Drei Tage

Rotbaum

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Sie stand am Fenster. Hinter den Häusern am Stadtrand ging gerade die Sonne auf und das weiße Licht, daß hinter der noch im Halbschatten liegenden Silhouette hervor glitt mischte sich mit dem Schneegestöber zu einer einzigen alles umwebenden Wolke, die mit sanfter Macht die kahlen Bäume umhüllt so dass sie wie knochige Adern im weißen Gewühl aufglimmten und wieder verschwanden.
Vor drei Tagen hatten sie sich das letzte Mal gesehen. Die Stille die jetzt den Raum erfüllte hallt nach in ihr. Jemand mußte an die Tür geklopft haben. Dann wieder nichts. Sie wandte sich um und sah auf die Tür nicht weit entfernt von ihr am Ende des Raumes. Als sie wieder durch das Fenster auf die breite Straße blickte sah sie die ersten Menschen auf die Arbeit gehen. Halb Sechs inzwischen. Wie graue gebeugte Zwerge kämpften sie sich, gegen Wind und Kraftlosigkeit ankämpfend, den Hügel hinab. Sie trat einen Schritt zurück und begann den kleinen Raum zu durchforsten. Alt Bekanntes erblickte sie da, die wenigen Dinge die sie immer bei sich trug, nichts mit dem sie irgendeine Erinnerung verband, nichts das irgendein Gesicht hätte - Notwendiges, Unvermeidbares. Keine Sentimentalitäten.

Es gab kaum Momente in ihrem Leben in denen die Lust verspürte sich aus dieser bisherigen Lage zu befreien. Immer war da Kraft gewesen, eine Kraft über deren Existenz sie sich nie wirklich bewußt gewesen war. Und doch hatte sie nicht bemerkt wie sich eine heimliche Regelmäßigkeit in ihr Dasein geschlichen hatte, ein pulsierender Rhythmus der tief im Inneren quälende Einsamkeit und peitschende Angst verbarg.
Niemals war sie länger als zwei Tage an ein und demselben Ort geblieben, sie brauchte die Veränderung - sie war süchtig nach dem Unbekannten. Es war genau diese, ihre Selbständigkeit gewesen, die ihr jetzt die Luft zum Atmen raubte. Es war diese Unabhängigkeit, die sich jetzt als verkrüppelte Hälfte einer Einheit entlarvte, eines Ganzen dessen Harmonie unwiderruflich und in mörderisch penibler Kleinarbeit von ihr zerstört worden war. Es war zur Sklavenarbeit mutierte Freiheit - eine Unabhängigkeit von der sie abhängig geworden war.
Sie hatte sich bis ganz in die hintere Ecke des Zimmers zurückgezogen und kauerte jetzt wie ein verängstigtes Tier am Boden. Stumme Hitze begann sie langsam zu umzingeln. Dieses Gefühl von Hilflosigkeit war das einzige an dem sie die verstrichene Zeit noch festmachen konnte. Mit einem hohlem unendlichen Grinsen schien die Leere des Zimmers ihre Hilflosigkeit zu erwidern.
Niemals hatte sie mehr als 5 Stunden am Stück in ihrem Leben geschlafen. Und jetzt glaubte sie zum ersten Mal diese latente und hastige Müdigkeit einer Schlaflosen zu verspüren. Die letzten 78 Stunden waren wie ein ewig fließendes Farbenspiel gewesen. Noch niemals hatte sie Dinge so wie jetzt wahrgenommen, so bewußt jede glitzernde Facette der Welt in sich aufgesogen. Immer schneller bewegten sich jetzt diese Formen und Farben, immer wilder wurde ihr Tanz. Und sie würde nichts verpassen davon, kein noch so kleiner Laut, kein noch so unbedeutendes Aufblitzen würde sie versäumen! Es war ihr Leben, ihre Lebendigkeit, jetzt war der Augenblick gekommen den sie so - genau so schon immer herbei gesehnt hatte!
Die blasse Morgendämmerung war erloschen, das glitzernde Schneetreiben erlahmt. Taubes helles Licht strömte herein, das dem eben noch so majestätisch schimmernden Dingen mit einem stummen Schlag jeglichen Glanz entriß und sie als formlose Brocken, verloren im Zeit - und Raumlosen Fluß der Dinge, offenbarte.

In der Dachkammer eines Hauses im Randbezirk der Großstadt liegt ein große schlanke Frau. Sie ist wohl Reisende gewesen. Es ist eine schöne Frau, sie hat gerade helle Züge und trägt schlichte praktische Kleidung. Gleich neben der Tür liegen einige Briefe, sie hat sie nicht zu Ende geschrieben. Das altmodische Schreibwerkzeug, eine große Feder, hält sie noch in der Hand. Die rote Flüssigkeit im Tintenfaß ist ausgelaufen und am Boden vertrocknet. Das einzige Fenster in dem winzigen Raum steht offen.
 



 
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