Drei Lehren

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HFleiss

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Drei Lehren


Damals, im Februar 1945, wusste ich noch nicht, dass die Sirene, die mir durch Mark und Bein ging und die mich jedesmal erzittern ließ, uns vor Bomben warnte. Meine Mutter, wenn sie mich wach machte, weil sich nächtens Bomber über Hamburg und Hannover der Reichshauptstadt näherten, beschwor mich, um mich munter zu machen: „Fliegeralarm, Kind, Fliegeralarm!“ Einmal soll ich, während sich meine Mutter mit meiner jüngeren Schwester beschäftigte, die noch im Kinderwagen lag, während des Alarms alle Schnürsenkel aus meinen Stiefelchen herausgezogen haben, und wie ich meine Mutter kannte, hatte sie mir nicht nur einen Katzenkopf gegeben in ihrer Aufregung. Später, als die Reichshauptstadt nicht mehr Reichshauptstadt hieß, sondern nur noch Berlin, aber noch nicht Ost- oder Westberlin, erzählte sie uns wieder und wieder davon und atmete immer noch auf, dass sie es mit uns Kindern dennoch in den Bunker geschafft hatte, ehe die Bomben fielen.

Im Februar 1945 muss es auch gewesen sein, die Sirenen begannen wieder mal zu heulen, und von der Treppe klangen trampelnde Schritte der Nachbarn, die in den Keller stürzten. Auf Anraten meiner Großmutter, die selbst nur in den Luftschutzkeller ging – aus Faulheit, sagte sie, wen die Bomben treffen wollen, den treffen sie -, musste meine Mutter mit uns Kindern bis zum Bunker laufen, der Keller in dem altersschwachen Haus schien nicht Schutz genug. Von unserem Haus, das bisher jedem Bombenangriff getrotzt hatte, vielmehr hatten es die Bomben nicht entdeckt, waren es zweihundert Meter bis zum Bunker an der Ecke Müllerstraße-Reinickendorfer Straße. Mit fliegenden Händen hing mir meine Mutter den Kinderrucksack über die Schulter, in dem sich ein bisschen Kleidung für mich befand, und die Kennkarte um den Hals, und ich weiß noch, dass ich nicht nur Angst vor den Sirenen hatte, sondern auch vor meiner Mutter. Bei Fliegeralarm konnte es schnell etwas setzen, meine Mutter war dann nicht ansprechbar, mit der flachen Hand ins Gesicht, meist auf die Nase, was sehr schmerzhaft war. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob Leute neben uns zum Bunker rannten, aber wir rannten: Meine Mutter schob den Kinderwagen, in dem alles lag, was wir für ein paar Tage Bunkeraufenthalt brauchten. Wir ahnten nicht, dass wir bis Kriegsende den Bunker nicht mehr verlassen könnten. Meine Schwester lag auf unserem Hausrat, und meine Mutter passte auf, dass sie während des schnellen Laufens nicht aus dem Kinderwagen fiel. Ich musste mich mit einer Hand am Kinderwagen festhalten, aber meine Mutter rannte so schnell, dass ich plötzlich atemlos aufs Straßenpflaster fiel, in den Schnee, der nicht weiß, sondern erstaunlicherweise rosa war, vom Widerschein des roten Himmels, die Stadt brannte noch vom letzten Bombenangriff. Ich griff in den Schnee, weil ich glaubte, dass man ihn essen konnte, so schön, wie er aussah. Bis mich die Hand meiner Mutter hochriss und mich ihre erschreckte Stimme anfuhr, ob ich des Teufels sei. Dies ist meine allererste, von meiner Mutter beglaubigte Erinnerung.

Aber wirklich genau, so als hätte ich diesen Tag erst gestern erlebt, erinnere ich mich an den Tag, an dem wir aus dem Bunker kamen. Es war still, so still, dass ich glaubte, ich hörte meine Fingernägel wachsen. Stille kannte ich überhaupt nicht, solche furchterregende Stille schon gar nicht. Ich kannte nur Stimmengewirr und Sirenengeheul und das Krachen der Bomben auf den Bunker. Es war, als ob die Welt schliefe, erschöpft vom Morden. Kein Vogellaut, keine menschliche Stimme, nichts. Nur wir mühten uns über die Trümmer der Boyenstraße hin zur Scharnhorststraße, durch den Park am Nordhafen zu unserem Haus in der Sellerstraße. Meine Mutter hatte mir streng verboten, auch nur zu flüstern: „Willst du, dass uns der Russe hört?“ Ich wusste nicht, weshalb sie Angst vor dem Russen hatte, auch konnte ich mir unter einem Russen nichts Feindliches vorstellen. Für mich waren Soldaten eben Soldaten, egal, welche Uniform sie trugen. Soldaten konnten aus ihrem Gewehr schießen, und dann waren die Leute tot – ungefähr so hatte mir meine Großmutter den Krieg erklärt, nur wusste ich nicht, was das war: Krieg. Dass die Sirene und die Bomben dazugehörten, hatte sie mir nicht gesagt.

