Drama

Symphonie

Mitglied
Ein falscher Traum von Zukunft

Es war später Nachmittag im Studentenwohnheim. Auf den Gängen standen einige Kommilitonen in Grüppchen zusammen. Über die Unterhaltungen hinweg, die sich um die meist typischen Themen wie den Ärger über den Professor oder die Pläne für das kommende Wochenende handelten, war hin und wieder ein Lachen zu hören. Sonst war es relativ ruhig.
Und gerade wegen dieser Ruhe war der Schrei aus einem der hinteren Zimmer des Ganges deutlich zu hören. Der Schrei einer Frau, zu dem sich bald eine männliche Stimme gesellte, die ebenso laut, wenn nicht lauter war.
Die Köpfe der ca. 15 Studenten auf dem Gang ruckten gleichzeitig, einer Choreografie ähnlich, zu der unerwarteten Geräuschquelle herum. Aus welchem Zimmer die Stimmen kamen war schwer auszumachen, und auch, worum es ging, da sich die weibliche Stimme mehrfach überschlug. Auch, ob es sich bei ihr um Rage oder Angst handelte, war nicht auszumachen.
Einige der Kommilitonen tauschten Blicke. Der erste Schreck war schnell der Neugier gewichen, und vielleicht wusste ja der Stehnachbar, worum es ging.
Als diese jedoch in ebenso verwunderte Gesichter blickten, wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Ende des Ganges zu.
Die Neugier wurde ein wenig befriedigt, als eine Tür aufgerissen wurde und eine junge Frau weinend den Gang hinunterrannte. Obwohl sie ihre aufgeknöpfte Bluse mit ihren Händen um sich geschlungen hatte, schenkte sie der kleinen Menge im Gang keine Beachtung. Während sie laut schluchzend auf das Treppenhaus zusteuerte, löste sich Diana, eine der Studentinnen, mit einem Fluch aus der Gruppe, um der Flüchtenden, ihrer Freundin Leonie, zu folgen.
Nun wusste jeder, wem er die lauten Stimmen aus dem Zimmer zuzuordnen hatte.
Drei der Kommilitonen, zwei Männer und eine Frau, liefen an den Ort des Geschehens, dessen Tür noch weit geöffnet war. Die restlichen Studenten blieben ratlos stehen, tauschten jedoch sofort ihre Vermutungen aus.
Felix stand in seinem Zimmer. Ihm war deutlich anzusehen, dass er nicht wusste ob er bleiben oder Leonie folgen sollte. Sein sonst so gutaussehendes Gesicht war von Verwirrung und Schock gezeichnet.
\"Alter\", rief Tim, ein jahrelanger und guter Freund Felix`. \"was geht`n ab?\"
Tims saloppe Ausdrucksweise, war ein Teil seiner Art, das Leben nicht so ernst und auch mit seinen 22 Jahren vieles auf die leichte Schulter zu nehmen. Bei seinen Kommilitonen war er durch seine fast immer währende Fröhlichkeit und Ausgeglichenheit sehr beliebt. Vor allem die Frauen zog er damit fast magisch an, was er nicht bedauerte.
Nun, da sein Freund in offensichtlichen Schwierigkeiten steckte, auch wenn die Tragweite derer noch nicht klar zu erkennen war, zeigte seine Sprechweise, wie sehr sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen war, auch wenn nun Verwirrung in seinen Worten lag.
Julian, der neben Tim stand, wechselte einen schnellen Blick mit Tine, seiner Freundin. Julian und Tine waren ebenfalls Felix`Freunde, wenn auch nicht in einer so engen Beziehung wie es bei Tim der Fall war.
Tine wandte ihren Blick wieder Felix zu, der bis auf eine Boxershort unbekleidet war. Wut lag in ihrer Stimme, während sie in ihre hintere Hosentasche griff und ihr Handy herausholte. \"Ich fass es nicht. Ich ruf jetzt die Polizei.\" Damit drehte sie sich um, um das Zimmer zu verlassen.
\"Hey, bleib doch mal cool\", rief Tim. \"Du weißt doch garnicht was passiert ist.\"
Felix war nicht in der Lage sich zu verteidigen. Noch immer stand ihm der Schreck, nun aber auch Unsicherheit, ins Gesicht geschrieben.
\"Ach nein?\" schleuderte Tine zurück und zwängte sich durch die Gruppe Schaulustiger, die sich vor der Zimmertür versammelt hatte. Dann war sie verschwunden.
Julian, der ihr nachgeschaut hatte, bis sie nicht mehr in seinem Blickfeld war, schloss die Tür, um Felix vor der gaffenden Menge zu schützen.
\"Okay, okay\", sagte Julian und machte eine beschwichtigende Geste, die signalisieren sollte, sich erstmal zu beruhigen. \"Was ist passiert?\", fragte er. Seine ruhige und vertrauenserweckende Art, brachte Felix erstmals dazu, sein bisheriges Schweigen zu brechen.
\"Ich weiß nicht... ich weiß es nicht\", sagte Felix aufgebracht und lief ziellos und gehetzt durch sein Zimmer. Als wäre seine Kraft aus ihm gewichen, setzte er sich auf das Bett und legte sein Gesicht in seine Hände. Nun, da Tine das Zimmer verlassen hatte, konnte er sich wenigstens etwas entspannen. Natürlich war ihm klar, welche Schlussfolgerung sich jedem, der die Situation sah, aufdrängen musste. Doch die Tatsache, dass sich seine beiden Freunde die Geschichte in Ruhe anhören und erst dann vorurteilsfrei entscheiden würden was zu tun sei, beruhigte ihn. Er wusste dass Julian und Tim so handeln würden und das gab ihm zum ersten Mal das Gefühl von Sicherheit.
Seit jeher war Felix der Sunnyboy des Studentenheims gewesen. Offenheit, Charme und Humor lagen in seiner Ausstrahlung und durch sein gutes, gepflegtes Aussehen standen die jungen Damen Schlange bei ihm. Fest binden hatte er sich nie wollen, sein primäres Ziel Arzt zu werden, nahmen seine Zukunftspläne zu sehr in Anspruch. Und dass der 23jährige sein Ziel erreichen würde, daran zweifelten weder seine Kommilitonen, noch seine Professoren. Die ein oder andere kurzweilige, romantische Liebesbeziehung konnte er jedoch nicht von der Hand weisen, womit er allerdings, im Gegensatz zu der jeweiligen begünstigten Kommilitonin, diskret umging.
Nun war von Felix` herzlicher Art nichts übrig geblieben. Das Gesicht noch immer in seinen Händen vergraben, war ihm der Schock noch immer deutlich anzusehen.
Tim zog sich einen Stuhl heran, auf den er sich verkehrt herum setzte, und ließ seinem Freund Zeit, sich erst einmal zu beruhigen. Auch Julian erkannte, dass er mit Drängen nicht weiterkommen würde und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand und fixierte lediglich seinen Kumpel.
Einige Minuten vergingen, in den nur hin und wieder Felix` aufgebrachtes Atmen zu hören war. Dann hob er seinen Kopf und sah unsicher zwischen Tim und Julian hin und her.
„Ihr glaubt doch nicht, was alle jetzt glauben werden, oder?“, fragte er gedämpft.
„Was sollen wir denn glauben?“, fragte Julian, der, im Gegensatz zu Tim, bereit war, härter mit Felix ins Gericht zu gehen, sollte sich die Vermutung, die er hegte, bestätigen.
„Ich… ich hab` nichts getan… wirklich nicht. Leonie ist mit mir auf`s Zimmer gegangen, wir waren die letzten Wochen viel zusammen. Das weißt du doch Tim“, sagte er und sah seinen Freund bittend an. Tim nickte lediglich, um ihn nicht am weitersprechen zu hindern.
„Na ja…“, Felix stockte kurz. Nun ins Detail zu gehen war ihm vor seinen Freunden peinlich, doch die Situation forderte ihn dazu auf, sich zu verteidigen. Scham war da Fehl am Platz, Felix wusste das.
„Wir haben bisher noch nichts gehabt, aber es war klar, dass es irgendwann dazu kommen würde. Leonie war in mich verknallt, ein Blinder konnte das sehen. Ich wollt` ihr keine Hoffnungen machen, aber heute kam sie mit zu mir auf`s Zimmer und wollte mehr.“ Wieder flog sein Blick zwischen Tim und Julian hin und her. „Was hättet ihr denn gemacht?“, fragte Felix, um seinen Freunden klar zu machen, dass sich kein Mann ein bisschen Spaß entgehen lassen würden.

