Dort unten bei den Weiden

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Daijin

Mitglied
Hi,
ich bin schon sehr lange nicht mehr hier gewesen, hoffe aber, mich in Zukunft wieder häufiger beteiligen zu können. Um mich vorzustellen, präsentiere ich Euch einfach mal eine meiner neueren Geschichten.
Viel Spaß damit.


Dort unten bei den Weiden


Ich bin endlich zurückgekehrt. Der letzte Hügel ist erklommen und ich sehe auf das Tal hinab, das ich vor über 20 Jahren verlassen habe. Viel hat sich nicht geändert. Unverändert fließt der Fluß, eher ein Bach, in sanften Bogen durch das Grün der Wiesen. Das Dorf wirkt friedlich, fast verlassen von hier oben, ganz anders als damals, als ich es verließ. Nur der Rauch, der aus den Schornsteinen aufsteigt und bald vom Wind verweht wird, zeugt vom Leben an diesem Ort abseits der Straßen. Die Kühe sind in den Ställen, denn der Abend dämmert und ein schmales Wolkenband verdunkelt den Himmel. Ich folge dem Weg, der sich den Hügel hinab windet. Unser Haus ist längst verfallen, seit zwanzig Jahren unbewohnt. Der Garten überwuchert, der Zaun verfault, nur der Schotterweg, der hinunter zu den Weiden führt, ist noch erhalten und von Weitem zu sehen. Die Weiden. Dort unten bei den Weiden habe ich sie erblickt. Dort, wo die ewig trauernden Bäume ihre ausladenden Zweige ins Wasser hängen lassen wie die Arme vom Alter gebeugter Riesen, dort, wo das Wasser sanft über die Steine plätschert, dort im Schatten, wo der Strick vom Baume hing, hatte sie gestanden und geträumt. Dort habe ich sie zum ersten Mal gesehen, berührt, geküßt. An diesem Ort haben wir uns geliebt, uns auf ewig verbunden, dort unten bei den Weiden. Ich habe das alte Haus erreicht. Das Dach ist eingestürzt, die Reste des Schornsteins liegen im Gras, die Tür hängt schief in den Angeln, die vom Rost zerfressen sind. Ich selbst habe das Haus gebaut, doch es ist vergangen, wie alles andere. Ein letztes Mal wende ich mich um, blicke an den Ort, an dem alles begann und alles endet. Ich habe mein Leben gelebt, viel zu lange ohne dich. Nichts bindet mich mehr an diesen Ort, nur alte Erinnerungen, schmerzlich, schön. Dennoch bin ich zurückgekehrt, denn ich habe noch den einen Wunsch: Ich möchte, daß ihr mich begrabt, dort unten bei den Weiden, wo der Strick vom Baume hing und auf mich wartet.
 

Daijin

Mitglied
Hallo Rainer,

Vor 20 Jahren hat sich seine Frau an einer der Weiden erhängt. Damals hing also der Strick vom Baume.
Nun kehrt der Protagonist zurück zu dem Ort, weil er das Gefühl hat, daß der Strick auf ihn wartet => Er will Selbstmord begehen, um sich mit seiner Geliebten zu vereinen.
 

mara

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Nun, wenn der Strick "hing" und nicht mehr hängt, wie kann er dann "warten"? ;) Versuche einfach mal, den letzten Satz zu überarbeiten. Ansonsten klingt die kurze Geschichte schön poetisch. Obwohl die kaffeehausintellektuelle Recht hat: Warum muss es immer gleich um Selbstmord gehen? Könnte der Mann nicht einfach wehmütig zurückdenken und dann wieder nach Hause gehen? Könnte er nicht auch beschließen, eines Tages, wenn sein Leben zur Neige gegangen ist, sich neben seiner Liebsten begraben zu lassen, und nicht schon jetzt? Und warum hat sich die Frau damals umgebracht? Wenn ihre Liebe so vollkommen war, warum sollte sie dann in den Tod gehen? Verstehe ich nicht...
 

Daijin

Mitglied
Natürlich wartet der Strick nicht wirklich auf ihn. Er hängt ja nicht einmal mehr dort. Schließlich wird seine Frau ja sicher einmal abgenommen worden sein. Daß der Strick "auf ihn wartet" ist doch bloß eine Metapher dafür, daß er sich ihrem Schicksal anschließen möchte. Er will ihr folgen. Um das deutlich zu machen, muß das Bild auf ihren Selbstmord anspielen, sonst ist der Zusammenhang unklar.