Es war sehr heiß an diesem Frühlingstag Mitte Mai, ich trug noch meinen Wintermantel, mit dem wir im Februar in den Bunker gerannt waren, ich schwitzte unter der Last der feuchten Windeln in meinem Rucksack, und ich begann, um meine Furcht vor der Stille zu vertreiben, zum Entsetzen meiner Mutter loszuplappern: Warum es so still war und warum hier überall Trümmer waren und warum hier keine Leute waren. Ein Schlag auf den Mund und das Blut, das aus meiner Nase tropfte, beendeten die Fragestunde. Der Frieden begann für mich mit einer Ohrfeige. Lehre Nummer eins.

Wir wohnten im Bezirk Wedding. In Berlin sagte man nicht „im Wedding“, sondern „am Wedding“. Jeder, der sagte, aha, du wohnst im Wedding, verriet sich, er war kein Berliner, er kam „aus der Provinz“. Woher der Name des Bezirks kam, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls ist der Wedding nicht nach dem englischen Wort für Hochzeit benannt, denn sonst, so dachte ich mir, hätten wir am Wedding wohl englische oder amerikanische Besatzung bekommen. Aber unsere Besatzer waren Franzosen.

Später, als man Berlin schon in West- und Ostberlin eingeteilt hatte, fand ich, dass unsere Straße, die Sellerstraße, beinahe die letzte Straße in Westberlin war, nur noch die nächste Querstraße, die Boyenstraße, gehörte zur Hälfte den Franzosen. Wirklich nur zur Hälfte: der linke Bürgersteig war französisch, der rechte mit dem Milchladen, mit dem ich mich anfreunden musste, weil mich meine Mutter nach dem Krieg dorthin mit der Milchkanne schickte, der rechte Bürgersteig gehörte zum Russensektor. Der angrenzende Russenbezirk war Berlin-Mitte, und das war die Stadtmitte mit dem Regierungsviertel, da war fast alles dem Erdboden gleichgemacht worden, ganze Straßenzüge, und der Wedding, der Berliner Arbeiterbezirk, war beinahe genauso schlimm bombardiert worden. Damals ließ man die Bomben ohne Sinn und Verstand aus den Schächten auf die Häuser fallen, doch inzwischen habe man Fortschritte gemacht, las ich neulich, und könne die Feinde endlich gezielt töten. Ich freundete mich nicht gern an mit dem Russensektor und dem Milchladen, wo man die Milch noch aus einer metallischen Vertiefung im Verkaufstresen schöpfte, mit Milchkellen für den viertel, den halben und den ganzen Liter. Nicht gern deshalb, weil ich an der zerbombten Schule in der Scharnhorststraße vorbei gehen musste. Vor den Russen hatte ich keine Angst. Vielmehr fürchtete ich mich vor der Ruine, denn in Ruinen, sagte mir meine Großmutter, trieben sich nur fremde Männer und der Werwolf herum. Die fremden Männer hielten Ausschau nach kleinen Mädchen mit Milchkannen, weil sie wussten, dass die kleinen Mädchen mit einer Hand das Milchgeld umkrampften. Und der Werwolf, den ich mir als den bösen Wolf aus „Rotkäppchen“ vorstellte, fraß bekanntlich am liebsten kleine Mädchen. Meine Großmutter wusste nicht, dass sie mir mit ihrer Warnung ein hübsches kleines Trauma eingepflanzt hatte. Immer, wenn ich durch die menschenleere und totenstille Scharnhorststraße ging, lauschte ich auf fremde Schritte und war heilfroh, wenn ich die Boyenstraße endlich erreichte.

In meiner Angst wählte ich einmal ohne Wissen meiner Mutter einen anderen Weg zum Milchladen. Ich lief die Sellerstraße hinunter, bog am Bunker in die Müllerstraße ein und wollte die Boyenstraße vom anderen Straßenende erreichen. Noch heute wundere ich mich, dass ich auf diesen Gedanken gekommen war, denn noch niemals war ich diesen Weg gegangen und niemand hatte ihn mir erklärt.