Tim konnte ihn gut verstehen. Die 19jährige Philosophiestudentin war eine der hübschesten Frauen des Wohnheims. Dass sie aus gutem Hause kam und eine entsprechende Erziehung genossen hatte, merkten die Menschen in ihrem Umkreis sofort. Stets pünktlich und pflichtbewusst ging sie ihrem Studium nach. Ihr engerer Freundeskreis kannte sie zudem als fröhliche und spontane junge Frau, die auch gern mal mit ihren Freunden eine Nacht durchfeierte. Wo ihre Grenzen lagen wusste sie jedoch, nie hätte man sie in einer unwürdigen, betrunkenen Situation erlebt. Leonie war eine kühle, attraktive Schönheit, die die Männer unbewusst anlockte, bei Avancen derselbigen jedoch schnell abblockte und schon mal mit Arroganz reagierte, wenn das männliche Geschlecht hartnäckig wurde. Mit ihren langen, blonden Haaren, ihrer hellen Haut und ihrer großen, schlanken Figur weckte sie oft Assoziationen zu den unterkühlten Skandinavierinnen, deren Abstammung sie jedoch nicht teilte.
Vor einem halben Jahr war sie in das Wohnheim gezogen und teilte sich das Zimmer fortan mit Diana. Die Chemie hatte von Anfang an gestimmt, und schon bald war eine innige Freundschaft zwischen ihr und Diana, der 20jährigen Mathematikstudentin entstanden. Schnell war ihr Felix ins Auge gefallen. Er war einer der attraktivsten Männer, die sie in ihrem bisherigen Leben gesehen hatte. Von seinem gut gebauten, schlanken Körper, seinen blonden Strähnen die ihm nachlässig ins Gesicht fielen und vor allem von seinem natürlichen Charme fühlte sie sich extrem angezogen. Sie hatte bisher kaum Erfahrungen mit Männern gemacht und war daher umso verwirrter, als der Charmeur sie fortan sogar in ihren intimsten Träumen besuchte.
Durch ihre gute Bekanntschaft ihrer Zimmernachbarn Julian und Tine, die schon ein Paar waren als sie in das Wohnheim gezogen war, hatte sie Felix persönlich kennenlernen dürfen und ärgerte sich nach dem ersten Zusammentreffen umsomehr über sich selbst, da sie unsicher herumgestottert hatte, nachdem Felix sie unverbindlich angesprochen hatte. War sie denn nicht mehr in der Lage, zwei zusammenhängende Sätze zu sprechen, nur weil Felix sie nach ihrem Studium gefragt hatte? Wo war die toughe, selbstbewusste Leo geblieben?
Schon eine Woche später musste Leo sich eingestehen, dass sie sich in den „Aufreißer“, wie sie ihn im Stillen oft nannte, verliebt hatte. Ihr war nicht entgangen, dass er stets von weiblicher Gesellschaft umringt war, deren flüchtigen Körperkontakt er auch auf dem Universitätsgelände nicht scheute. Fortan setzte sie viel daran, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Dass andere Kommilitoninnen ihn umarmten oder sich (wie billig) sogar in aller Öffentlichkeit an ihn schmiegten, gab ihr einen Stich ins Herz, was sie zwar verwirrte, aber auch zu Ehrgeiz anstachelte.
Diana merkte schnell was in ihrer Freundin vorging und riet ihr von Felix ab. „Für eine Nacht bist du dir zu schade“, sagte sie ihr eines Abends, während sie mit einer Tüte Chips auf ihrem Bett saßen. „Du solltest dir einen Mann suchen, der es ernst mit dir meint, das kannst du von Felix nicht erwarten.“ Diana sah in Leos bedrücktes Gesicht und versuchte vorsichtiger fortzufahren: „Ich meine, er is` nicht verkehrt und als Kumpel bestimmt super, aber als dein Freund? Ich mein` wir leben nicht mehr in den Fünfzigern, aber gerade an deiner Stelle würde ich mir jemanden suchen, der an etwas ernstem interessiert ist.“
Diana hatte das in dem Bewusstsein gesagt, dass Leo noch Jungfrau war und auf „den Richtigen“ warten wollte.
Leo hatte nur mit den Schultern gezuckt und geschwiegen. Sie wusste dass ihre Freundin Recht hatte und ihr nur einen guten Ratschlag hatte geben wollen, doch gegen ihre Gefühle war sie machtlos.
Einige Tage später fasste Leo sich ein Herz und sprach ihn im Gang des Wohnheims an, als er gerade von einem Fußballspiel mit seinen Kumpels zurückkam. Der Augenblick war günstig, da er allein war, auf dem Weg in sein Zimmer. Als sie ihn in seinem durchgeschwitzten T-Shirt sah, versuchte sie, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Warum musste der Kerl auch so verdammt gut aussehen?
„Hi“, sagte sie so ungezwungen wie es ihr in diesem Moment möglich war. „Sag mal… hast du Lust morgen was mit mir zu machen? Also, ich mein, so, also nich`… nur so, falls du magst.“ Innerlich schlug sie ihre Hand mehrmals an ihre Stirn, doch sie durfte sich jetzt bloß nichts anmerken lassen. Wie blöd konnte man sein?
Felix grinste sie mit einem verschmitzten Lächeln an, und hätte sie mehr Erfahrung mit Männern gehabt, hätte sie sofort gemerkt, dass er sie durchschaut hatte. Seine Erfahrungen mit Frauen lagen um viele Level höher, und er erkannte ein verliebtes Mädchen, wenn es vor ihm stand. Freundlich sagte er:“ Sicher. Worauf hättest du denn Lust?“
„Keine Ahnung… ich weiß nicht“, erwiderte Leo schüchtern, und wieder klatschte ihre Hand gedanklich gegen ihre Stirn.
„Dann muss ich wohl übernehmen“, erwiderte Felix lächelnd, und ließ somit Leos Knie weich werden.
„Lass uns morgen ins Kino gehen… nur so, falls du magst“, gab er in Leos vorheriger Formulierung zurück.
„Okay“, war alles, was Leo erwidern konnte.
„Dann bis morgen“, sagte Felix, zwinkerte ihr schelmisch zu und verschwand in seinem Zimmer.
Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, und sie nun allein im Gang war, ließ sie ihre Hand tatsächlich gegen ihre Stirn klatschen. „Mein Gott, wie alt bin ich denn!? Bist du nicht in der Lage dich mal zusammenzureißen?“ flüsterte Leo aufgebracht. Doch schon im nächsten Moment gewann die Freude über ihr gelungenes Vorhaben die Oberhand, und sie lief euphorisch in ihr Zimmer, schon mit der Überlegung beschäftigt, was sie morgen anziehen solle.
Obwohl sie am nächsten Tag fremdes Gebiet betrat, war dieser einer der bisher schönsten in ihrem Leben. Im Kino hatte Felix sie in ihren Arm genommen und Leo verbrachte den Film angekuschelt an seiner Seite. Danach waren sie in der Altstadt spazieren gegangen und Leo fragte sich, wie sie nur so nervös hatte sein können. Felix war einer der nettesten Menschen, die sie bisher kennengelernt hatte. Sein natürlicher Humor brachte sie immer wieder zum Lachen, und sein sympathischer Charme lud sie dazu ein sich während des Spaziergangs an ihn zu schmiegen. Sie kamen an diesem Abend spät ins Wohnheim zurück, der Gang war leer. Vor der Tür gab er ihr einen sanften Kuss, den sie nur zu gern erwiderte. Felix hatte schnell gemerkt, dass sie noch unerfahren war, und ging daher sachte vor.
In den folgenden Wochen trafen sich Felix und Leo regelmäßig, und obwohl er keine Äußerungen zu einer Beziehung von sich gab, war Leo überglücklich. Natürlich hätte sie sich eine Beziehung zu ihm gewünscht, doch allein die immer intimer werdende Nähe zu ihm, erfüllte sie mit einem riesigen Glücksgefühl. Diana, sowie Tine und Julian, verfolgten die Situation äußerst skeptisch. Ihnen war klar, dass Felix ihr früher oder später das Herz brechen würde, doch für solche Gespräche war sie fortan nicht mehr zugänglich.
Erst wenige Tage zuvor hatte Tine sie darauf aufmerksam gemacht, dass sie ihn mit einer anderen Studentin zusammen gesehen hatte. Sie hatten sich geküsst. Als Leos Freundin sah sie sich verpflichtet ihr das mitzuteilen und ihr somit die Augen zu öffnen. Leo hatte, allen Erwartungen Tines zum Trotz, wütend reagiert und ihr vorgeworfen zu lügen um einen Keil zwischen ihr und ihm zu treiben. Tine erwiderte nichts mehr darauf und schnitt das Thema auch nicht mehr an. Natürlich lag ihr Leos Wohl am Herzen, doch als Lügnerin ließ sie sich nicht betiteln. Sollte sie doch sehen was sie in spätestens zwei Monaten davon hatte!
Doch dass es so kam, das hatte sie nicht gewollt. Nun rannte sie den Gang hinunter und durch das Treppenhaus in die untere Etage, das Handy an ihrem Ohr. Während sie einem Polizisten am anderen Ende der Leitung erklärte was geschehen war, steuerte sie Leos Zimmer an, vor deren verschlossener Tür schon Diana stand und dagegenschlug.

