Doro

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raggedy

Mitglied
Doro

Doro und ich saßen jahrelang nebeneinander: dritte Bank, Fensterreihe. Die Kleopatraaugen malte sie sich mit schwarzem Kajalstift und fetter Wimperntusche. Aber die kastanienbraunen Wuschellocken waren Natur. Ein breiter Schildpattring zog sie straff aus dem Gesicht; vom Hinterkopf aus fielen sie dann ungebändigt bis auf Doros Schultern. Das Kinn auf die Hände gestützt, mit dem übergeschlagenen Bein wippend, träumte Doro vor sich hin. Beim Sprechen hielt sie sich an ihrem goldenen Anhänger fest, einem prallen Herzchen mit funkelndem Strassstein in der Mitte. Im Mini und Rippentop sah sie super aus: Kleine spitze Brüste, lange Beine, hochansetzender runder Po.
Und dumm war sie auch nicht. Das Abitur hätte sie locker geschafft, aber ein halbes Jahr vorher wurde sie schwanger und flog von der Schule. Für mich hieß es pauken bis zum Abi; Doro war erst einmal vergessen. Aber zum Abschlussball luden wir sie ein. Trotz allem. Sie kam aber nicht. Es ging ihr ziemlich schlecht— irgendwas mit den Nieren, glaub’ ich.
Claudia, Ute und ich besuchten sie jeden Mittwoch im Krankenhaus, brachten ihr Multivitaminsaft, Bananen und Schmöker. Dann kam ihr Baby zur Welt: tot. Meine Eltern meinten es sei wohl doch das Beste für Doro gewesen, und Mutters Rat, ich solle sie erst einmal in Ruhe lassen, kam wie gerufen. Was tut und sagt man denn in so einer Situation?
Ich rief sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus noch ein paar Mal an. Na ja, der Kontakt schlief halt ein. Zog mich alles so runter! Als ich zum Studieren nach Manchester ging, war’s dann ganz aus. Die Idee Doro zu schreiben, hatte ich schon. Aber, wie’s eben so geht …
Ich sah Doro wieder nach meiner Rückkehr aus England bei einem Klassentreffen. Sie hatte eben eine Therapie beendet und wir wollten ihr ‘ne Chance geben. Abgemagert und zitternd saß sie da mit ihrer dicken Schminke. Trank den ganzen Abend nichts als Kaffee und
rauchte eine Camel nach der andern. In der Pause zwischen zwei Zigaretten fingerte sie nervös an ihren Ohrreifen rum. Sie sprach kein Wort. Nur ihre unnatürlich großen und fiebrigen Augen folgten der Unterhaltung, schauten von Sprecher zu Sprecher.
Wir saßen uns am Tisch gegenüber. Neben ihr saß keiner. Ich ahnte nur zu gut, wie es in ihr aussah. War das ihre Chance? Sich von einer verlassenen Insel von der Größe eines Stuhlsitzes aus prahlerische Geschichten über geplanten Dissertationen und geglückten Ehen anzuhören?
Ich hätte mich zu ihr setzen sollen. Wenigstens ein paar Worte …
Sie trug eine dunkelgrüne Seidenbluse. Langärmelig – bei fast 30 Grad – und zog ständig an der linken Manschette. Dabei wußten es doch alle! Die dunklen Augenringe konnte sie aber nicht verstecken. Komisch sahen die aus: bläulich-rot, fast lila. Ihre Hände zitterten stark, und je später es wurde, desto mehr Mühe hatte sie eine Zigarette oder Tasse zum Mund zu führen. Einmal fiel die Zigarettenglut ab und brannte ein Loch in die weiße Tischdecke. So gegen halb zehn ging sie, dicke Schweißperlen auf der Stirn und am ganzen Körper zitternd. Den gelben Brandfleck sah man da schon nicht mehr zwischen den braunen Kaffeeflecken und grauen Ascheresten an ihrem Platz. Uns Andern war das furchtbar peinlich.
Im Herbst sah ich sie wieder. In der einen Hand eine Rotweinflasche, in der andern Zigaretten und Feuerzeug. Um zehn Uhr morgens stakste sie auf unsicheren Beinen zwischen
halbverblühten rosa Geranien und angeketteten weißen Plastikstühlen in der Fußgängerzone herum. Ich bog so schnell es ging in die Brunnengasse ein.
Damals als sie mit Kai und diesen Kifferbrüdern heimlich von der Party verschwand und eine Stunde später zurückkam, mit glasigem Blick und auf wackligen
Beinen, hätte ich was tun müssen. Aber die Andern haben ja auch den Mund gehalten. Wer wollte denn schon vor Kai als prüde dastehen? Schließlich war die halbe Klasse in ihn verknallt.
Zum nächsten Treffen konnte man sie bei bestem Willen nicht mehr einladen. Sie war total verkommen: abgebrochene Schneidezähne, verfilztes Haar, entzündete Augen, schlurfender Gang … War schon unangenehm genug, wenn sie ihr »Hallo!« über die Straße rief, umringt von glotzenden Clochards, vollgestopften, verschmierten Plastiktüten und leeren Flaschen. Und was, wenn sie gar einen dieser Pennbrüder aus der Fußgängerzone mitgebracht hätte? Unmöglich.
Irgendwann war Doro von der Bildfläche verschwunden. Ich hörte fast drei Jahre nichts mehr von ihr. Dann traf ich zufällig ihre Mutter in der Stadt. Die Arme! Tat mir wahnsinnig leid mit ihren Gramfalten, und dem verschämten Blick.
»Ich trau mich fast nicht mehr unter die Leute«, sagte sie, und dass sie Doro schon lange aufgegeben habe. »Nicht so sehr wegen der Drogen. Mehr wegen der andern Sache.« Sie winkte ab. »Gefängnis, Entzug, Geschlossene … das war alles zu ertragen … Aber das?« Mir könne sie’s ja sagen, ich sei doch immer Doros beste Freundin gewesen. Sie schaute an mir vorbei, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie mir erzählte, dass Doro in S. anschaffen ginge.
In dieser Nacht habe ich kaum geschlafen. »Ihre beste Freundin«, hämmerte es in meinem Kopf.

