Doppelleben

maerchenhexe

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Doppelleben

Niemals nimmt er den Aufzug in dem vierstöckigen Gebäude, er läuft! Treppauf – treppab, mehrmals täglich, sein einziges Fitnesstraining, das er sich und seinem Körper zugesteht. Schmalbrüstig trägt er Anfragen und Akten zu den Kollegen, bespricht mit ruhiger Stimme die anstehende Problematik, um sich dann zwecks Weiterbearbeitung wieder in seiner Büroburg zu verschanzen. Bei Mitarbeitern und Vorgesetzten der Stadtverwaltung erfreut er sich äußerster Wertschätzung, denn er ist variabel einsetzbar und ohne Murren zum Vertretungsdienst bereit, der technische Angestellte Hagen Herzfeld. Über Neckereien, die ihn ob seines Namens täglich mehrfach ereilen, lacht er lauthals oder lächelt zustimmend, je nach Befindlichkeit des Scherzenden. Eigentlich kennt er sie alle, die Sprüche – Hagen, der kleine Speerwerfer, Hagen der Held vom Amt..., aber er will ihnen nicht die Freude nehmen, deswegen ist er seit zwanzig Jahren so beliebt in seiner Behörde. Der Oberbaurat nennt ihn ‚mein Mann für alle Fälle’ oder ‚special agent’ und das wiederum erfüllt ihn mit einem gewissen Stolz.
Nur manchmal, wenn alles ein bisschen zuviel wird, zieht er sich für ein paar Minuten auf das stille Örtchen für Mitarbeiter zurück und lässt vor seinem geistigen Auge das Bild eines Waldes entstehen. Dann beherrscht ein fremd anmutender, lüsterner Ausdruck sein Gesicht.
Aber eigentlich ist er zufrieden, hat sich eingerichtet in dem Leben, das er führt, zumal er seit zwölf Jahren auch noch mit seiner Traumfrau verheiratet ist. Und weil es ihre finanzielle Lage erlaubt, gönnt er sich und seiner Liebsten regelmäßig einen Urlaub im geliebten Ferienhaus. Morgen ist es wieder soweit, Erika packt schon.

Endlich, nach zwei langen Stunden Fahrt taucht er auf, der Dachgiebel des alten Eifelhäuschens mit dem kleinen Wald nebenan; dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.
Die mitgebrachten Dinge ins Haus schaffen, der erste Spaziergang mit dem Hund und dann, wie immer, das gemütliche Kaffeetrinken im Schein der Kerze. Behaglichkeit breitet sich aus.
Doch mit Beginn der Abenddämmerung überfällt ihn Rastlosigkeit. Fahrig, beinahe zittrig, zieht er den ausgewaschenen Jogging-Anzug an und streift die festen Lederhandschuhe über. Den besorgten Blick seiner Frau ignoriert er, übersieht ihn geflissentlich. Auch sie kann ihn jetzt nicht mehr aufhalten! Alte, mit Stahlkappen versehene Arbeitsschuhe vervollständigen seine Ausrüstung. Ihr Profil hat schon so manche verräterische Spur hinterlassen. Auch die Halogen-Taschenlampe vergisst er nicht. Sein Ziel ist das dunkle Wäldchen ganz in der Nähe des Hauses.

Schon auf dem Weg dorthin stellt sich dieses nervöse Kribbeln in seinem Körper ein. Er kennt das schon, sein Beutetrieb ist erwacht.
Schweigend liegt der Wald, nicht ahnend, dass die heran schleichende Gefahr den Frieden jählings stören wird.
Hinterlist und Tücke prägen Hagens Blick, als er nun, vorsichtig um sich spähend, murmelt: „Na, erkennt ihr mich wieder?“ Im Weitergehen, den vermoosten Boden sorgfältig mit den Augen absuchend, hört man ihn flüstern: „Du bist fällig, dich nehme ich auch, und du dort hinten entkommst mir ebenfalls nicht.“
Da! Plötzlich geht ein Ruck durch seine Gestalt! Der Sturm hat ihm zwei passende Opfer direkt vor die Füße gelegt, knapp zwei Meter lang und mit einem Durchmesser von gut zwanzig Zentimetern. Alle Vorsicht außer Acht lassend, eilt er zurück zum Haus. Auf der überdachten Terrasse entfernt er den Schutz von seinem schlanken Helfer, streicht liebevoll über sein blinkendes Blatt, bevor er sich mit ihm zusammen wieder auf den Weg zu den wehrlos Daliegenden macht. Triumphierend zerlegt er diese nun mit dem scharfen Stahl; alle dreißig Zentimeter ein Schnitt quer und dann noch einmal längs. Nach und nach schafft er die Stücke ins Haus.

Mit sich und der Welt zufrieden schaut er seine Frau an: „Also Schatz, die Kettensäge war die beste Idee, die ich je hatte. Glaub mir, sie schneidet das Holz wie Butter. Für die nächsten drei Tage haben wir genug, um den Kamin zu feuern. Dann gehe ich wieder los und sorge für Nachschub. Ein Glück, dass der Rauchabzug so prima funktioniert. Bei dem frischen Holz!" Sie lacht ihr alles verstehendes Lachen und nickt zustimmend. Die Erde hatte ihn wieder.

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nobody

Gast
Zunächst dachte ich, es handelt sich um einen passionierten Pilzsucher. Dann kamen die zwei Meter langen Gegenstände, Durchmesser 20 Zentimeter - das hat mich etwas de-illusioniert. Wenn es sich um eher etwas menschenähnliches gehandelt hätte - knorrige Äste zum Beispiel, die einem Obdachlosen oder einem Waldläufer ähneln, hätte ich mich noch länger in die Irre führen lassen. Aber gut geschrieben.
Gruß Franz
 

maerchenhexe

Mitglied
hallo Franz,

Dank für deine netten Worte. Deine Gedanken verlocken dazu, eine zweite Variante des Doppellebens zu gestalten. Die knorrigen Äste sah ich bei deinen Worten sofort vor mir stehen, und da Texte bei mir nie festgeschrieben sind, könnte mir eine Variation durchaus in der nächsten Zeit in die Tasten fließen.

lieber Gruß
maerchenhexe
 

Sweetrebell

Mitglied
hallo maerchenhexe
hat spass gemacht deine geschichte zu lesen.
dachte erst der bringt jetzt jemanden um, aber dann...
gut geschrieben
lg
sweetrebell
 

maerchenhexe

Mitglied
hallo Sweetrebell,

freue mich hexisch, dass dir die Geschichte gefallen hat. Dass sie dich in die Irre geführt hat, zeigt, das mir der kleine Streich gelungen ist.

ganz lieber Gruß
maerchenhexe
 



 
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