Dreizehntes Märchen: Vom Kelpie

VikSo

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Dreizehntes Märchen: Vom Kelpie
Es war einmal ein feiner Mann aus der großen Stadt, der brach zu einer lustigen Partie auf dem Lande auf. Des Morgens stieg er in seinen Sonntagsanzug, ließ sich von seiner Hausfrau ein Kehrpaket packen und kletterte mitsamt seinem nagelneuen Rucksack wohlgemut in den glänzenden Zug. An der dritten Haltestelle stieg er aus. Hier dünkte ihm die Luft frisch – obgleich sie noch vom Rauch der Lok geschwärzt war – und das Gras grün genug, dass sich einer dort von den Strapazen der Zivilisation erholen konnte. So marschierte er mit einem frommen Lied auf den Lippen – denn es war ein Feiertag – in Gottes freie Natur. Als die Mittagssonne sengend hernieder schien, wählte er schattigere Pfade. Am Nachmittag kehrte er dann in einer rustikalen Wirtschaft ein, wo er sich ein Tässchen starken Tee und ein Stückchen leichten Obstkuchen nach guter Bäuerinnenart schmecken ließ.
Wie er da so saß in seinen schmucken Sachen, die noch kaum ein Staubkörnchen gesehen hatten, stach er doch reichlich aus der Menge der rauen Bauern und Knechte heraus. Die hatten sich in der Wirtschaft niedergelassen, um dem Herrgott bei einem Glas Bier andächtig für den freien Tag zu danken. Sie hatten schon von Städtern gehört, die ihre annehmliche Umwelt zwischen Geschäften und motorisierten Kutschen verließen, um freiwillig in der Hitze des Tages von einem Punkt zum andern zu laufen, ohne davon den geringsten Nutzen zu haben. Mit eigenen Augen hatten sie aber bisher noch kein solches Subjekt gesehen und konnten es sich auch so nur schwer vorstellen. Umso mehr erregte der seltsame kleine Mann ihre Aufmerksamkeit, der mit abgespreiztem Finger Tee trank und mit einem seligen Gesicht den wuchernden Wald anstarrte, als sähe er dort Gabriel und seine Engelschar persönlich. Den meisten galt er als ein seltenes Zirkustier und manch spöttischer Kommentar wurde hinter vorgehaltener Hand gewispert. Endlich ermannte sich der größte Spaßvogel unter den Bauern und hielt geradewegs auf den Tisch des Fremden zu.
„Seid mir gegrüßt, Herr.“, sprach er unseren Helden an, wobei er ehrfürchtig die Mütze lüpfte. „Ist es wohl gestattet, sich zu Ihnen zu setzen?“
Der Städter, dem diese Anrede gefiel, gewährte die Bitte gnädig. Bald entspann sich ein angeregtes Gespräch. Dabei ließ der Bauer nur hin und wieder ein Wort fallen, während der Städter – geschmeichelt von so viel Aufmerksamkeit – zur Erheiterung der ganzen Gesellschaft eine ausführliche Schilderung seiner Person, seines vergangenen und gegenwärtigen Lebens und zuletzt seiner Erlebnisse auf der zurückliegenden Wanderung durch das „unberührte Land“ zum besten gab. Die Bauern, die in diesem unberührten Land schon ein ums andere mal mit mehr oder weniger Erlaubnis ein Wild geschossen oder einen Baum gefällt hatten, schmunzelten gutmütig, enthielten sich aber jeglichen Kommentars.
Schließlich fragte der Rädelsführer: „Dann haben Sie heute wohl schon manches Abenteuer bestanden? Lassen Sie sich dafür von mir auf ein Bier einladen!“
„Ich danke dir sehr.“, beschied der so Geehrte freundlich. „Aber ich muss nun aufbrechen, damit ich den Zug noch rechtzeitig erreiche.
