Dort unten geht es um...

"Mensch, Gerhard, das hätten wir nicht tun dürfen!" sagte Bernd nervös neben seinem Freund hergehend.
"Quatsch keine Opern! Ich hab hier kein Bock auf das Gelaber von dem Futzi da!"
Gerhard tat mit einer energischen Handbewegung alle Einwände ab.

"Da hinein?" meinte Bernd schließlich, als sie vor einer Abzweigung standen. Rechts ging der hell erleuchtete Gang weiter, links fürte er ins Dunkel, die Eisenbahngleise auf dem Boden verloren sich in der Schwärze.
Ein mit roter Farbe an die Wand gemalter Pfeil verwies bei dem dunklen Gang auf in französischer Sprache zu Bloc VII. "Wetten das der Laberfutzi da nie eine Gruppe reinführt?" meinte Gerhard grinsend. "Wer weiß, was es dort drinnen gibt!"
Langsam gingen sie hinein.

Sie hatten sich von ihren Klassenkameraden und Rene´ Moussot, dem Fremdenführer, getrennt, noch während der Franzose der Schulklasse aus Saarbrücken auf schwer verständlichem Elsässisch - Deutschem Dialekt die Gasfilteranlage dieses Artilleriegroßwerkes* der Maginotlinie* erläuterte.

Das war kurz nachdem sie den Kampfstand für die Aussenverteidigung am Mannschaftseingang besichtigt hatten, der Ersten Etappe der angekündigten zweistündigen Führung durch diesen Bunker. Jetzt liefen sie allein auf eigene Faust in diesem Labyrinth aus Tunneln und Kasematten umher, 30 Meter unter der Erde.

Wahrscheinlich würde man die Beiden erst am Ausgang, allerspätetestens natürlich beim Abzählen im Bus vermissen. Gerhard hatte Bernd immer wieder eingeredet, das sie am Ende der Führung einfach wieder zu ihren Klassenkameraden dazu stoßen würden.

Wer weiß, was es hier unten zu finden gab. Was man vielleicht keinem Touristen zeigte? Jedenfalls hatte Gerhard diese Idee gehabt, und Bernd noch im Bus immer wieder versucht zu überreden, bis der Freund schließlich eingelenkt hatte.

"Was haben wir den noch zu verlieren? die Zeugnisnoten stehen ja eh schon fest! In zwei Wochen haben wir unseren Abschluss, alter! Der blöde Diemann kann uns gar nichts mehr!" hatte er immer wieder argumentiert.

Im Lichtkegel von Gerhards MAG - LITE erstrahlte der düstere, abgesperrte Tunnel in gleißendem Licht. Das rot - weiß gestreifte Trassierband am Eingang des Tunnels hatten sie sich gegenseitig einfach hochgehalten, während der andere drunter durch schlüpfte.

Bernd hatte über Gerhards Taschenlampe nicht schlecht gestaunt, als er sie im Bus kurz aus dem Rucksack geholt hatte. Sie bestand aus einem halbmeter langen Stahlrohr, in dem 6 große Batterien steckten, die eine Krypton - Birne versorgten. Ihr Licht konnte auch bei Tag schmerzhaft in die Augen blenden.

Doch so ganz hell war die Lampe nicht mehr, als sie immer tiefer in den gesperrten Tunnel zum "Bloc" VII gingen.

Jetzt erklangen die Schritte ihrer Klassenkameraden, unterbrochen von der Stimme des Führers. Der Hall wurde um hunderte Ecken geworfen und klang wie aus weiter Ferne.

Die Luft war kühl und feucht. Es roch nach Fäulniss und Moder.
An den rissigen Betonwänden glitzerten Ablagerungen. Ein dünner Wasserfilm lag auf allen Wänden. Sie schritten immer wieder durch tiefe Wasserpfützen, der Lichtschein der Taschenlampe fiel immer wieder auf grünlich schimmernde Flechten und Moose, die an dem nassen Beton wuchsen.

"Das ist echt wiederlich hier! Lass uns umkehren! Ich wil wieder zu den anderen!" Bernd verlor immer mehr die Lust an dem Unternehmen. Die Geräusche ihrer Klassenkameraden verstummten langsam in einem immer verzerrterem Echo.

"Hier stinkts! Und wer weiß, wo die anderen sind!" maulte Bernd und blieb stehen.
"Jetzt komm schon, du Weichflöte! Wer weiß was wir hier so finden! Ich will hier schon ein richtiges Andenken, und nicht nur so eine dämliche Postkarte, ne Kaffetasse oder so einen beknackten Aufkleber!" zischte Gerhard wütend, "Vielleicht finde ich ja noch ne Knarre oder ne Handgranate! Das wäre cool!"