„Leo wollte mit mir schlafen. Das hat sie so gesagt als wir hier im Zimmer waren“, flüsterte Felix niedergeschlagen, während sein Blick nun auf dem Boden verweilte.
„Und so kam`s dann wie`s kommen musste. Wir haben uns halt hier hingelegt und… hey mann, sie wollte es wirklich“, fuhr Felix auf, nachdem er hochgeschaut und Julians Blick aufgefangen hatte.
„Erzähl einfach ma` weiter“, sagte Julian kühl, seine Arme noch immer verschränkt.
„Sie hat mich ausgezogen. Sie – mich“, wiederholte Felix überdeutlich. „Und als ich dann ihre Bluse aufgeknöpft hab`, is` sie total ausgeflippt und hat mir eine gescheuert. Ich hab` sie gefragt was denn los sei, ich mein` ich hab echt nix mehr kapiert, aber da hat sie mich schon weggestoßen und wollte zur Tür rennen. Ich mein, ich musste sie ja aufhalten, nur im BH konnte ich sie ja schlecht über den Flur laufen lassen, oder? Ich weiß nich` was sie da dachte, als ich sie festgehalten hab, aber sie fing an rumzuschreien und ich musste auch lauter werden um überhaupt zu raffen was los is`. Da wurde sie hysterisch und ich hab sie losgelassen weil ich mir dachte, lieber lass ich sie laufen, als dass du dir wie ein Vergewaltiger vorkommst. Und dann ist sie einfach rausgerannt… den Rest kennt ihr ja.“
Nachdem Felix seine Erklärung beendet hatte, war es einige Zeit still im Zimmer. Felix starrte wieder den Teppich an, als würde der ihm eine Erklärung liefern können, um dann sein Gesicht wieder in den Händen zu vergraben.
„Ich glaube dir“, sagte Tim, die Stille jäh unterbrechend.
Er sah Julian an, seine Reaktion abwartend. Julian nickte. Seine Mimik verriet nichts. Dann ging er abrupt Richtung Ausgang um seiner Freundin zu folgen. Während er die Tür öffnete und sie hinter sich schloß, war deutlich das laute Stimmengewirr auf dem Flur zu hören. Es mussten inzwischen weitaus mehr Kommilitonen auf dem Gang stehen, als es vor wenigen Minuten noch der Fall gewesen war. Der Grund dafür war klar. Das Vorkommnis hatte viele Neugierige und Schaulustige angelockt, die wissen wollten was nun geschah.

Der Tag sollte in einer Katastrophe enden. Nachdem ein Polizist die Tür zu Leos Zimmer aufgebrochen hatte, fand man sie im kleinen, angrenzenden Badezimmer. Das Blut lief bereits unter der geschlossenen Tür hindurch, und der angeforderte Rettungsarzt konnte nur noch Leos Tod feststellen. Während Dianas Schreie über den Gang zu hören waren, wurde Felix von einem Polizisten abgeführt um seine Aussage aufzunehmen. Trotz seiner Beteuerungen nichts getan zu haben, wurde er in Untersuchungshaft genommen.
Monate später, nachdem auch die Medien das Thema ausgeschlachtet und Felix als brutalen Vergewaltiger angeprangert hatten, wurde er von der Staatsanwaltschaft aus Mangel an Beweisen freigesprochen. An Leonies Körper waren durch die Obduktion – bis auf ihren Selbstmord – keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung festgestellt worden.
Felix brach sein Studium nach der Freisprechung ab. Nichts erinnerte mehr an den alten Felix, der er vor wenigen Monaten noch gewesen war. Er war ein Schatten seiner Selbst geworden, gebrochen vor allem durch die feindseligen und blutrünstigen Vorwürfe der Medien. Auch wenn der Richter von seiner Unschuld überzeugt war, die Öffentlichkeit war es nicht. Und so sah er sich gezwungen unterzutauchen, denn die Anprangerung eines Vergewaltigers konnte er nicht ertragen. Schon bald musste er psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, denn dies war definitiv kein lebenswertes Leben mehr für ihn. Sein Studium sollte er nie wieder aufnehmen.


