Dornröschen II

3,30 Stern(e) 3 Bewertungen

eli-fant

Mitglied
Ein König und eine Königin, die sich seit langem ein Kind gewünscht hatten, bekamen endlich eine Tochter. Ihre Freude darüber war so groß, daß sie ein Fest veranstalteten, das drei Tage dauerte.
Alle Vornehmen des Reiches wurden geladen. Unter ihnen waren auch zwölf Feen und jede von ihnen machte der neugeborenen Prinzessin eine Eigenschaft oder eine Tugend zum Geschenk, die ihr Leben bereichern und sie zu einem glücklichen Menschen machen sollte.
Schönheit nannte da eine, eine andere Klugheit, weitere Gaben waren Bescheidenheit, Anmut, Fleiß und Freundlichkeit.
Gerade als die elfte Fee der kleinen Prinzessin die Tugend der Geduld verliehen hatte, stürmte eine Frau in schwarzen Gewändern in den Saal und unterbrach die feierliche Zeremonie.
Es war eine weitere Fee, die dreizehnte, die im Königreich lebte. Voller Zorn darüber, daß man sie nicht zum Fest geladen hatte, stand sie nun an der Wiege des neugeborenen Mädchens.
"Wenn du fünfzehn Jahre alt bist, sollst du eine Spindel berühren und daran sterben", rief sie. Dann rauschte sie wütend, wie sie gekommen war, zur Tür hinaus.
Die königliche Familie und alle Gäste waren starr vor Entsetzen.
Die zwölfte Fee sagte: "Ich kann diesen schrecklichen Fluch nicht rückgängig machen, will aber versuchen, ihn abzumildern. Die Prinzessin soll nicht sterben, sondern nur in einen hundertjährigen Schlaf fallen."

Am nächsten Tag erließ der König ein Gesetz, das sämtliche Spindeln im ganzen Reich verbot. Trotz dieser Maßnahme schwebte die Drohung der Fee wie ein Schatten über der Kindheit der Königstochter.
Als sie fünfzehn Jahre alt und einmal für einige Stunden unbeaufsichigt war, beschloß sie, im Schloß auf Entdeckungsreise zu gehen. Es war nämlich so, daß die zwölfte Fee ihr eigentlich die Tugend, niemals neugierig zu sein, hatte verleihen wollen, stattdessen aber den Fluch der bösen Fee abgeschwächt hatte. So kam es, daß die Neugierde einer der wenigen Fehler der Prinzessin war.

In einer winzigen Kammer ganz oben in einem der Türme stieß sie auf eine alte Frau, die spann.
"Was machst du da? Was hast du da für ein seltsames Gerät?" rief die Prinzessin.
"Ich spinne Garn", sagte die Alte mit einem eigentümlichen Lächeln.
"Oh, das will ich auch mal versuchen!" rief das Mädchen aus und schon hatte es die Spindel in die Hand genommen. Augenblicklich fiel es in tiefen Schlaf.
Als der König und die Königin ins Schloß zurückkehrten und ihre Tochter nirgends auffindbar war, überfiel sie eine böse Ahnung. Vor Kummer wurden sie krank und schon bald darauf starben beide.
Die Bediensteten verließen das Schloß, das langsam verfiel.
Um das einst so prächtige Gebäude herum wuchs eine Dornenhecke, die es bald völlig überwucherte.

Die Jahre kamen und gingen und die Menschen in der Gegend erzählten sich die Legende von der verwunschenen Königstochter, die im Schloß schlafen und einst von einem Prinzen wachgeküßt werden sollte.
Manch junger Mann versuchte, ins Schloß einzudringen, doch hatten bisher alle ihr Vorhaben nur allzu schnell wieder aufgegeben. Zum einen nahm kaum einer die Geschichte von der schlafenden Prinzessin wirklich ernst genug, um sich dafür seine Kleidung in den Dornen zu ruinieren, zum anderen hatten sich die Zeiten geändert und boten eine Fülle vergnüglicherer Freizeitaktivitäten, die weniger Anstrengung erforderten.

