Doppelte Dosis Shakespeare

Eigentlich hatte alles mit „Romeo und Julia“, genauer gesagt, mit einer Radioübertragung der BBC, des Nachts unter einer Decke, angefangen. Im Original hörte Paul einschmeichelnde Worte und die Melodie tat ein Übriges. Sein Pulschlag beschleunigte sich merklich, ein wohliger Schauer rieselte die Wirbelsäule hinunter und Nackenhaare gräuselten sich. Und das in der Provinz. Kaum vorstellbar, was aus ihm geworden wäre, hätte er keine Fehler begangen.
Doch welcher Jugendliche tat das schon.
Wochen später war Paul in Big-City. Inzwischen knapp drüber, über die Fünfzehn, und seine Haare gingen genau so weit – knapp über die Ohren. Und, was noch viel wichtiger war, er bekam, seit einem halben Jahr, Taschengeld. Zuhause, war nichts mit üppig.
Aber mit dem fetten Blauen lässt sich doch schon einiges anstellen, dachte er sich, und griff intuitiv sofort an die Arschtasche. Man weiß ja nie. Zudem fühlte er sich erwachsen genug seinen Traum, vom selbstgekauften Buch, in die Tat um zu setzen. Zeit wurde es ja. Bisher hatte er konsequent, wie er nun mal war, nur Geschenke angenommen, jedenfalls in diesem Metier.
Bei der Wohl‘thardtschen Buchhandlung, in der Bahnhofstraße, in Ravensburg, der Metropole in der Gegend, wagte er dann das Unterfangen, und natürlich wusste er noch nicht, das er, innerhalb einer Stunde, zum Bildungsbürger mutieren sollte.
Paul war unerfahren genug, einfach so, durch die Regale zu streifen, bis ihn dieser Doppelband, im Pappschuber, doch mächtig beeindruckte. Die glitzernde Goldschrift auf dem Rücken war wohl der Anlass dafür. Er drehte sich nach allen Seiten um, man weiß ja nie, wonach man spontan greift, nahm den ziemlich schweren Schuber in die Hand und wollte, unerfahren, wie er eben war, eines der Bücher ziehen. Doch da war diese Plastikfolie rum. Was tun?
Paul riskierte einen verirrten Blick in die Runde, doch er kam zu keinem sinnvollen Resultat. Zu viele rannten hier rum. Und wer hier was zu sagen hatte, konnte er auch nicht erkennen. Also, nahm er den Schuber unter den Arm und tat so, als ob er hier zu Hause wäre. Die Stirn in Falten gelegt, prüfte er mit selbstsicherer Miene verschiedene Bücher, indem er an den diversen Tischen vorbeilief, ab und zu stehen blieb, den Zeigefinger der rechten Hand - er ist Linkshänder und da war sein Schatz besser aufgehoben – in die Bücher stieß, den Finger nach rechts wegdrückte und so den Eindruck machte, als ob er nur mal kurz prüfen wolle.
„Was suchst Du denn?“ - Überrascht und verärgert, ob des Tones, der von weit oben kam, reagierte Paul zuerst mal überhaupt nicht. Im Gegenteil. Er beugte sich ganz nach unten, lies seine Hand über den Umschlag eines Bildbandes gleiten, und hoffte, das es damit erledigt wäre. – Man konnte Nadeln fallen hören. Plötzlich, der leichte Windzug einer Bewegung, und der Hauch von süßem Karamell in der Nase, dann das platte Aufklatschen einer Ledersohle auf dem Steinboden, und ein zupackender fester, entschlossener Griff. Paul drückte den linken Arm an, zu spät, eine Hand stieß zu – Leere in der Achselhöhle.
Ein Lulatsch in einem moosgrünen Anzug mit poppig-gelber Breitkrawatte hatte sich aufgebaut und aus seinem triumphierenden Grinsen sprachen Bände, die Paul nie lesen würde.
So eine Arschgeige, dachte Paul, seine Augen wurden zu flachen Schlitzen und er schrie, um seine Wut-Tränen zu unterdrücken: „Was soll das! ... Und wenn Sie glauben?“ „Ja, genau das, genau das glaube ich, ..und weißt Du eigentlich, was das kostet?“ Donnerte der Gigant schon wieder von oben und lässt, mit seinen langen, knochigen Griffeln die einzelnen Blätter wie eine Ziehharmonika, der langsam die Luft ausgeht, zwischen Daumen und Ringfinger vom imaginären Block laufen. „Mensch, Junge, das ist Shakespeare, da hast Du doch keine Ahnung von“, polterte er munter drauf los.
Inzwischen hatte sich eine ganze Traube von Menschen um die Streitenden geschart. Zoff und Streit, insbesondere, wenn es die Anderen betraf, war schon immer ein Magnet für die Masse. Warum sollte es in der Provinz anders sein. Der Auflauf steigerte sich zum Tumult. Ein älterer Herr aus den hintern Reihen mischte sich als Erster ein: „Einsperren, müsste man die, sofort weg mit dem Dreck, schaut ihn Euch doch an - diese Langhaardackel!“ Der Damm war gebrochen, die Fluten stürmten die Stadt.
„Genau, ruft die Polizei“ und „Gammler, Hascher“ und „...aber teure Bücher klauen“ waren noch die nettesten Zwischenrufe.
Der Ring zog sich immer enger, die Menge schob sich zusammen. Pauls gequetschter Brustkorb bebte, rang nach Luft und wurde gegen Arschgeiges Gürtelschnalle gedrückt. Schweißüberströmt mit panisch-starrem Blick sacken die Knie weg und er rutschte langsam nach unten. Paul wollte noch schreien, aber schon schwanden die Sinne, es blitzte, Paul bäumte sich mit letzter Kraft dagegen auf, doch er hatte keine Chance, Farben zeigten das geöffnete Maul und dann der freie Fall. Alles drehte sich, er würgte, Schleim presste sich durch den rasselnden, nach Luft ringenden Schlund, die dünnen Nasenflügel flackern breit auf, Herzrasen, Muskeln kontrahieren, der erste Aussetzer, er spürte noch aus weiter Ferne das Pumpen der Venen und dann nur noch ein alles überdeckendes, schon fast im Ultraschall Bereich befindliches, lautes Brüllen und Dröhnen – Stille.