Da schlug der Bauer erstaunt auf die Tischplatte, dass der ganze Tisch erbebte. „Heute wollen Sie noch weiter reisen? Das ist ganz und gar unmöglich! Die Sonne ist schon lange im Sinken und Fuchs und Hase fangen an, einander gute Nacht zu sagen. Nur mit sehr viel Glück und einem unmenschlichen Tempo könnten Sie den nächsten Bahnhof noch erreichen. Wenn Sie ihn aber verpassten, wären Sie gezwungen, im Dunkeln hierher zurück zu laufen, oder, noch schlimmer, im Wald zu übernachten. Das lassen Sie sich nicht geraten sein; es geht im Wald nicht mit rechten Dingen zu, wenn der Tag sich von dort zurück gezogen hat.“
„Deine Sorge schmeichelt mir.“, lächelte der Städter. „Doch sie ist unbegründet. Ich habe einen schnellen Schritt und eine gute Orientierung. Selbst wenn ich den Zug verpasse, werde ich im Handumdrehen wieder in dieses gastliche Haus zurück gefunden haben. Ich will es aber doch versuchen, denn meine Hausfrau wird sich Sorgen machen, wenn ich nicht zur erwarteten Stunde zurückkehre.“
„Ich beschwöre Sie.“, fiel nun auch die Wirtin in die Bitte ein. „Es ist nicht geheuer zu so später Stunde im Dickicht. Dunkle Mächte treiben sich dort herum, die nur auf den unvorsichtigen Wanderer warten.“
„Ich danke dir, gute Frau!“ Jetzt lachte der feine Herr, ohne zu bemerken, dass alle Gesichter, die ihn zuvor so heiter betrachtet hatten, jetzt ernst und besorgt wirkten. „Ich danke dir, doch mach dir darum keine Sorgen. Die moderne Wissenschaft hat längst bewiesen, dass es die dunklen Mächte höchstens noch in der Phantasie des Menschen gibt und bald wird sie diese wohl auch von dort vertrieben haben. Ich fürchte weder Geister noch Dämonen.“
„Den Kelpie sollten Sie aber fürchten.“, warf da einer der Knechte ein, den der Hochmut des Fremden ärgerte.
„Ein Kelpie?“, fragte der so Angesprochene verwundert. „Wer soll das sein? Ich kenne diesen Herrn nicht.“
„Der Kelpie“, antwortete die Wirtin, „ist ein Geist des Wassers.“ Dabei senkte sie ängstlich die Stimme, denn wie jeder weiß, beschwört man das Erscheinen solcher Geistern erst herauf, indem man ihren Namen laut ausspricht. „Er hat die Gestalt eines Mannes, manchmal aber auch eines Pferdes, dessen Fell und Mähne tropfend nass sind. Zuerst erscheint er freundlich und bietet müden Wanderern seine Hilfe an, wenn sie am Ufer eines Sees ausruhen oder einen Fluss überqueren wollen. Hat er sie aber durch ihr Vertrauen nahe genug an sich heran gelockt, dann packt er sie und zieht sie auf den Grund des Gewässers herunter, wo er sie ertränkt oder bei lebendigem Leib verschlingt.“
„Es soll auch schon vorgekommen sein“, fügte der Bauer hinzu, der zuerst zu dem Fremden gesprochen hatte, „dass der Kelpie unerfahrene und vorwitzige Mädchen zu sich gelockt hat. Die konnten sich vor dem drohenden Tod nur durch eine Sache retten. Wenige Monate später gebaren diese dann Kinder, die hatten eine seltsam entstellte Haut, grün und schuppig und kaum, dass sie allein zum Fluss laufen konnten, entschlüpften sie ihren Müttern und verschwanden für immer im nassen Reich ihres Erzeugers.“
Nun konnte der Reisende seinen Spott kaum mehr unterdrücken. „Zu meinem Glück bin ich keine Jungfer und laufe nicht Gefahr, ein Kind austragen zu müssen. Auch muss ich, soweit ich weiß, auf dem Weg keinen Fluss überqueren, nicht einmal ein Bächlein. Ich marschiere auf direktem Wege dem Bahnhof zu, der sich soweit ich weiß in dieser Richtung befinden muss. Wenn es euch beruhigt, schicke ich euch ein Telegramm, sobald ich sicher zu Hause angekommen bin. Nun muss ich mich jedoch sputen. Habt Dank für die Kost und das erbauliche Gespräch. Lebt wohl!“ Damit erhob er eine Hand zum Gruß, wobei er sich insgeheim dachte, dass die armen dummen Bauern noch reichlich in der abergläubigen Vergangenheit gefangen waren. Die Bauern wiederum sahen dem Fremden hinterher und manch einer meinte bei sich, dass die Städter wohl besser in der Stadt blieben. Auf dem Land gäbe es nämlich zu viele Steine, über die man stolpern konnte, wenn man die Nase zu hoch trug.