Bernd folgte seinem Freund, der schon ein Stück vorraus gegangen war.
Der Lichtkegel seiner Lampe schweifte hin und her. Kleine, Stecknadeldünne Stalaktiten wie in einer Tropfsteinhöhle ragten von der Decke herab. Sie wirkten wie die halbdurchsichtigen Fangzähne irgendeines Tiefseefisches.
Überall schien die Nässe des Erdbodens in den Beton herein zu drücken.

Gerhard fröstelte. Er trug nur ein T - Shirt, obwohl alle anderen auf Anraten ihres Lehrers sich etwas warmes zum Überziehen mitgebracht hatten.
Jetzt klapperten seine Zähne leise aufeinander.

Das Licht der Lampe wurde zusehends schlechter.
"Scheiß Batterien!" knurrte Gerhard und schüttelte die Lampe.
Es wurde nicht besser. "Gestern erst gekauft und jetzt schon fast leer!"

"Deswegen lass uns zurück! Ohne Licht sehen wir nichts!"
"Vielleicht hast du recht! Aber lass uns hier mal rein gehen!"
Gerhard deutete auf eine Rostige, vor Nässe glänzende Tür.
Sie stand halb angelehnt.
Er berührte das stählerne Türblatt, spürte wie sich die feinen Rostpartikel unter seinen Fingern zerrieben.
"Die ist so verrostet, ein kräftiger Tritt und sie fällt auseinander!" meinte er kopfschüttelnd. Wie zerstörerisch doch das Wasser sein kann.

Im Schein seiner Lampe sah er, das seine Fingerkuppen mit braunem Rost beschmiert waren.
"Bäh!" Er versuchte den Dreck an einem Taschentuch abzuwischen, doch er bekam ihn kaum ab. Er zögerte einen Moment, dann schlüpfte er durch den Türspalt. Jetzt illuminierte das schwächelnde Licht der Taschenlampe eine kleine Kammer.
In einer Ecke stand ein rostiges Bettgestell, überall lag dreckiges gerümpel auf dem Bosen verstreut. Gerhard traute sich nicht, etwas davon anzufassen.

"Hörst du eigentlich noch die Anderen?" fragte Bernd nervös durch den Türspalt. Die beklemmende Stille im Inneren der Tunnel lag ihm unangenehm in den Ohren.

"Nein!" Gerhard lauschte in die düstere Stille. Nur das gelegentliche, atonale Plätschern eines Wassertropfens aus weiter Ferne, in den düsteren, verwinkelten Gängen.

Das Licht der Lampe wurde immer schwächer.

"Was haben die mir da blos für eine Kacke verkauft?" Gerhard klopfte mit dem Kopf der Lampe gegen seine offene Handfläche, und schlüpfte wieder durch die halboffene Tür zurück in den deunkeln Tunnel.

Das Licht wurde zunehmend trüber, erreichte kaum noch die gegenüber liegende Wand.
"Scheiße. wir müssen hier weg!" Bernd verlor die Nerven und zerrte im Laufen seinen Freund hinter sich her.
"Bleib doch cool, Alter!" schrie dieser ihn an, und riss sich los.
"Bleib Cool! wir gehen jetzt den selben Weg einfach zurück und dann einfach raus hier aus dem Bunker!"
Bernd atmete schwer. Diese schwarze Finsternis um sie herum ängstigte ihn. Überall war es nass. Wie in einem Grab. Die Nässe schien mit klammen, knöchernen kalten Fingern nach ihm zu greifen.

Ein eisiger Wind zog plötzlich durch den Tunnel, Gerhard fröstelte, die haare auf seinen Unterarmen stellten sich senkrecht auf. Er mußte sich immer stärker darauf konzentrieren, in dem schwach - difusen Licht noch etwas zu erkennen. Bernd schritt dicht hinter Gerhard.

"Da vorn ist die Kreuzung! Da ist Licht!" rief Bernd aufgeregt. Er war froh, es geschafft zu haben.Sie würden die Gruppe vielleicht auch noch einholen können. Wenn sie doch nur wüßten, wo sie entlang gegangen waren.

Das gelbliche Licht der Beleuchtung fülte den hohen Rundbogen weit vorn hell aus. Sie lauschten beim Gehen nach ihren Klassenkameraden. Doch das einzige was sie hörten war das Pochen ihres schnellen Pulses in den Ohren, das Rasseln ihres aufgeregten Atems. Sonst war es still.