Mit einem pelzig-salzigen Geschmack im Mund versuchte sich Paul aufzurichten, wurde aber sofort, mit sanfter Hand, nach unten gedrückt.
„Bleib so!“ surrte es ruhig, von irgendwo her. Paul wendete den Kopf in Richtung Stimme und blickte in das Gesicht eines Weißkittels. „Ich bin Arzt, Dr. Scheller und Du bist umgekippt, hier, in dieser Buchhandlung. Beib‘ also noch liegen, gell!“ Trotzdem versuchte es Paul wieder, stützte sich auf die Ellbogen und sah in die Runde. Er lag auf einer Couch in einem kleinen Kabuff. Ein älterer Mann saß nicht weit davon an einem Schreibtisch und hackte auf eine Schreibmaschine ein, ansonsten überall nur Papier in allen erdenklichen Farben und Formen. Der Doc ging zum Alten rüber nahm ein Tablett vom Schreibtisch und kam zurück. Es roch nach heißem Kakao. Er stellte das Tablett direkt neben Paul auf einen Stapel Bücher. Gierig schnappte er sich die Tasse und trank sie auf einen Zug aus, dann nahm er das belegte Brötchen und biss zu.
Dr. Scheller fragte Paul dann noch nach seinem Namen und so, übertrug dann alles fein-säuberlich auf ein Karteikärtchen, prüfte noch den Blutdruck, dann schien seine Arbeit erledigt. Er stand auf ging in Richtung des Alten, der interessiert zusah, gab ihm die Hand und sagte: „Der Junge ist wieder in Ordnung, da haben Sie Glück gehabt.“ Winkte noch zu Paul rüber, und verschwand.
Paul hatte sich inzwischen aufgesetzt und machte Anstalten zu gehen, traute sich aber nicht, da er nicht mehr genau wusste, was passiert war. Unschlüssig stand er auf und blieb einfach stehen. Der Alte quälte sich aus seinem Sessel, griff nach etwas und kam mit einem Lächeln auf ihn zu. Gebannt sah Paul auf die Bücher, die der Alte ranschleppte, dabei klickte es mächtig in seinem Kopf. Dann fiel ihm alles wieder ein.
In den ungelenken Bewegungen des Alten, die aber nur Unsicherheit ausdrückten, vermutete Paul nichts Gutes, und er machte sich auf was gefasst. Doch dann streckte der Alte, ohne Vorwarnung, die Hand vor und winselte mit spitzem Mund: „ Mir gehört die Buchhandlung, und wenn Du deinen Eltern nichts davon erzählst, schenk ich sie Dir“, und überreichte sie dem sichtlich verblüfften Paul. „Sieh sie dir ruhig noch an, soviel Zeit muss sein“, drehte sich eckig um und verschwand wieder hinter seinem Schreibtisch. Paul blieb verdattert stehen, sah auf die Bücher und wusste nicht was er sagen sollte. Nach einer ganzen Weile dann presste er ein: „Danke“ raus, doch da hatte er eins der Bücher schon aus dem Schuber gezogen und hielt es in seinen zittrigen Fingern. Paul strich über die Buchfläche und lächelte.
Es war eine wunderschöne, 2 bändige Gesamtausgabe, der Shakespear‘schen Werke, Inselverlag, Dünndruck, mit blauem Leineneinband.
Paul schlug noch das andere Buch auf, hielt seine Nase hinein, inhalierte tief und vergaß sein ganzes Leben nicht mehr, das Träume auch gut riechen.
 



 
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