Ein Jahr zuvor

Stöhnend ließ Leo ihren Kopf auf den Tisch sinken. Eben hatte sie ihre Matheklausur zurückbekommen. Die rote 5 prangte gut leserlich unter ihren Formeln, die mehr auf gut Glück als auf Wissen basierten. Mit Mathematik hatte sie schon seit jeher auf Kriegsfuß gestanden, doch nun befand sie sich kurz vor dem Abitur. Wenn sie ihr Ziel, Philosophieautorin zu werden, in die Tat umsetzen wollte, musste sie in diesem Fach gute Noten schreiben, egal ob sie das verhasste Fach später einmal brauchen würde oder nicht.
Tanja, ihre Banknachbarin und Freundin, legte tröstend einen Arm um sie. „Komm, das wird schon. Du bist doch nicht auf den Kopf gefallen. Weiß du was? Wir heuern einen Nachhilfelehrer an, der dir das auch verständlich rüberbringen kann. Kein Wunder, dass du das beim letzten Idioten nicht verstanden hast. Und jetzt gehen wir erst mal zu Starbucks, das hast du dir verdient.“
Leo schüttelte deprimiert den Kopf. „Ist schon okay“, sagte sie. „Geh ruhig schon mal vor, ich will gerade noch mal mit Babbelbacke reden.“
Die Bezeichnung hatte sich zwischen den beiden für ihren Mathelehrer eingebürgert, nachdem der einige Male versucht hatte, sie vor der Tafel durch ihre Unwissenheit lächerlich zu machen.
„Wenn du meinst dass es was bringt. Ich warte dann unten auf dich“, sagte Tanja und verließ mit den anderen Schülern der Klasse den Raum. Nachdem der Letzte die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm sie noch einmal tief Luft und trat zum Lehrerpult vor, hinter dem ihr Lehrer saß und sich Notizen machte. Sie räusperte sich. „Ähm… entschuldigung?“, sagte sie. „Könnte ich kurz mit ihnen sprechen?“
Ihr Mathelehrer, ein untersetzter Mann Ende fünfzig, sah zu ihr auf. Sein glasiger Blick fuhr nur kurz zu ihrem Dekollete hinab, um dann wieder Kontakt zu ihren Augen aufzunehmen. Leo verkniff sich mit Mühe eine bissige Bemerkung und hielt stattdessen ihre Klausur hoch. „Ich verstehe nicht, ich meine… ich finde nicht, dass die Klausur eine fünf rechtfertigt. Ich habe doch wirklich genug…“
„Frau Krämer“, unterbrach der Lehrer sie schroff. „Ich wüsste nicht wozu diese Unterhaltung führen sollte. Ich habe sie mehrmals darauf aufmerksam gemacht, dass sie das Abitur nicht bestehen werden, wenn sie nicht beginnen, sich ernsthaft mit dem Stoff auseinanderzusetzen.“
„Aber…“, begann Leo hilflos vor Wut, während er sich ein Tuch aus seiner Hosentasche zog und sich den Schweiß von seinem Gesicht wischte. Danach steckte er das Tuch weg und legte seine geschwollenen Finger um seinen Wohlstandsbauch, der sein Hemd zu sprengen drohte.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, der vernehmlich knarrte, und sah sie aufmerksam an.
„Ich weiß einfach nicht was ich tun kann. Ich würde alles… ich meine, ich habe schon einen Nachhilfelehrer gehabt, aber der konnte mir auch nicht weiterhelfen. Es ist ja nicht so dass ich nicht will.“
Es herrschte einen Augenblick Stille im Raum, in der ihr Lehrer sie eingehend betrachtete.
„Sie wollen studieren. Das ist mir zu Ohren gekommen. Ihnen ist schon klar dass sie einiges tun müssten, um ihre Note in diesem Fach so dramatisch zu verbessern, damit ihnen das gelingt?“ Er hatte den letzten Satz als Frage formuliert.
In ihrem Eifer fuhr Leo fort:“ Ja, ich würde wirklich alles tun. Wenn sie mir irgendwie helfen könnten. Ich könnte Zusatzarbeiten…“
Er winkte ab und schüttelte dabei den Kopf. Er lehnte sich vor und verschränkte seine Arme auf dem Lehrerpult. Der Stuhl quietschte dabei gequält. „Ich meinte vielmehr“, fuhr er fort, „ wenn sie bereit sind alles für eine bessere Note zu tun, um somit studieren zu können“, betonte er, „dann müssten sie eventuell persönlich zu mir kommen. Das würde ihnen sicherlich helfen ihre Note drastisch zu verbessern.“
Leo fühlte sich, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Er hatte den Satz absichtlich vieldeutig ausgedrückt um eventuelle Konsequenzen zu vermeiden. Doch ihr war absolut klar, vor welche Wahl er sie gerade gestellt hatte. Fieberhaft überlegte sie, wie sie nun am besten reagieren sollte. Eine zu lange Pause durfte sie sich nicht gestatten.
„Ich… könnten sie mir ihre Adresse geben?“, fragte sie, und konnte selbst nicht glauben, was sie da gerade gesagt hatte. Er nahm einen Stift zur Hand und notierte ihr die nötigen Daten. Mit den Worten: „ Heute um sieben Uhr“, überreichte er ihr den Zettel und begab sich damit wieder zu seinen Notizen. Das Gespräch war für ihn beendet.
Leo steuerte wie betäubt die Tür an und machte sich auf den Weg zum Schulhof. Sie würde niemals zu ihm gehen, sagte sie sich, während sie den Zettel in ihre Hosentasche steckte.

Leo saß über ihrem Hausaufgabenheft, doch mit der Konzentration würde es heute nichts mehr werden. Nachdenklich spielte sie an einem Eselsohr in ihrem Chemiebuch herum.
`Es geht hier um meine Zukunft. Die Uni würde mich mit meinen Noten sofort nehmen, wenn ich dann auch endlich eine gute Mathenote vorzuweisen hätte. Es kann doch nicht so schlimm sein`, versuchte sie sich einzureden.
`Letzten Endes bist du danach praktisch noch immer Jungfrau, mit Sex hat das alles doch nichts zu tun. Mein wirkliches erstes Mal habe ich dann mit dem Mann, den ich liebe.`

Sie konnte es noch immer nicht glauben. Sie kam sich vor wie in einem Traum, es war nicht Wirklich was sie tat. Um kurz nach sieben Uhr abends stand sie vor dem stattlichen Haus ihres Mathelehrers und klingelte an dessen Tür. Die wurde kurz nach ihrem Läuten geöffnet. Als er vor ihr stand wäre sie am liebsten sofort wieder umgekehrt, hielt sich jedoch den Preis für ihr Tun zwanghaft vor Augen. Er reichte ihr seine Hand, sie war feucht und warm, um ihr Kommen für eventuelle Beobachter einen offiziellen Anstrich zu geben. „Es freut mich sie begrüßen zu dürfen“, sagte er und trat einen Schritt zurück um ihr die Tür aufzuhalten.
Sie trat ein und blickte sich im Flur um, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Das wichtigste war ihr die Ablenkung. Sie konnte und wollte nicht in sein Gesicht sehen, dass er sich in diesem Moment wieder mit einem Tuch abwischte und auch über seine fettige Halbglatze fuhr.
„Treten sie ein“, sagte er und ging vor ihr in sein Wohnzimmer. Die Gardinen waren zugezogen, was sie vor den Blicken der Passanten schützen mochte, jedoch genug Licht einließ, um ihn noch genau zu erkennen. Viel zu genau. Während er sich auf einen Sessel setzte, betrachtete sie das Wohnzimmer, als sei es mit den wertvollsten Antiquitäten bestückt. Sie wollte den Moment, der bald kommen würde, so lange wie möglich hinauszögern, auch wenn ihr bewusst war, dass er letzten Endes unausweichlich war.
„Frau Krämer“, hörte sie ihn hinter sich sagen. Sie drehte sich um, plötzliche Übelkeit überkam sie. `Reiß dich zusammen!`, befahl sie sich eisern, und schaute ihn an. Mit einem widerlich anzüglichen Grinsen öffnete er seinen Reißverschluss und sagte:“ Ich denke, bei ihrer Note kann ich etwas unternehmen. Kommen sie doch näher.“
Leo schloss kurz die Augen, um ihre Übelkeit und den Schwindel, der hinzugekommen war, zu überwinden, und atmete einmal tief durch. Dann machte sie sich innerlich bereit und trat auf ihn zu.


Heute

Helmut, Leos damaliger Mathelehrer, war nun endlich in seiner wohlverdienten Rente. Er hatte sich, zusammen mit seiner Frau, ein Haus an der Ostsee gekauft, was schon lange sein Traum gewesen war. Hier wollte er sein restliches Leben in vollen Zügen genießen. Kürzlich erst hatte er einen großen Bericht in der Zeitung gelesen, der landesweite Schlagzeilen gemacht hatte. Eine junge Studentin, die anonym behandelt wurde, hatte in einem Wohnheim Selbstmord nach einer brutalen Vergewaltigung, wie die Medien schrieben, begangen.
Helmut lehnte sich in seinem Stuhl auf der Veranda zurück und genoss die Abendsonne. Mit solchen Problemen der aufsässigen Schüler musste er sich zum Glück nicht mehr herumschlagen.