Wahrscheinlich hätte auch der junge Reisende, der an einem klaren Herbsttag zu den Schloßtürmen aufsah, bald einen Rückzieher gemacht, wäre ihm nicht der Zufall zu Hilfe gekommen.
Der Jüngling war zwar kein Prinz - echte Prinzen gab es nur noch ausgesprochen selten - doch war er immerhin adliger Abstammung und verfügte über genügend Vermögen, um recht sorglos leben zu können.
Als er nun an die Dornenhecke herantrat, traute er seinen Augen nicht.
"Wow!" rief er verblüfft aus. Denn die Zweige bogen sich vor ihm auseinander, so daß sie einen bequemen Durchgang bildeten.
Genau an jenem Tag waren nämlich die hundert Jahre abgelaufen und der Fluch begann, unwirksam zu werden.
"Das ist ja leichter, als ich gedacht habe", murmelte der junge Mann. "Jetzt brauche ich nur noch reinzugehen, die Prinzessin wachzuküssen, und schon kann ich sie heiraten!"
Doch dann zögerte er.
"Aber halt, will ich das eigentlich - eine Frau, die die letzten hundert Jahre verschlafen und nichts mitgekriegt hat? Sie hat ja keine Ahnung, was auf der Welt los ist.
Andererseits sind Frauen, die immer und überall den Durchblick haben und alles besser wissen, manchmal auch recht lästig.
Es könnte sogar Vorteile haben, wenn sie ein bißchen altmodisch ist. Vielleicht kann sie kochen wie Oma! Ich hab es sowieso satt, ständig Hamburger und Pizza zu essen. Und auf jeden Fall ist sie nach hundert Jahren Schlaf ordendlich ausgeruht - wenn ich sie heirate, könnte ich mir das Geld für die Putzfrau sparen und die Schmutzwäsche bräuchte ich zum Waschen und Bügeln auch nicht mehr wegzugeben.
Ha, je länger ich darüber nachdenke, umso mehr glaube ich, daß so eine verwunschene Prinzessin eine tolle Partie ist!"
Versonnen zog er an seiner Zigarette.
"Hm, vielleicht sollte ich nicht gleich beim Wachküssen einen schlechten Eindruck auf sie machen. Wie die meisten unmodernen Frauen wird sie was gegen Zigarettenrauch haben..."
Seufzend drückte er seine Camel im Geäst aus, um sich gleich darauf einen Kaugummi in den Mund zu stecken. So machte er sich auf den Weg durch die Dornen.

Durch den beißenden Qualm war ein Täubchen wach geworden, das in der Hecke geschlafen hatte. Es hörte das Selbstgespräch mit an und flatterte dann aufgeregt in den Innenhof des Schlosses. Da schliefen seit hundert Jahren ein paar Hühner.
"Alarm!" gurrte das Täubchen. "Gefahr für die Prinzessin!"
Das riß die Hühner aus dem Schlaf, sie gackerten und pickten auf den Hahn ein, bis dieser ebenfalls erwachte.
"Alarm! Gefahr!"
Der Hahn flog hinauf zum höchsten Turm und durch das Fenster der Kammer, in der die Königstochter lag.
"Kikeriki!" krähte er, so laut er konnte. "Wach auf! Gefahr! Hau ab, hau ab!"
Die Prinzessin schreckte auf und wußte kaum, wie ihr geschah. Noch schlaftrunken purzelte sie die steile Treppe mehr hinunter als sie lief, rannte aus dem Schloß und verschwand in der Dornenhecke, die sich für sie öffnete und hinter ihr wieder schloß.

Die einzigen Lebewesen, auf die der junge Mann bei seiner Suche im Schloß stieß, waren Mäuse, Ratten und Spinnen. Von einer Prinzessin keine Spur.
Ärgerlich kickte er in der Schloßküche einen rostigen Blecheimer an die Wand.
"Scheiße!" sagte er . "Und jetzt nichts wie raus hier, sonst merkt noch jemand, daß ich auf diese blöde Story reingefallen bin. Ich bin nicht wild darauf, mich auslachen zu lassen."