Und dann erlosch das Licht im Tunnel. Mit einem Male standen sie im Dunkel.
Bernd schrie erschrocken auf. Sein dünner Schrei hallte durch die Gänge.
Gerhard sah das erlöschende Licht seiner Taschenlampe.
Der rötlich - braun glimmende Lichtkegel verlosch nun ganz.

Die Dunkelheit verschluckte sie Beide.

"Die sind wohl schon draußen! Scheiße!" zischte Gerhard, "Der Letzte macht das Licht aus! Verdammte Scheiße, verdammte!"
Er schlug mit der Taschenlampe gegen die Wand, neben der er zum Stehen gekommen war. Ihm war nicht bewußt gewesen, das sie eine solch lange Zeit in dem Tunnel verbracht hatten. Die Anlage war wirklich verflucht riesig.

"Was machen wir jetzt?" Bernd war der Panik nahe. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Es wurde auch ihm trotz seines Flanellpullovers immer kälter.

Immer wieder fegte ein Windstoß von hinten durch den finsteren Tunnel, strich mit eisigem Hauch über ihre frierenden Körper.

"Gerhard, was ist das? Wo kommt der Wind her?"

Die Beiden rückten eng beieinander. Rücken an Rücken standen sie der Dunkelheit trotzend gegenüber. Ihre weit aufgerissenenen Augen bewegten sich ruckartig in ihren Höhlen hin und her. Sie hörten hin und wieder einen Wassertropfen, der irgendwo in der unergründlichen Dunkelheit aus großer Höhe in eine Pfütze am Boden fiel. Gebannt versuchten sie der Schwärze etwas sichtbares abzutrotzen.

Ihre Finger bewegten sich tastend durch die Kohlensackschwarze Finsternis, sie gingen langsam, Schritt für Schritt vorwärts. Bernds Fingerkuppen rieben über den rauhen, kalt nassen Betonverputz der Tunnelwand. Rauh und furchtbar kalt.

Wieder streifte sie ein eisiger Windstoß, sie hörten ein hohles Pfeiffen, wie wenn der Wind pfeiffend um die Hausecken weht.

"ich will hier raus!" wisperte Gerhard leise. Er war den Tränen nahe, dachte an seine Klassenkameraden dort oben über Tage, wie sie im Bus saßen.
Die Sonne, die schien, der Himmel war heute strahlend blau über dem Elsass.
Ob man sie jetzt vermisste?

Suchte man jetzt nach ihnen?

Doch warum blieb es dunkel? Hatte man sie vergessen? Fuhr der Bus bereits Richtung Autobahn?

Bernd hörte das heftige, kurze Atmen seines Freundes. Das Pulsieren seines eigenen Herzschlags. Hörte, wie seine Zähne immer wieder vor Kälte und vielleicht auch Angst aufeinander schlugen.

Und dann hörte er noch ein Geräusch.

Es klang wie Schritte. Schlurfende Schritte.

"Gerhard, da kommt einer!" presste er mit einem Seufzer der Erleichterung hervor.
Auch sein Freund hörte jetzt das scharrende Geräsuch, wie wenn jemand beim Gehen ein Bein nach zieht.

Es wurde immer lauter.

Ein erneuter, eisig kalter Windstoß fegte wie eine Orkanböe durch den grausig dunklen Gang, ließ ihre Hosenbeine Schlottern und raubte ihnen vor Kälte und Heftigkeit fast den Atem. Das Heulen des Windstoßes, das tiefe Heulen.

Ein moderiger Geruch stieg ihnen in die Nase, nach Jahrzehtelanger Fäulnis und Nässe riechend wie der ganze Tunnel, der hinter ihnen lag. Nur intensiver. Sie konnten es förmlich schmecken.

Und das Schlurfen kam ebenfalls von hinten.

Bernd hörte nun plötzlich ganz deutlich, wie sich jemand ihnen näherte.
Seine Augen starrten gebannt und hoffnungsvoll in diese Richtung.

Doch wenn man sie suchte, dann müßte derjenige von Vorn, vom Eingang her kommen... Und würde man nicht das Licht anmachen, wenn man sie suchen würde?

"Hallo?" hörte er Gerhard rufen. Bernd spürte, wie sich sein Freund dicht an ihn drängte.

"Ist da jemand?"

Das Schlurfen wurde lauter und kam immer näher.
Jetzt trat es durch eine Wasserpfütze.

Plitsch, Plitsch.

Dann wieder das Geräusch, wie eine Schuhsohle beim Gehen über nassen, bröckeligen Betonboden scharrt. Kleine Kieselsteine rollten über den Boden.
Gerhard nahm seine Taschenlampe in seine zitternden, klammen Finger und drückte den Knopf. Sein Herz raste und hämmerte. Es kribbelte unangenehm in der Magengrube, ein fahrstuhlartiges Sausen fuhr ihm durch Mark und Bein.