Warum muss es immer gleich um Selbstmord gehen? Könnte der Mann nicht einfach wehmütig zurückdenken und dann wieder nach Hause gehen?
Bei allem Respekt, aber eine solche Geschichte wäre wahrscheinlich ziemlich reizlos. Die Melancholie beginnt leicht und etwas nostalgisch, steigert sich dann im Laufe des kurzen Textes hin zu einem unausweichlichen Ende. Ich würde nie auf die Idee kommen, daß Niveau nach dem "Höhepunkt" wieder abflauen zu lassen. Das mag in einem Roman möglich sein, einer Kurzgeschichte nähme es aber die Spannung.

Das "Warum" ist nicht Thema der Geschichte. Ich hatte beim Schreiben kurz darüber nachgedacht, bin aber zu dem Entschluß gekommen, daß es mir nicht darum geht, Gründe zu erklären. Ursprünglich habe ich die Geschichte aus einer Laune heraus geschrieben, mit der Absicht, einfach nur eine schwermütige Stimmung zu beschreiben, in Worte zu fassen. Die Handlung steht nicht im Vordergrund.


PS: Eine Menge Gründe für einen Selbstmord sind denkbar, selbst (oder vielleicht gerade?) wenn man verliebt ist. Laß einfach Deine Phantasie spielen. ;)
 

Zefira

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Ich finde die Metapher des Stricks, der in der Phantasie des Erzählers "wartet" durchaus einleuchtend. Ohne die Erklärung hätte ich die Geschichte aber nicht verstanden.

Beim ersten Lesen schien mir, als sei der Zeitpunkt, an dem "der Strick vom Baum hing", und der Zeitpunkt, an dem er seine Frau das erstemal am Fluß stehen sah, derselbe gewesen. So kann man den Strick zwar mit Mord oder Selbstmord assoziieren, aber nicht mit dem der Frau. Ich meine diesen Satz:

>...dort, wo das Wasser sanft über die Steine plätschert, dort im Schatten, wo der Strick vom Baume hing, hatte sie gestanden und geträumt. <

Ich fand diesen Satz spontan sehr stark, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon in einer Art melancholischer Träumerei versunken war - die Geschichte plätscherte in einer Kette bittersüßer Bilder dahin -, und der vom Baum hängende Strick wirkte wie ein Schlag in den Magen. Trotzdem blieb mir der Zusammenhang unverständlich.

Du müßtest - nach meiner Meinung - schon irgendwann klar und deutlich erwähnen, daß SIE es war, die an dem Strick hing. Aber vielleicht nicht gleich schon in dem bewußten Satz, sondern etwas später, vielleicht sogar erst am Schluß.

Wenn ich noch einen ganz erbsenzählerischen Vorschlag machen darf ;) : ändere das "vom Baume" in "vom Baum". Gerade die Einsilbigkeit jedes einzelnen Wortes macht den bewußten Nebensatz so stark. Mit dem "Baume" wird dieser Effekt schon wieder etwas aufgeweicht...

lG, Zefira
 

Daijin

Mitglied
Wunderbar. Vielen Dank für die konstruktive Kritik. Ich werde Deine Vorschläge zu Herzen nehmen.

die Geschichte plätscherte in einer Kette bittersüßer Bilder dahin -, und der vom Baum hängende Strick wirkte wie ein Schlag in den Magen.
Genauso sollte es auch sein. Ich sehe aber auch das Problem, das Du beschrieben hast. Vielleicht sollte die Erwähnung des Stricks erst ans Ende der Beschreibung der Stelle unter den Linden und der Begegnung mit "Ihr" gesetzt werden.
Ich hoffe nur, daß das abrubte dadurch nicht verloren geht. Aber der Zusammenhang mit Ihr sollte dann klarer werden.


Ich bin eigentlich kein Freund von künstlichen Archaismen. Eigentlich würde ich in eine normale Kurzgeschichte von mir nicht solche Wörter wie "Baume" einbauen. Bei diesem kurzen Text aber hatte ich das Gefühl, daß das einsilbige "Baum" die Sprachmelodie holpern ließe. Durch das auslautende "e" gleitet man zum nächsten Wort hinüber, ohne eine Sprechpause zu machen. Ohne das "e" setzt man beim "Baum" ab und beginnt bei der Artikulation des "hing" sozusagen von vorn. Ich wollte aber, daß die Geschichte, wie Du so schön gesagt hast, dahinplätschert. ;)
 



 
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