ENDE
 

Symphonie

Mitglied
Es war später Nachmittag im Studentenwohnheim. Auf den Gängen standen einige Kommilitonen in Grüppchen zusammen. Über die Unterhaltungen hinweg, die sich um die meist typischen Themen wie den Ärger über den Professor oder die Pläne für das kommende Wochenende handelten, war hin und wieder ein Lachen zu hören. Sonst war es relativ ruhig.
Und gerade wegen dieser Ruhe war der Schrei aus einem der hinteren Zimmer des Ganges deutlich zu hören. Der Schrei einer Frau, zu dem sich bald eine männliche Stimme gesellte, die ebenso laut, wenn nicht lauter war.
Die Köpfe der ca. 15 Studenten auf dem Gang ruckten gleichzeitig, einer Choreografie ähnlich, zu der unerwarteten Geräuschquelle herum. Aus welchem Zimmer die Stimmen kamen war schwer auszumachen, und auch, worum es ging, da sich die weibliche Stimme mehrfach überschlug. Auch, ob es sich bei ihr um Rage oder Angst handelte, war nicht auszumachen.
Einige der Kommilitonen tauschten Blicke. Der erste Schreck war schnell der Neugier gewichen, und vielleicht wusste ja der Stehnachbar, worum es ging.
Als diese jedoch in ebenso verwunderte Gesichter blickten, wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Ende des Ganges zu.
Die Neugier wurde ein wenig befriedigt, als eine Tür aufgerissen wurde und eine junge Frau weinend den Gang hinunter rannte. Obwohl sie ihre aufgeknöpfte Bluse mit ihren Händen um sich geschlungen hatte, schenkte sie der kleinen Menge im Gang keine Beachtung. Während sie laut schluchzend auf das Treppenhaus zusteuerte, löste sich Diana, eine der Studentinnen, mit einem Fluch aus der Gruppe, um der Flüchtenden, ihrer Freundin Leonie, zu folgen.
Nun wusste jeder, wem er die lauten Stimmen aus dem Zimmer zuzuordnen hatte.
Drei der Kommilitonen, zwei Männer und eine Frau, liefen an den Ort des Geschehens, dessen Tür noch weit geöffnet war. Die restlichen Studenten blieben ratlos stehen, tauschten jedoch sofort ihre Vermutungen aus.
Felix stand in seinem Zimmer. Ihm war deutlich anzusehen, dass er nicht wusste ob er bleiben oder Leonie folgen sollte. Sein sonst so gutaussehendes Gesicht war von Verwirrung und Schock gezeichnet.
"Alter", rief Tim, ein jahrelanger und guter Freund Felix`. "was geht`n ab?"
Tims saloppe Ausdrucksweise, war ein Teil seiner Art, das Leben nicht so ernst und auch mit seinen 22 Jahren vieles auf die leichte Schulter zu nehmen. Bei seinen Kommilitonen war er durch seine fast immer währende Fröhlichkeit und Ausgeglichenheit sehr beliebt. Vor allem die Frauen zog er damit fast magisch an, was er nicht bedauerte.
Nun, da sein Freund in offensichtlichen Schwierigkeiten steckte, auch wenn die Tragweite derer noch nicht klar zu erkennen war, zeigte seine Sprechweise, wie sehr sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen war, auch wenn nun Verwirrung in seinen Worten lag.
Julian, der neben Tim stand, wechselte einen schnellen Blick mit Tine, seiner Freundin. Julian und Tine waren ebenfalls Felix` Freunde, wenn auch nicht in einer so engen Beziehung wie es bei Tim der Fall war.
Tine wandte ihren Blick wieder Felix zu, der bis auf eine Boxershort unbekleidet war. Wut lag in ihrer Stimme, während sie in ihre hintere Hosentasche griff und ihr Handy herausholte. "Ich fass es nicht. Ich ruf jetzt die Polizei." Damit drehte sie sich um, um das Zimmer zu verlassen.
"Hey, bleib doch mal cool", rief Tim. "Du weißt doch garnicht was passiert ist."
Felix war nicht in der Lage sich zu verteidigen. Noch immer stand ihm der Schreck, nun aber auch Unsicherheit, ins Gesicht geschrieben.
"Ach nein?" schleuderte Tine zurück und zwängte sich durch die Gruppe Schaulustiger, die sich vor der Zimmertür versammelt hatte. Dann war sie verschwunden.
Julian, der ihr nachgeschaut hatte, bis sie nicht mehr in seinem Blickfeld war, schloss die Tür, um Felix vor der gaffenden Menge zu schützen.
"Okay, okay", sagte Julian und machte eine beschwichtigende Geste, die signalisieren sollte, sich erstmal zu beruhigen. "Was ist passiert?", fragte er. Seine ruhige und vertrauenserweckende Art, brachte Felix erstmals dazu, sein bisheriges Schweigen zu brechen.
"Ich weiß nicht... ich weiß es nicht", sagte Felix aufgebracht und lief ziellos und gehetzt durch sein Zimmer. Als wäre seine Kraft aus ihm gewichen, setzte er sich auf das Bett und legte sein Gesicht in seine Hände. Nun, da Tine das Zimmer verlassen hatte, konnte er sich wenigstens etwas entspannen. Natürlich war ihm klar, welche Schlussfolgerung sich jedem, der die Situation sah, aufdrängen musste. Doch die Tatsache, dass sich seine beiden Freunde die Geschichte in Ruhe anhören und erst dann vorurteilsfrei entscheiden würden was zu tun sei, beruhigte ihn. Er wusste dass Julian und Tim so handeln würden und das gab ihm zum ersten Mal das Gefühl von Sicherheit.
Seit jeher war Felix der Sunnyboy des Studentenheims gewesen. Offenheit, Charme und Humor lagen in seiner Ausstrahlung und durch sein gutes, gepflegtes Aussehen standen die jungen Damen Schlange bei ihm. Fest binden hatte er sich nie wollen, sein primäres Ziel Arzt zu werden, nahm seine Zukunftspläne zu sehr in Anspruch. Und dass der 23jährige sein Ziel erreichen würde, daran zweifelten weder seine Kommilitonen, noch seine Professoren. Die ein oder andere kurzweilige, romantische Liebesbeziehung konnte er jedoch nicht von der Hand weisen, womit er allerdings, im Gegensatz zu der jeweiligen begünstigten Kommilitonin, diskret umging.
Nun war von Felix` herzlicher Art nichts übrig geblieben. Das Gesicht noch immer in seinen Händen vergraben, war ihm der Schock noch immer deutlich anzusehen.
Tim zog sich einen Stuhl heran, auf den er sich verkehrt herum setzte, und ließ seinem Freund Zeit, sich erst einmal zu beruhigen. Auch Julian erkannte, dass er mit Drängen nicht weiterkommen würde und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand und fixierte lediglich seinen Kumpel.
Einige Minuten vergingen, in den nur hin und wieder Felix` aufgebrachtes Atmen zu hören war. Dann hob er seinen Kopf und sah unsicher zwischen Tim und Julian hin und her.
„Ihr glaubt doch nicht, was alle jetzt glauben werden, oder?“, fragte er gedämpft.
„Was sollen wir denn glauben?“, fragte Julian, der, im Gegensatz zu Tim, bereit war, härter mit Felix ins Gericht zu gehen, sollte sich die Vermutung, die er hegte, bestätigen.
„Ich… ich hab` nichts getan… wirklich nicht. Leonie ist mit mir auf`s Zimmer gegangen, wir waren die letzten Wochen viel zusammen. Das weißt du doch Tim“, sagte er und sah seinen Freund bittend an. Tim nickte lediglich, um ihn nicht am Weitersprechen zu hindern.
„Na ja…“, Felix stockte kurz. Nun ins Detail zu gehen war ihm vor seinen Freunden peinlich, doch die Situation forderte ihn dazu auf, sich zu verteidigen. Scham war da Fehl am Platz, Felix wusste das.
„Wir haben bisher noch nichts gehabt, aber es war klar, dass es irgendwann dazu kommen würde. Leonie war in mich verknallt, ein Blinder konnte das sehen. Ich wollt` ihr keine Hoffnungen machen, aber heute kam sie mit zu mir auf`s Zimmer und wollte mehr.“ Wieder flog sein Blick zwischen Tim und Julian hin und her. „Was hättet ihr denn gemacht?“, fragte Felix, um seinen Freunden klar zu machen, dass sich kein Mann ein bisschen Spaß entgehen lassen würden.