In ihrer Todesanzeige stand: »plötzlich und unerwartet ...«
 

Retep

Mitglied
Morgen raggedy,

deine Geschichte hat mich berührt und nicht nur, weil ich auch mal eine "Doro" kannte.
Sehr bildhaft und mit viel Einfühlung zeigst du Doro in ihrer jeweiligen Lebenssituation.
Ich konnte mich gut einfühlen und mitfühlen.

Doro und ich saßen jahrelang nebeneinander: dritte Bank, Fensterreihe. Die Kleopatraaugen malte sie sich mit schwarzem Kajalstift und fetter Wimperntusche. Aber die kastanienbraunen Wuschellocken waren Natur. Ein breiter Schildpattring zog sie straff aus dem Gesicht; vom Hinterkopf aus fielen sie dann ungebändigt bis auf Doros Schultern. Das Kinn auf die Hände gestützt, mit dem übergeschlagenen Bein wippend, träumte Doro vor sich hin. Beim Sprechen hielt sie sich an ihrem goldenen Anhänger fest, einem prallen Herzchen mit funkelndem Strassstein in der Mitte. Im Mini und Rippentop sah sie super aus: Kleine spitze Brüste, lange Beine, hochansetzender runder Po.
- das finde ich ganz hervorragend beschrieben, an anderen Stellen deines Textes ebenfalls.

Aber zum Abschlussball luden wir sie ein. Trotz allem.
- das "trotz allem" würde ich streichen, finde es passt hier nicht

Dann ist Doro im Krankenhaus, man weiß eigentlich nicht genau, was sie hat, schreibst du. Der Kontakt scheint ein wenig abgebrochen zu sein. Den Übergang zu "Claudia, Ute und ich besuchten sie jeden Mittwoch" finde ich zu plötzlich.

Meine Eltern meinten [blue],[/blue] es sei wohl doch das Beste für Doro gewesen,
uns Andern - [blue]uns Andren ?[/blue]

In ihrer Todesanzeige stand: »plötzlich und unerwartet ...«
- sehr guter Schluss!

Gerne gelesen, bin gespannt auf weitere Texte von dir.