Für die Königstochter war es anfangs nicht leicht, sich in der Welt zurechtzufinden. Vieles hatte sich in den vergangenen hundert Jahren verändert - für Prinzessinnen hatte man keine Verwendung mehr.
Daß sie jedoch eine gehörige Portion Neugier besaß, kam ihr nun zugute: Allem Ungewohnten gegenüber war sie aufgeschlossen und stets bereit, Neues zu lernen.
Da sie sich seit ihrem Erlebnis mit der Spindel für Garn und Stoffe interessierte und obendrein geschickte Hände besaß, ging sie zu einem Schneider in die Lehre. Später absolvierte sie eine Fachschule für Modedesign und entwarf Modelle für eine große Bekleidungsfirma. Ihr Beruf machte ihr Freude und durch ihre offene und fröhliche Art war sie bei den Menschen beliebt.
Obwohl ihr Leben niemals so bequem und luxuriös wurde, wie es sich für eine richtige Märchenprinzessin gehört hätte, war sie stets guten Mutes und wurde zu einer zufriedenen und selbstbewußten jungen Frau.
Nur manchmal bedauerte sie es, niemals von einem Prinzen wachgeküßt worden zu sein, und sie erfuhr nie, daß dies eigentlich zu ihrem besten gewesen war.
 

Dornrosis

Mitglied
Der Titel deiner Geschichte hat mich angesprochen, weil mein User-Name Dornrosis ist. Da war ich einfach mal neugierig! Im ersten Teil schleicht sie sich etwas dahin, als die Abweichung vom Märchen beginnt wird sie interessant. Und der Schluss ist ein wenig prosaisches Happy-End.Überraschend, weil es anders kommt, als ich Leser es erwarte, Durchaus lesenswert. Ich finde es spannend, wie Märchenstoffe immer wieder die Phantasie anregen können. Deshalb habe ich mich auch entschlossen, eine meiner Dornrosisgeschichten zu veröffentlichen.

Liebe Grüße DORNROSIS
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

eine nette kleine schmunzelgeschichte. wenn du das märchen etwas humoriger erzählt hättest und nicht im originalton, wäre das lesevergnügen noch größer.
ganz lieb grüßt
 
S

Stoffel

Gast
Hallo,

also die Idee finde ich echt klasse!
Müsste aber noch vor dem Schluss, den ich sehr gut finde, etwas mehr rauskommen, was er sich da, während er genüsslich noch seine Camelfilter raucht, imm Geiste denkt.

Ansonsten hier mal meine Gedanken noch dazu...

"Einem König und einer Königin, die sich seit langem schon sehnlichs ein Kind wünschten, wurde eine Tochter geboren."

".. Fest veranstalteten, das drei Tage andauern sollte."

Ich denke mal, einer von dieser Herkunft, der wird kaum Hamburger oder andres Fastfoodmässiges essen. Eher würde ich sagen, er möchte was gutes aus "Omas Zeiten" gekocht bekommen, was hausmannskostmässiges, als immer nur diese tollen Menüs in den chice Restaurants?

Vielleicht, wenn er schon so materialistisch denkt, Geld einzusparen, könnte er überlegen, das die Prinzessin, da ja 100 Jahre verschlafen hat, er ihr verzählen könnte, das sich einiges verändert hätte und es HEUTE nun mal so ist, das die Frauen kochen, waschen, putzen, bügeln?Da natürlich kann er nur auf ihre Dummheit hoffen *g*

Der Fluch war aber nun mal, das ein Prinz sie wachküssen muss und nicht..ein Hahn sie wachkräht.

Ach ja, es müsste noch ein Hinweis geben, das dies auf einem bereits existierenden Märchen beruht."frei nach..."

lG
Stoffel
 

Dornrosis

Mitglied
Eine Menge interessanter Ideen, liebe(r) Stoffel, genug um ein anderes Märchen, frei nach... zu schreiben. Wie wäre es mit einem Versuch?