Tim konnte ihn gut verstehen. Die 19jährige Philosophiestudentin war eine der hübschesten Frauen des Wohnheims. Dass sie aus gutem Hause kam und eine entsprechende Erziehung genossen hatte, merkten die Menschen in ihrem Umkreis sofort. Stets pünktlich und pflichtbewusst ging sie ihrem Studium nach. Ihr engerer Freundeskreis kannte sie zudem als fröhliche und spontane junge Frau, die auch gern mal mit ihren Freunden eine Nacht durchfeierte. Wo ihre Grenzen lagen wusste sie jedoch, nie hätte man sie in einer unwürdigen, betrunkenen Situation erlebt. Leonie war eine kühle, attraktive Schönheit, die die Männer unbewusst anlockte, bei Avancen derselbigen jedoch schnell abblockte und schon mal mit Arroganz reagierte, wenn das männliche Geschlecht hartnäckig wurde. Mit ihren langen, blonden Haaren, ihrer hellen Haut und ihrer großen, schlanken Figur weckte sie oft Assoziationen zu den unterkühlten Skandinavierinnen, deren Abstammung sie jedoch nicht teilte.
Vor einem halben Jahr war sie in das Wohnheim gezogen und teilte sich das Zimmer fortan mit Diana. Die Chemie hatte von Anfang an gestimmt, und schon bald war eine innige Freundschaft zwischen ihr und Diana, der 20jährigen Mathematikstudentin entstanden. Schnell war ihr Felix ins Auge gefallen. Er war einer der attraktivsten Männer, die sie in ihrem bisherigen Leben gesehen hatte. Von seinem gut gebauten, schlanken Körper, seinen blonden Strähnen die ihm nachlässig ins Gesicht fielen und vor allem von seinem natürlichen Charme fühlte sie sich extrem angezogen. Sie hatte bisher kaum Erfahrungen mit Männern gemacht und war daher umso verwirrter, als der Charmeur sie fortan sogar in ihren intimsten Träumen besuchte.
Durch ihre gute Bekanntschaft ihrer Zimmernachbarn Julian und Tine, die schon ein Paar waren als sie in das Wohnheim gezogen war, hatte sie Felix persönlich kennenlernen dürfen und ärgerte sich nach dem ersten Zusammentreffen umso mehr über sich selbst, da sie unsicher herumgestottert hatte, nachdem Felix sie unverbindlich angesprochen hatte. War sie denn nicht mehr in der Lage, zwei zusammenhängende Sätze zu sprechen, nur weil Felix sie nach ihrem Studium gefragt hatte? Wo war die toughe, selbstbewusste Leo geblieben?
Schon eine Woche später musste Leo sich eingestehen, dass sie sich in den „Aufreißer“, wie sie ihn im Stillen oft nannte, verliebt hatte. Ihr war nicht entgangen, dass er stets von weiblicher Gesellschaft umringt war, deren flüchtigen Körperkontakt er auch auf dem Universitätsgelände nicht scheute. Fortan setzte sie viel daran, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Dass andere Kommilitoninnen ihn umarmten oder sich (wie billig) sogar in aller Öffentlichkeit an ihn schmiegten, gab ihr einen Stich ins Herz, was sie zwar verwirrte, aber auch zu Ehrgeiz anstachelte.
Diana merkte schnell was in ihrer Freundin vorging und riet ihr von Felix ab. „Für eine Nacht bist du dir zu schade“, sagte sie ihr eines Abends, während sie mit einer Tüte Chips auf ihrem Bett saßen. „Du solltest dir einen Mann suchen, der es ernst mit dir meint, das kannst du von Felix nicht erwarten.“ Diana sah in Leos bedrücktes Gesicht und versuchte vorsichtiger fortzufahren: „Ich meine, er is` nicht verkehrt und als Kumpel bestimmt super, aber als dein Freund? Ich mein` wir leben nicht mehr in den Fünfzigern, aber gerade an deiner Stelle würde ich mir jemanden suchen, der an etwas ernstem interessiert ist.“
Diana hatte das in dem Bewusstsein gesagt, dass Leo noch Jungfrau war und auf „den Richtigen“ warten wollte.
Leo hatte nur mit den Schultern gezuckt und geschwiegen. Sie wusste dass ihre Freundin Recht hatte und ihr nur einen guten Ratschlag hatte geben wollen, doch gegen ihre Gefühle war sie machtlos.
Einige Tage später fasste Leo sich ein Herz und sprach ihn im Gang des Wohnheims an, als er gerade von einem Fußballspiel mit seinen Kumpels zurückkam. Der Augenblick war günstig, da er allein war, auf dem Weg in sein Zimmer. Als sie ihn in seinem durchgeschwitzten T-Shirt sah, versuchte sie, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Warum musste der Kerl auch so verdammt gut aussehen?
„Hi“, sagte sie so ungezwungen wie es ihr in diesem Moment möglich war. „Sag mal… hast du Lust morgen was mit mir zu machen? Also, ich mein, so, also nich`… nur so, falls du magst.“ Innerlich schlug sie ihre Hand mehrmals an ihre Stirn, doch sie durfte sich jetzt bloß nichts anmerken lassen. Wie blöd konnte man sein?
Felix grinste sie mit einem verschmitzten Lächeln an, und hätte sie mehr Erfahrung mit Männern gehabt, hätte sie sofort gemerkt, dass er sie durchschaut hatte. Seine Erfahrungen mit Frauen lagen um viele Level höher, und er erkannte ein verliebtes Mädchen, wenn es vor ihm stand. Freundlich sagte er:“ Sicher. Worauf hättest du denn Lust?“
„Keine Ahnung… ich weiß nicht“, erwiderte Leo schüchtern, und wieder klatschte ihre Hand gedanklich gegen ihre Stirn.
„Dann muss ich wohl übernehmen“, erwiderte Felix lächelnd, und ließ somit Leos Knie weich werden.
„Lass uns morgen ins Kino gehen… nur so, falls du magst“, gab er in Leos vorheriger Formulierung zurück.
„Okay“, war alles, was Leo erwidern konnte.
„Dann bis morgen“, sagte Felix, zwinkerte ihr schelmisch zu und verschwand in seinem Zimmer.
Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, und sie nun allein im Gang war, ließ sie ihre Hand tatsächlich gegen ihre Stirn klatschen. „Mein Gott, wie alt bin ich denn!? Bist du nicht in der Lage dich mal zusammenzureißen?“ flüsterte Leo aufgebracht. Doch schon im nächsten Moment gewann die Freude über ihr gelungenes Vorhaben die Oberhand, und sie lief euphorisch in ihr Zimmer, schon mit der Überlegung beschäftigt, was sie morgen anziehen solle.
Obwohl sie am nächsten Tag fremdes Gebiet betrat, war dieser einer der bisher schönsten in ihrem Leben. Im Kino hatte Felix sie in ihren Arm genommen und Leo verbrachte den Film angekuschelt an seiner Seite. Danach waren sie in der Altstadt spazieren gegangen und Leo fragte sich, wie sie nur so nervös hatte sein können. Felix war einer der nettesten Menschen, die sie bisher kennengelernt hatte. Sein natürlicher Humor brachte sie immer wieder zum Lachen, und sein sympathischer Charme lud sie dazu ein sich während des Spaziergangs an ihn zu schmiegen. Sie kamen an diesem Abend spät ins Wohnheim zurück, der Gang war leer. Vor der Tür gab er ihr einen sanften Kuss, den sie nur zu gern erwiderte. Felix hatte schnell gemerkt, dass sie noch unerfahren war, und ging daher sachte vor.
In den folgenden Wochen trafen sich Felix und Leo regelmäßig, und obwohl er keine Äußerungen zu einer Beziehung von sich gab, war Leo überglücklich. Natürlich hätte sie sich eine Beziehung mit ihm gewünscht, doch allein die immer intimer werdende Nähe zu ihm, erfüllte sie mit einem riesigen Glücksgefühl. Diana, sowie Tine und Julian, verfolgten die Situation äußerst skeptisch. Ihnen war klar, dass Felix ihr früher oder später das Herz brechen würde, doch für solche Gespräche war sie fortan nicht mehr zugänglich.
Erst wenige Tage zuvor hatte Tine sie darauf aufmerksam gemacht, dass sie ihn mit einer anderen Studentin zusammen gesehen hatte. Sie hatten sich geküsst. Als Leos Freundin sah sie sich verpflichtet ihr das mitzuteilen und ihr somit die Augen zu öffnen. Leo hatte, allen Erwartungen Tines zum Trotz, wütend reagiert und ihr vorgeworfen zu lügen um einen Keil zwischen ihr und ihm zu treiben. Tine erwiderte nichts mehr darauf und schnitt das Thema auch nicht mehr an. Natürlich lag ihr Leos Wohl am Herzen, doch als Lügnerin ließ sie sich nicht betiteln. Sollte sie doch sehen was sie in spätestens zwei Monaten davon hatte!
Doch dass es so kam, das hatte sie nicht gewollt. Nun rannte sie den Gang hinunter und durch das Treppenhaus in die untere Etage, das Handy an ihrem Ohr. Während sie einem Polizisten am anderen Ende der Leitung erklärte was geschehen war, steuerte sie Leos Zimmer an, vor deren verschlossener Tür schon Diana stand und dagegenschlug.