Aber ich kam nicht bis zur Boyenstraße. Vor dem Bunkereingang saß ein Mann auf der Straße, die Beine weit abgespreizt, vor ihm lag ein umgedrehter leerer Stahlhelm. Ich wollte an ihm vorbeigehen, aber er sah mich so auffordernd an, dass ich stehenblieb und ihn mir genau betrachten musste, denn noch niemals hatte ich einen erwachsenen Mann auf dem Straßenpflaster sitzen sehen. Sein Dortsitzen hatte etwas Ungehöriges, etwas, dessen Grund mich interessierte. Der Blick des Mannes strahlte etwas Freches, Ungezogenes aus, und ich traute mich, ihm die Zunge herauszustrecken.

„Ich komm dir gleich hin!“ Der Mann drohte mit der Faust.

Ich wich einen Schritt zurück. „Warum sitzt du hier auf der Straße?“, fragte ich ihn.

„Siehst du doch, ich bettle. Du hast doch Milchgeld bei dir, willst du es mir nicht geben?“

Der Mann kam mir verrückt vor: Ich konnte ihm doch nicht das Milchgeld geben, dafür musste ich doch Milch einkaufen! Ich zeigte ihm einen Vogel und wollte schon weitergehen.

Der Mann aber bekam mich am Arm zu fassen. „Willst du eine Puppe?“

Ich war sprachlos vor Staunen und musste nicht lange überlegen: Selbstverständlich wollte ich eine Puppe! Dennoch sagte ich: „Du hast ja gar keine Puppe!“

„Aber ich weiß, wo ich eine Puppe kaufen kann. Staunste, wat?“

„Gut, dann kauf mir eine Puppe!“ Der Mann kam mir plötzlich viel freundlicher vor.

„Die kostet aber was. Und ich kann sie dir erst am Abend bringen. Gib mir das Milchgeld, du sagst mir, wo du wohnst, und dann bring ich dir die Puppe rum.“

„Aber ich habe doch nur das Milchgeld. Eine Puppe ist doch viel teurer, so viel Geld haben wir nicht, sagt meine Mutter immer.“

Der Mann streckte schon die Hand aus: „Gib mir das Milchgeld, und du kriegst deine Puppe. Ehrenwort.“

Zögernd ließ ich die in Zeitungspapier eingewickelten Groschen in seine Hand fallen. Damals konnte ich nicht glauben, dass jemand, der so freigiebig mit seinem Ehrenwort umging, alles andere im Sinne hatte, als sich wie ein Ehrenmann zu benehmen.

Zu Hause setzte es böse Worte, weil ich ohne Milch ankam, und meine Mutter schimpfte mit der Großmutter, die mich verteidigte: „Dann schick doch das Kind nicht den weiten Weg. Setz deinen dicken Hintern doch selbst in Trab! Froh kannst du sein, dass sie wenigstens wieder hier ist!“

Am Abend wartete sehnsüchtig auf den Mann mit der Puppe. Ich sträubte mich, ins Bett zu gehen, ohne die versprochene Puppe. Großmutter machte ein geheimnisvolles Gesicht: „Die bringt dir der Weihnachtsmann.“ Erst nach dieser Versicherung ließ ich mich für das Bett fertigmachen.

Ich weiß bis heute nicht, ob es die Worte meiner Großmutter bewirkten oder das fehlende Vertrauen in mich oder die sparsame Haushaltung meiner Mutter – jedenfalls hatte sie sich die Sache überlegt und ich musste von diesem Tag ab niemals mehr Milch einkaufen gehen. Lehre Nummer zwei.

Aber ich zog noch eine Lehre aus der Kriegszeit. In späteren Jahren dröhnten immer mittwochs, Punkt dreizehn Uhr, die Fabriksirenen. Es waren dieselben Sirenen, die einst die Bewohner der Sellerstraße vor den Bomben warnten. Und jedesmal, sobald ich den ersten Heuler mitbekam, sträubten sich mir die Haare auf den Unterarmen. Ich konnte es mir nicht erklären, warum ich jetzt noch, mitten im Frieden, derart auf den Sirenenton reagierte. Bis ich die Geschichte mal meiner Großmutter erzählte.

„Ja, der Hitler“, sagte sie und strich mir mit ihrer alten Hand über den Arm, „der Unmensch, Kind, der hat sich auch an dir versündigt.“

Und dies, so glaube ich, ist die Lehre Nummer drei.

(2006)
 



 
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