Liebe Grüße DORNROSIS
 
S

Stoffel

Gast
hallo dornrosis,

ich erwarte eher eine Antwort vom Autoren;)

Und ich sehe es nicht so, dass wenn ich etwas zu einem Werk kommentiere, ich damit auch gleich, SELBST etwas neues schreiben sollte.*smile*

WO liegt Dein Urproblem?

lG
DIE Stoffel
(wenn Dir mal die Mühe machen würdest und ins Profil schaust*zwinker*)
 

Dornrosis

Mitglied
Liebe Stoffel,

ich habe kein Problem mit deinem Komentar, ich habe aus dem Bauch heraus geschrieben, weil du so viele Ideen hattest, dass es eben auch für eine neue Geschichte gereicht hätte, es war augenzwinkernd gemeint. Tut mir leid, wenn das etwas schief bei dir angekommen ist.

Gruß DORNROSIS
 
S

Stoffel

Gast
hi,

ok..alles klar.:)

ich lass mich gerne von anderen inspirieren, natürlich, aber "die vielen Ideen"..das sind nur vage, lose Gedanken und Gedankenansporne. Mehr nicht.

Wünsche ein schönes Wochenende
lG
Susanne
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo eli-fant,

Ja, alte Märchen neu zu erzählen, dass hat durchaus seinen Reiz. Deine Fassung ist hübsch geschrieben. Was den Anfang angeht, so schließe ich meinen Vorrednern an. Ich bin manchmal überpinglig, und deshalb möchte ich darauf aufmerksam machen, dass 100 Jahre Schlaf in diesem Fall viel zu wenig sind. Sie wacht ja in unserer Zeit auf. Und 100 Jahre zurück - da spann man schon fabrikmäßig, das Auto war bereits erfunden... usw. Und Königsfamamilien in der von dir geschilderten Art gab es auch längst nicht mehr.
Das unterstreicht meines Erachtens den Wunsch, den Anfang der Geschichte völlig anders zu wählen.

Gruß Ralph
 

eli-fant

Mitglied
Ihr werdet euch doch wegen meinem Märchen nicht in die Haare kriegen... :)
Habe all eure Anmerkungen aufmerksam gelesen und mich darüber gefreut.
Liebe Dornrosis, deine Insel-Geschichte hat mir Lust auf Urlaub gemacht, werde ihn heuer auch auf einer Insel verbringen.
Vielleicht mache ich mich bald mal an ein neues Märchen frei nach... (sobald mein Kleiner die Windpocken überstanden hat und ich wieder etws Ruhe habe -seufz )

Liebe Grüße,

eli-fant
 

Dornrosis

Mitglied
Liebe Eli-fant,

schön, dass dir meine Inselgeschichte gefällt. Wünsche dir, dass du bald Urlaub machen kannst. Ich fahre am Donnerstag, zwar nicht auf eine Insel, aber in die Bretagne ans Meer. Ich höre, du schreibst gerne Märchen ? Ich habe mit dem Schreiben von Märchen angefangen, bevor ich zum Gedichteschreiben gekommen bin. Vielleicht können wir uns ja mal austauschen. Wenn du Lust hast und Interesse, lade ich dich gern ein, mal auf meinen Homepageseiten zu schnuppern. Die Startseite heißt"Märchen zum Träumen" und hat folgende Internetseite:http://www.maerchen.und.vieles.mehr.ms

liebe Grüße und gute Besserung für deinen Kleinen wünscht dir DORNROSIS
 

eli-fant

Mitglied
Jetzt versuche ich zum zweiten Mal, mich zu melden . (Was hab ich beim ersten Mal nur falsch gemacht, hat nicht geklappt...)
Ich hoffe, ihr kriegt euch wegen meines Märchens nicht in die Haare! :)
Habe alle eure Anmerkungen aufmerksam gelesen und mich darüber gefreut. (Und sobald wir die Windpocken aus dem Haus haben, mach ich mich vielleicht an ein neues Märchen.)
Liebe Grüße,
eli-fant
 



 
Oben Unten