„Leo wollte mit mir schlafen. Das hat sie so gesagt,als wir hier im Zimmer waren“, flüsterte Felix niedergeschlagen, während sein Blick nun auf dem Boden verweilte.
„Und so kam`s dann wie`s kommen musste. Wir haben uns halt hier hingelegt und… hey mann, sie wollte es wirklich“, fuhr Felix auf, nachdem er hochgeschaut und Julians Blick aufgefangen hatte.
„Erzähl einfach ma` weiter“, sagte Julian kühl, seine Arme noch immer verschränkt.
„Sie hat mich ausgezogen. Sie – mich“, wiederholte Felix überdeutlich. „Und als ich dann ihre Bluse aufgeknöpft hab`, is` sie total ausgeflippt und hat mir eine gescheuert. Ich hab` sie gefragt was denn los sei, ich mein` ich hab echt nix mehr kapiert, aber da hat sie mich schon weggestoßen und wollte zur Tür rennen. Ich mein, ich musste sie ja aufhalten, nur im BH konnte ich sie ja schlecht über den Flur laufen lassen, oder? Ich weiß nich` was sie da dachte, als ich sie festgehalten hab, aber sie fing an rumzuschreien und ich musste auch lauter werden um überhaupt zu raffen was los is`. Da wurde sie hysterisch und ich hab sie losgelassen weil ich mir dachte, lieber lass ich sie laufen, als dass du dir wie ein Vergewaltiger vorkommst. Und dann ist sie einfach rausgerannt… den Rest kennt ihr ja.“
Nachdem Felix seine Erklärung beendet hatte, war es einige Zeit still im Zimmer. Felix starrte wieder den Teppich an, als würde der ihm eine Erklärung liefern können, um dann sein Gesicht wieder in den Händen zu vergraben.
„Ich glaube dir“, sagte Tim, die Stille jäh unterbrechend.
Er sah Julian an, seine Reaktion abwartend. Julian nickte. Seine Mimik verriet nichts. Dann ging er abrupt Richtung Ausgang um seiner Freundin zu folgen. Während er die Tür öffnete und sie hinter sich schloß, war deutlich das laute Stimmengewirr auf dem Flur zu hören. Es mussten inzwischen weitaus mehr Kommilitonen auf dem Gang stehen, als es vor wenigen Minuten noch der Fall gewesen war. Der Grund dafür war klar. Das Vorkommnis hatte viele Neugierige und Schaulustige angelockt, die wissen wollten was nun geschah.

Der Tag sollte in einer Katastrophe enden. Nachdem ein Polizist die Tür zu Leos Zimmer aufgebrochen hatte, fand man sie im kleinen, angrenzenden Badezimmer. Das Blut lief bereits unter der geschlossenen Tür hindurch, und der angeforderte Rettungsarzt konnte nur noch Leos Tod feststellen. Während Dianas Schreie über den Gang zu hören waren, wurde Felix von einem Polizisten abgeführt um seine Aussage aufzunehmen. Trotz seiner Beteuerungen nichts getan zu haben, wurde er in Untersuchungshaft genommen.
Monate später, nachdem auch die Medien das Thema ausgeschlachtet und Felix als brutalen Vergewaltiger angeprangert hatten, wurde er von der Staatsanwaltschaft aus Mangel an Beweisen freigesprochen. An Leonies Körper waren durch die Obduktion – bis auf ihren Selbstmord – keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung festgestellt worden.
Felix brach sein Studium nach der Freisprechung ab. Nichts erinnerte mehr an den alten Felix, der er vor wenigen Monaten noch gewesen war. Er war ein Schatten seiner Selbst geworden, gebrochen vor allem durch die feindseligen und blutrünstigen Vorwürfe der Medien. Auch wenn der Richter von seiner Unschuld überzeugt war, die Öffentlichkeit war es nicht. Und so sah er sich gezwungen unterzutauchen, denn die Anprangerung eines Vergewaltigers konnte er nicht ertragen. Schon bald musste er psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, denn dies war definitiv kein lebenswertes Leben mehr für ihn. Sein Studium sollte er nie wieder aufnehmen.


