick, in dem ich den Gegenstand erkannte, wusste ich was mein Bruder von mir verlangte. Er wollte nicht mehr zurück geholt werden, er wollte da bleiben, wo er frei war, wo Kinder waren wie er selbst. War ihm bewusst was er von mir verlangte, ich würde ihn für immer verlieren, dass war mir klar. Doch dann sah ich in die glücklichsten Augen der Welt, ich ergriff die Eisenstange, und schlug sie in den Spiegel. Er zersprang augenblicklich in Tausend kleinster Glassplitter, die mich und meinen Bruder überschütteten. Dann wurde es still um uns. "Wir müssen gehen", sagte ich zu Dirk, obwohl ich wusste, dass er mich nicht verstand. Ich hob ihn auf und trug ihn nach Hause. Als wir ihn abends auszogen und ins Bett legten lebte er noch. Dann entdeckte ich eine Spiegelscherbe die er in seiner Hand hielt. Sein letztes Geschenk an mich. Sie hatte annähernd die Form eines Hauses. Am nächsten Tag wachte Dirk nicht mehr auf. Ich glaube seine Seele wohnte schon seit dem Vortag nicht mehr in ihm. Das Altmannhaus wurde wie geplant abgerissen. Dirk geht es gut, jeden Tag schau ich nach ihm und seinen Freunden durch das kleine Fenster in Form eines Hauses das in meiner Nachttischschublade liegt. Wir singen dann leise zusammen das Lied, ihr Lied.
Wir drehen uns im Wind, Leise, sanft im Kreise, nur auf unsere Weise.
Wir fliegen wie die Möwen, sind mutig wie die Löwen, und ständig auf der Reise, nur auf unsere Weise.
Wir schwimmen und wir tauchen, zu vielem zu gebrauchen, wir hören zu ganz leise, nur auf unsere Weise.
wir fühlen und wir denken, haben auch zu verschenken, wir sind genau so weise, nur auf unsere Weise.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
eine

tolle geschichte. hat zwar n paar tippfehler, aber liest sich dennoch gut. nur das gedicht am ende würde ich als solches schreiben (zeilenumbrüche), damit es besser wirkt.
lg
 



 
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