Gruß

Retep
 
S

suzah

Gast
hallo raggedy,

der text ist gut geschrieben, hat mir gefallen. retep hat eigentlich fast alles schon gesagt.
sehr gut angedeutet: "Sie trug eine dunkelgrüne Seidenbluse. Langärmelig – bei fast 30 Grad –"

anfänglich dachte ich, der prot wäre männlich gewesen und nicht ihre freundin, das fand ich am schluß überraschend. war das auch so gedacht oder liegt das an mir?

liebe grüße aus berlin suzah
 

raggedy

Mitglied
Hi nach Germany!

((Retep)): vielen Dank fuer die konstruktiven Kommentare. Ich werde die Aenderungen, wie vorgeschlagen, vornehmen.

((suzah)): die Unklarheit bzgl. des Erzaehlers ist mir bisher ueberhaupt nicht aufgefallen. Ich denke, ich fuege der Beschreibung Doros eine Bemerkung ueber meine Eifersucht auf ihr Aussehen hinzu. VD

Zur story: Doro ist ein Charakter, den ich aus drei verschiedenen Personen gebildet habe. Die Idee zur story kam mir beim Anschauen alter Klassenbilder. Man fragt sich dann ja oft, was wohl aus dem oder der geworden sein mag. Von den drei Maedels hatte ich immer wieder mal was gehoert; aus den spaerlichen Einzelheiten ueber ihr jeweiliges Schicksal ergab sich jedoch fuer keine von ihnen ein vollstaendiger Lebensweg. Gab man die Einzelheiten aber alle in einen Topf, dann entstand das Bild eines Lebens, das in dieser Form haette stattgefunden haben koennen.