Die Batterien hatten sich ein klein wenig erholt und gaben für einen kurzen Augenblick noch ein wenig Saft von sich. Dunkelorange glomm der Lichtkegel auf, und leuchtete auf eine dunkle Gestalt, die sich ihnen aus dem langen Tunnel heraus immer weiter näherte.

Die schon dicht bei ihnen war.
Die Gestalt hatte ihre Arme ausgebreitet und vor sich ausgestreckt.
Sie schwankte bei jedem Schritt, zog beim Gehen das linke Bein nach. Die Kleidung schien zerissen und verfallen, überall hing sie in Fetzen herunter.

"Hallo?" Bernd´s Stimme überschlug sich vor Angst. Tränen stiegen ihm in letzter Verzweiflung in die Augen.
Statt einer Antwort fegte ein erneuter, eisigkalter Luftzug durch den Tunnel, an der Unheimlichen Gestalt vobei, trug eine Welle ekelerregenden faulig - modrigen Gestankes mit sich, ließ ein tiefes Heulen vernehmen. Die Fetzen an der Gestalt bewegten sich im Wind.

Und im letzten Moment, kurz bevor die schwarze Gestalt bei ihnen war, und das Licht der Taschenlampe verlosch

Sahen sie beide die rotglühenden Augen...
Bevor sie vor völliger Angst in Ohnacht fielen und ihre zitternden Körper auf dem nassen, schmutzigen Betonboden fielen.



"Hallo, Monsieurs. Gut das ich euch beide gefunden habe!"
Gerhard und Berd öffneten ihre Augen.
Sie sahen in das blendende Licht einer Glübirne, die an der Tunnelwand angebracht war. und dann in das besorgte Gesicht von Rene Moussot, dem Fremdenführer. "Hallo!" stöhnte Bernd. Er zitterte am ganzen Körper, drehte sich mit einem Ruck herum und sah in die gähnende Schwärze des dunklen Tunnels, der zu "Bloc VII" führte. Der Anblick ließ ihn vor Schreck erneut zusammenfahren.

Die strahlenden blauen Augen Moussots blickten nun
erleichtert. "Euer Lehrer hat erst in Saarbrücken bemerkt, das ihr beiden fehlt."
Sprach er mit ruhiger Stimme in seinem Französischen Akzent.
"Er hat dann im Fremdenverkehrsamt angerufen und Bescheid gesagt, das ihr vielleicht noch hier drin seid!"

"Tut.. Tut uns leid!" Gerhard richtete sich langsam auf.
"Man hat mich dann verständigt, ich solle nachsehen!" fuhr Moussot fort.
"Entschuldigen sie bitte!"

"Ihr hättet dort niemals herein gehen dürfen! Da drinnen ist es nicht geheuer! Dort geht es um!"

Dein beiden Freunden liefen eiskalte Schauer über den Rücken.

"Beim Bau wurde ein Arbeiter verschüttet, und seitdem geht er dort um, versteht ihr? Wir konnten ihn niemals dort herausholen, und er ist noch immer dort!"
Moussot warf einen kurzen Blick in den düsteren Schlund des Tunnels, der zu "Bloc VII" führte. "Er ist noch immer dort unten im Schacht! Nie wird man ihn bergen können, er liegt tief unter dem Beton!"

Ein leichter Windhauch fuhr aus dem Tunnel, ein leises, tiefes Heulen.

"Was wird denn jetzt mit uns?" fragte Bernd, und vermied es, in den grausigen dunklen Tunnel zu schauen.

"Es wird alles in Ordnung kommen. Herr Diemann hat eure Eltern verständigt, sie werden euch draußen abholen!"

Bernd und Gerhard warfen sich erleichterte Blicke zu.
Aber sie hatten nun auch Angst vor den Konsequenzen. Es würde eine fürchterliche Standpauke für sie Beide geben.

Sie waren aufgestanden und sahen das ihre Kleidung völlig verdreckt und durchnäßt war. Sie froren und zitterten vor Kälte.

Moussot stand mit dem Rücken zu ihnen einige Schritte entfernt und blickte in den dunklen Tunnel hinein. "Dort drinnen geht es um!" murmelte er leise und unverständlich.

"Tut uns echt leid!"

Gerhard trat neben den Franzosen hin, doch der schien sie nicht zu hören.
"Es tut uns wirklich leid!"

Und als der Fremdenführer sich schließlich umdrehte, sahen sie in seine
Rotglühenden Augen

ENDE
 



 
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