Ein Jahr zuvor

Stöhnend ließ Leo ihren Kopf auf den Tisch sinken. Eben hatte sie ihre Matheklausur zurückbekommen. Die rote 5 prangte gut leserlich unter ihren Formeln, die mehr auf gut Glück als auf Wissen basierten. Mit Mathematik hatte sie schon seit jeher auf Kriegsfuß gestanden, doch nun befand sie sich kurz vor dem Abitur. Wenn sie ihr Ziel, Philosophieautorin zu werden, in die Tat umsetzen wollte, musste sie in diesem Fach gute Noten schreiben, egal ob sie das verhasste Fach später einmal brauchen würde oder nicht.
Tanja, ihre Banknachbarin und Freundin, legte tröstend einen Arm um sie. „Komm, das wird schon. Du bist doch nicht auf den Kopf gefallen. Weiß du was? Wir heuern einen Nachhilfelehrer an, der dir das auch verständlich rüberbringen kann. Kein Wunder, dass du das beim letzten Idioten nicht verstanden hast. Und jetzt gehen wir erst mal zu Starbucks, das hast du dir verdient.“
Leo schüttelte deprimiert den Kopf. „Ist schon okay“, sagte sie. „Geh ruhig schon mal vor, ich will gerade noch mal mit Babbelbacke reden.“
Die Bezeichnung hatte sich zwischen den beiden für ihren Mathelehrer eingebürgert, nachdem der einige Male versucht hatte, sie vor der Tafel durch ihre Unwissenheit lächerlich zu machen.
„Wenn du meinst dass es was bringt. Ich warte dann unten auf dich“, sagte Tanja und verließ mit den anderen Schülern der Klasse den Raum. Nachdem der Letzte die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm sie noch einmal tief Luft und trat zum Lehrerpult vor, hinter dem ihr Lehrer saß und sich Notizen machte. Sie räusperte sich. „Ähm… entschuldigung?“, sagte sie. „Könnte ich kurz mit ihnen sprechen?“
Ihr Mathelehrer, ein untersetzter Mann Ende fünfzig, sah zu ihr auf. Sein glasiger Blick fuhr nur kurz zu ihrem Dekollete hinab, um dann wieder Kontakt zu ihren Augen aufzunehmen. Leo verkniff sich mit Mühe eine bissige Bemerkung und hielt stattdessen ihre Klausur hoch. „Ich verstehe nicht, ich meine… ich finde nicht, dass die Klausur eine fünf rechtfertigt. Ich habe doch wirklich genug…“
„Frau Krämer“, unterbrach der Lehrer sie schroff. „Ich wüsste nicht wozu diese Unterhaltung führen sollte. Ich habe sie mehrmals darauf aufmerksam gemacht, dass sie das Abitur nicht bestehen werden, wenn sie nicht beginnen, sich ernsthaft mit dem Stoff auseinanderzusetzen.“
„Aber…“, begann Leo hilflos vor Wut, während er sich ein Tuch aus seiner Hosentasche zog und sich den Schweiß von seinem Gesicht wischte. Danach steckte er das Tuch weg und legte seine geschwollenen Finger um seinen Wohlstandsbauch, der sein Hemd zu sprengen drohte.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, der vernehmlich knarrte, und sah sie aufmerksam an.
„Ich weiß einfach nicht was ich tun kann. Ich würde alles… ich meine, ich habe schon einen Nachhilfelehrer gehabt, aber der konnte mir auch nicht weiterhelfen. Es ist ja nicht so,dass ich nicht will.“
Es herrschte einen Augenblick Stille im Raum, in der ihr Lehrer sie eingehend betrachtete.
„Sie wollen studieren. Das ist mir zu Ohren gekommen. Ihnen ist schon klar dass sie einiges tun müssten, um ihre Note in diesem Fach so dramatisch zu verbessern, damit ihnen das gelingt?“ Er hatte den letzten Satz als Frage formuliert.
In ihrem Eifer fuhr Leo fort:“ Ja, ich würde wirklich alles tun. Wenn sie mir irgendwie helfen könnten. Ich könnte Zusatzarbeiten…“
Er winkte ab und schüttelte dabei den Kopf. Er lehnte sich vor und verschränkte seine Arme auf dem Lehrerpult. Der Stuhl quietschte dabei gequält. „Ich meinte vielmehr“, fuhr er fort, „ wenn sie bereit sind alles für eine bessere Note zu tun, um somit studieren zu können“, betonte er, „dann müssten sie eventuell persönlich zu mir kommen. Das würde ihnen sicherlich helfen ihre Note drastisch zu verbessern.“
Leo fühlte sich, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Er hatte den Satz absichtlich vieldeutig ausgedrückt um eventuelle Konsequenzen zu vermeiden. Doch ihr war absolut klar, vor welche Wahl er sie gerade gestellt hatte. Fieberhaft überlegte sie, wie sie nun am besten reagieren sollte. Eine zu lange Pause durfte sie sich nicht gestatten.
„Ich… könnten sie mir ihre Adresse geben?“, fragte sie, und konnte selbst nicht glauben, was sie da gerade gesagt hatte. Er nahm einen Stift zur Hand und notierte ihr die nötigen Daten. Mit den Worten: „ Heute um sieben Uhr“, überreichte er ihr den Zettel und begab sich damit wieder zu seinen Notizen. Das Gespräch war für ihn beendet.
Leo steuerte wie betäubt die Tür an und machte sich auf den Weg zum Schulhof. Sie würde niemals zu ihm gehen, sagte sie sich, während sie den Zettel in ihre Hosentasche steckte.

Leo saß über ihrem Hausaufgabenheft, doch mit der Konzentration würde es heute nichts mehr werden. Nachdenklich spielte sie an einem Eselsohr in ihrem Chemiebuch herum.
`Es geht hier um meine Zukunft. Die Uni würde mich mit meinen Noten sofort nehmen, wenn ich dann auch endlich eine gute Mathenote vorzuweisen hätte. Es kann doch nicht so schlimm sein`, versuchte sie sich einzureden.
`Letzten Endes bist du danach praktisch noch immer Jungfrau, mit Sex hat das alles doch nichts zu tun. Mein wirkliches erstes Mal habe ich dann mit dem Mann, den ich liebe.`

Sie konnte es noch immer nicht glauben. Sie kam sich vor wie in einem Traum, es war nicht Wirklich was sie tat. Um kurz nach sieben Uhr abends stand sie vor dem stattlichen Haus ihres Mathelehrers und klingelte an dessen Tür. Die wurde kurz nach ihrem Läuten geöffnet. Als er vor ihr stand wäre sie am liebsten sofort wieder umgekehrt, hielt sich jedoch den Preis für ihr Tun zwanghaft vor Augen. Er reichte ihr seine Hand, sie war feucht und warm, um ihr Kommen für eventuelle Beobachter einen offiziellen Anstrich zu geben. „Es freut mich sie begrüßen zu dürfen“, sagte er und trat einen Schritt zurück um ihr die Tür aufzuhalten.
Sie trat ein und blickte sich im Flur um, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Das wichtigste war ihr die Ablenkung. Sie konnte und wollte nicht in sein Gesicht sehen, dass er sich in diesem Moment wieder mit einem Tuch abwischte und auch über seine fettige Halbglatze fuhr.
„Treten sie ein“, sagte er und ging vor ihr in sein Wohnzimmer. Die Gardinen waren zugezogen, was sie vor den Blicken der Passanten schützen mochte, jedoch genug Licht einließ, um ihn noch genau zu erkennen. Viel zu genau. Während er sich auf einen Sessel setzte, betrachtete sie das Wohnzimmer, als sei es mit den wertvollsten Antiquitäten bestückt. Sie wollte den Moment, der bald kommen würde, so lange wie möglich hinauszögern, auch wenn ihr bewusst war, dass er letzten Endes unausweichlich war.
„Frau Krämer“, hörte sie ihn hinter sich sagen. Sie drehte sich um, plötzliche Übelkeit überkam sie. `Reiß dich zusammen!`, befahl sie sich eisern, und schaute ihn an. Mit einem widerlich anzüglichen Grinsen öffnete er seinen Reißverschluss und sagte:“ Ich denke, bei ihrer Note kann ich etwas unternehmen. Kommen sie doch näher.“
Leo schloss kurz die Augen, um ihre Übelkeit und den Schwindel, der hinzugekommen war, zu überwinden, und atmete einmal tief durch. Dann machte sie sich innerlich bereit und trat auf ihn zu.


Heute

Helmut, Leos damaliger Mathelehrer, war nun endlich in seiner wohlverdienten Rente. Er hatte sich, zusammen mit seiner Frau, ein Haus an der Ostsee gekauft, was schon lange sein Traum gewesen war. Hier wollte er sein restliches Leben in vollen Zügen genießen. Kürzlich erst hatte er einen großen Bericht in der Zeitung gelesen, der landesweite Schlagzeilen gemacht hatte. Eine junge Studentin, die anonym behandelt wurde, hatte in einem Wohnheim Selbstmord nach einer brutalen Vergewaltigung, wie die Medien schrieben, begangen.
Helmut lehnte sich in seinem Stuhl auf der Veranda zurück und genoss die Abendsonne. Mit solchen Problemen der aufsässigen Schüler musste er sich zum Glück nicht mehr herumschlagen.



ENDE
 



 
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