Down and out

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RobertRescue

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Ich sitze morgens in der S-Bahn. Mir gegenüber sitzt eine Frau. Sie trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Face to Face“. Ich habe auf den Aufdruck geschaut, weil ich wissen wollte, was draufsteht. Es ist immer nett, wenn Frauen was tragen, wo was draufsteht, weil, dann kann man drauf schauen, um zu erfahren, was draufsteht. Das ist ein ganz normaler Akt menschlicher Neugier, dass man wissen möchte, was die Leute einem möglicherweise sagen wollen. Was will sie mir damit sagen? Sucht sie die frontale Kommunikation? Ist das eine Aufforderung an mich? Oje, so früh am Morgen kommunizieren. Ich fürchte, da muss ich passen.

Mein Blick fällt auf ihre Handtasche. Ein berühmter Gelehrter hat mal gesagt: „Das größte Geheimnis einer Frau ist ihre Handtasche.“ Frauen bewahren darin grundsätzlich folgende Dinge auf: Eine Handgranate (zum Selbstschutz), ein Positronenlaserzerstäuber (auch zum Selbstschutz), eine lokal wirkende Neutronenbombe im Ladylook-Format (mehr als zum Selbstschutz), eine Packung Taschentücher, Pfefferminzpastillen, ein Handy sowie diverse andere Dinge, die leider meine Phantasie übersteigen. Auf der Handtasche steht auch was geschrieben, aber das ist oft nicht so interessant wie das, was auf dem Oberteil steht, weil auf der Handtasche meist nur ein Wort oder so steht, eine Bezeichnung halt, irgend etwas wie „PAUL“ oder „NIKE“ oder eben gar nichts, während auf dem Oberteil was steht, was mehr aussagt, also was …, na ja, okay, am frühen Morgen denken ist wirklich nicht meine Sache.

Auf der Handtasche steht: „Down and out“. Was soll das nun wieder? Erst die direkte Kommunikation herausfordern wollen und jetzt deutlich machen, dass sie ein Problem hat? Ist sie etwa eine von diesen kaputten Menschen, die durch Berlin ziehen und einen ständig mit ihren persönlichen Makeln belästigen? Jetzt bin ich aber empört. Eigentlich sollte ich aufstehen und mir demonstrativ einen anderen Platz suchen. Ihr damit klarmachen, dass ich an „Face to Face“ durchaus Interesse gefunden hätte, aber „Down and out“, das ist ja wohl die Höhe! Soll sie doch ins Internet gehen und mit anderen Kaputten in Foren ihre Probleme diskutieren. Aber es sind keine anderen Sitzplätze frei. Wir sind am S-Bahnhof Ostkreuz vorbei und um diese Uhrzeit steigen dort üblicherweise 6000 Leute zu.
Das mit der Handtasche hätte sie sich echt sparen können, blöde Kuh. Ich war nämlich gerade am überlegen gewesen, ob ich überlege, sie anzusprechen, aber jetzt will ich nicht mehr.
Aber ich frage mich immer noch, warum sie „Face to Face“ will und gleichzeitig „Down and out“ ist. Wenn es einem so geht, dann bleibt man gefälligst ein paar Tage zuhause und fällt den Leuten nicht auf den Wecker oder lässt sich gleich einweisen.

Ich muss ja ehrlicherweise zugeben, dass ich auch mal mit dem Gedanken gespielt habe, meine Seelennöte so offen zur Schau zu stellen. Weil ich ja keine Handtasche trage, hätte das halt auf einem T-Shirt oder Pullover stehen müssen. Aber trotz einer durchdachten stichwortartigen Zusammenfassung hätte der Platz nicht gereicht. Ein Freund hat mal vorgeschlagen, ich solle einfach „Hilfe“ drauf schreiben. Jetzt stelle ich mir gerade vor, die Frau mit ihrem „Face to Face“ und „Down and out“ würde Interesse an dem Aufdruck auf meinem T-Shirt aufbringen und lesen: „Hilfe“. Die hätte dann aber auch keine Lust mehr auf „Face to Face“.
Und wenn ich jetzt aufstehen und laut rufen würde: „Hilfe“ dann würden all die 6000 Pendler denken, meine Güte, schon wieder so ein Irrer, der Zeitungen verkauft, Geld haben will oder für eine obskure Religion missioniert. Ne, da bleibe ich lieber sitzen und warte, was passiert.
Wir nähern uns der Station Hermannstrasse. Die Frau steht auf und lächelt mich an. Ich setze ein Arbeitslächeln auf. War das schon „Face to Face“ oder kommt da noch mehr? Nee, da kommt nicht mehr …
Die Bahn fährt wieder an und ich greife nach meiner Morgenlektüre: „Verwaltung einer Netzwerkumgebung unter Windows“
Das ist doch mal was handfestes, da weiß man, woran man ist. Das Buch versetzt mich gleich in einen anderen Kontext - wo es keine Probleme gibt, keine Missverständnisse und keine Erwartungen.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
"Wenn es einem so geht, dann bleibt man gefälligst ein paar Tage zuhause und fällt den Leuten nicht auf den Wecker oder lässt sich gleich einweisen."
:D

… neulich versprach auf dem Flohmarkt ein Shirt einer gelinde gesagt älteren Dame , die auch jung sicher nicht zu den Schönsten gezählt hatte, "Wild Dreams". Oder wollte sie mitteilen, dass sie welche hat? Bei allem „ist doch menschlich": Vorstellen will ich mir weder noch …
 
E

eisblume

Gast
Hallo Robert Rescue,

dein Text hat mir grad ein dickes Grinsen ins Gesicht gezaubert.

Allein so etwas hier
Jetzt bin ich aber empört.
ist herrlich trocken.

Mein Humornerv ist voll getroffen, da hätte ich gern noch weiter gelesen.

Lieben Gruß
eisblume
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich war nämlich gerade am überlegen gewesen, ob ich überlege, sie anzusprechen, aber jetzt will ich nicht mehr.
Hehe! Nur einer von mehreren genialen Sätzen, die sich im Text finden.
Sehr gelungen. Vor allem auch die Beschreibung der morgendlichen Atmosphäre in einer Bahn!!

Natürlich haben Frauen noch viel Schlimmeres in ihrer Handtaschen. Sie lieben es, jeden in die Flucht zu schlagen, in dem sie Fotos von rotgesichtigen, zerknautschten Babys zeigen, die sie vor 20 Jahren mal geboren haben.

Very amused grüßt

DS
 

Aligator

Mitglied
Hallo Robert Rescue!

Es war mir eine große Ehre und ein ebensolches Vergnügen in die Gedankenwelt deines Protagonisten abtauchen zu dürfen. Dieses ganze Überlegen um eigentlich Nichts find ich komisch und wie aus dem Leben gegriffen. Auch wenn man das nicht so ausformuliert, so gehen doch unbewusst solche Monologe im Hirn ab, wenn man mit offenen Augen durchs leben geht. Oft ist man ja leider in seinem "Verwaltung einer Netzwerkumgebung unter Windows" versunken und wird dadurch von den wirklich interessanten Entdeckungen abgelenkt.
Ich hab übrigens auch ein T-Shirt auf dem steht "Alles was ich brauche". Ich bilde mir ein, das Unterbewusstsein meiner Frau dahingehend manipulieren zu können. Vorsichtshalber.

Grüße,
Aligator
 



 
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