rag
 

raggedy

Mitglied
Doro

Doro und ich saßen jahrelang nebeneinander: dritte Bank, Fensterreihe. Die Kleopatraaugen malte sie sich mit schwarzem Kajalstift und fetter Wimperntusche. Aber die kastanienbraunen Wuschellocken waren Natur. Ein breiter Schildpattring zog sie straff aus dem Gesicht; vom Hinterkopf aus fielen sie dann ungebändigt bis auf Doros Schultern. Das Kinn auf die Hände gestützt, mit dem übergeschlagenen Bein wippend, träumte Doro vor sich hin. Beim Sprechen hielt sie sich an ihrem goldenen Anhänger fest, einem prallen Herzchen mit funkelndem Strassstein in der Mitte. Im Mini und Rippentop sah sie super aus: Kleine spitze Brüste, lange Beine, hochansetzender runder Po. [blue]Ich hätte wer weiß was getan, um so wie sie auszusehen.[/blue]
Und dumm war sie auch nicht. Das Abitur hätte sie locker geschafft, aber ein halbes Jahr vorher wurde sie schwanger und flog von der Schule. Für mich hieß es pauken bis zum Abi; Doro war erst einmal vergessen. Aber zum Abschlussball luden wir sie ein. [strike][blue]Trotz allem.[/blue][/strike] Sie kam aber nicht. Es ging ihr ziemlich schlecht— irgendwas mit den Nieren, glaub’ ich.
[blue]Mit Claudia und Ute aus unserer Klasse[/blue] besuchte ich sie jeden Mittwoch im Krankenhaus. Wir brachten ihr Multivitaminsaft, Bananen und Schmöker. Dann kam ihr Baby zur Welt: tot. Meine Eltern meinten[blue],[/blue] es sei wohl doch das Beste für Doro gewesen, und Mutters Rat, ich solle sie erst einmal in Ruhe lassen, kam wie gerufen. Was tut und sagt man denn in so einer Situation?
Ich rief sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus noch ein paar Mal an. Na ja, der Kontakt schlief halt ein. Zog mich alles so runter! Als ich zum Studieren nach Manchester ging, war’s dann ganz aus. Die Idee Doro zu schreiben, hatte ich schon. Aber, wie’s eben so geht …
Ich sah Doro wieder nach meiner Rückkehr aus England bei einem Klassentreffen. Sie hatte eben eine Therapie beendet und wir wollten ihr ‘ne Chance geben. Abgemagert und zitternd saß sie da mit ihrer dicken Schminke. Trank den ganzen Abend nichts als Kaffee und
rauchte eine Camel nach der andern. In der Pause zwischen zwei Zigaretten fingerte sie nervös an ihren Ohrreifen rum. Sie sprach kein Wort. Nur ihre unnatürlich großen und fiebrigen Augen folgten der Unterhaltung, schauten von Sprecher zu Sprecher.
Wir saßen uns am Tisch gegenüber. Neben ihr saß keiner. Ich ahnte nur zu gut, wie es in ihr aussah. War das ihre Chance? Sich von einer verlassenen Insel von der Größe eines Stuhlsitzes aus prahlerische Geschichten über geplanten Dissertationen und geglückten Ehen anzuhören?
Ich hätte mich zu ihr setzen sollen. Wenigstens ein paar Worte …
Sie trug eine dunkelgrüne Seidenbluse. Langärmelig – bei fast 30 Grad – und zog ständig an der linken Manschette. Dabei wußten es doch alle! Die dunklen Augenringe konnte sie aber nicht verstecken. Komisch sahen die aus: bläulich-rot, fast lila. Ihre Hände zitterten stark, und je später es wurde, desto mehr Mühe hatte sie eine Zigarette oder Tasse zum Mund zu führen. Einmal fiel die Zigarettenglut ab und brannte ein Loch in die weiße Tischdecke. So gegen halb zehn ging sie, dicke Schweißperlen auf der Stirn und am ganzen Körper zitternd. Den gelben Brandfleck sah man da schon nicht mehr zwischen den braunen Kaffeeflecken und grauen Ascheresten an ihrem Platz. Uns Andern war das furchtbar peinlich.
Im Herbst sah ich sie wieder. In der einen Hand eine Rotweinflasche, in der andern Zigaretten und Feuerzeug. Um zehn Uhr morgens stakste sie auf unsicheren Beinen zwischen
halbverblühten rosa Geranien und angeketteten weißen Plastikstühlen in der Fußgängerzone herum. Ich bog so schnell es ging in die Brunnengasse ein.
Damals als sie mit Kai und diesen Kifferbrüdern heimlich von der Party verschwand und eine Stunde später zurückkam, mit glasigem Blick und auf wackligen
Beinen, hätte ich was tun müssen. Aber die Andern haben ja auch den Mund gehalten. Wer wollte denn schon vor Kai als prüde dastehen? Schließlich war die halbe Klasse in ihn verknallt.
Zum nächsten Treffen konnte man sie bei bestem Willen nicht mehr einladen. Sie war total verkommen: abgebrochene Schneidezähne, verfilztes Haar, entzündete Augen, schlurfender Gang … War schon unangenehm genug, wenn sie ihr »Hallo!« über die Straße rief, umringt von glotzenden Clochards, vollgestopften, verschmierten Plastiktüten und leeren Flaschen. Und was, wenn sie gar einen dieser Pennbrüder aus der Fußgängerzone mitgebracht hätte? Unmöglich.
Irgendwann war Doro von der Bildfläche verschwunden. Ich hörte fast drei Jahre nichts mehr von ihr. Dann traf ich zufällig ihre Mutter in der Stadt. Die Arme! Tat mir wahnsinnig leid mit ihren Gramfalten, und dem verschämten Blick.
»Ich trau mich fast nicht mehr unter die Leute«, sagte sie, und dass sie Doro schon lange aufgegeben habe. »Nicht so sehr wegen der Drogen. Mehr wegen der andern Sache.« Sie winkte ab. »Gefängnis, Entzug, Geschlossene … das war alles zu ertragen … Aber das?« Mir könne sie’s ja sagen, ich sei doch immer Doros beste Freundin gewesen. Sie schaute an mir vorbei, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie mir erzählte, dass Doro in S. anschaffen ginge.
In dieser Nacht habe ich kaum geschlafen. »Ihre beste Freundin«, hämmerte es in meinem Kopf.

In ihrer Todesanzeige stand: »plötzlich und unerwartet ...«
 
S

suzah

Gast
hallo raggedy,

danke für deine erklärung. lass mal alles so stehen ohne änderung. die story ist dir gut gelungen.

liebe grüße suzah
 

raggedy

Mitglied
Danke ((suzah)). Beobachtungen, wie die Deinen, helfen wirklich beim Schreiben. Irgendwie setzt man doch häufig voraus, dass der Leser weiss, was man sagen moechte und dann etwas schlampig wird.
 



 
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