Der Wanderer indessen, der von diesen Gedanken nichts ahnte, schritt weiter munter aus in die Richtung, in der er den Bahnhof wähnte. Es konnte aber doch mit seinem Orientierungssinn nicht weit her sein, denn obgleich er über eine Stunde und nicht eben langsam lief, kam er zu keinem Ziel und schien statt aus dem Wald heraus nur immer tiefer ins Gehölz zu geraten. Endlich musste er sich eingestehen, dass er den letzten Zug kaum mehr pünktlich erreichen konnte und es wohl besser sei, umzukehren und die Nacht im Gasthaus zu verbringen. Dort würde er wohl ein wenig mit seinem Stolz bezahlen müssen, dafür aber ein gutes Nachtmahl und ein warmes Bett bekommen. So drehte er auf den Zehenspitzen um und beabsichtigte, genau den gleichen Weg zurück zu gehen, den er gekommen war. Doch schon nach einer Viertelstunde wurde er unsicher. Hatte er wirklich diesen Baum passiert, von dem ein Ast so auffällig abgebrochen war? War er an diesem Tümpel vorbei gelaufen, aus dem es so modrig roch, als faulte das Wasser darin schon seit Jahrhunderten? Je länger er lief, desto mehr zweifelte er, dass er sich auf dem rechten Pfad befand. Schließlich ließ er sich ermattet auf einen Baumstumpf sinken.
„Heute musst du dich wohl hungrig schlafen legen.“, sagte er zu sich selbst. „Da ist nichts zu machen. Kopf hoch! Das Moos hier ist weich und morgen, wenn es wieder hell und warm ist, findest du im Handumdrehen zum Weg zurück.“ Nachdem er so sich selbst getröstet hatte, hüllte er sich fest in seine Jacke, bettete sich auf den Waldboden und bedauerte nur, dass sein guter Anzug nun einige hässliche Flecken davon tragen würde.
Eine Weile lauschte er auf die nächtlichen Geräusche, die Wind, Uhu und Fuchs verursachten. Dann, langsam, döste er ein. Er hatte aber noch nicht richtig geschlafen, als ihn das Tappen von Schritten auf einmal hochfahren ließ.
„Nanu.“, sprach er zu sich selbst. „Noch einer, der sich zu später Stunde im Wald verirrt hat. Oder sollte es gar unehrliches Gesindel sein? Am Ende treiben sich gar Diebesbanden in der Gegend herum!“ Bei diesem Gedanken wurde ihm nun doch etwas mulmig zumute und er beschloss, hinter dem Baumstumpf, der ihm zuvor als Stuhl gedient hatte, in Deckung zu gehen. So verharrte er einige Minuten, doch nichts weiter geschah. „Wirst dich wohl geirrt haben.“, sagte er endlich zu sich selbst. „Hast schon geträumt. Nichts und niemand ist zu sehen.“
„Einen guten Abend wünsche ich.“, sprach da auf einmal eine Stimme hinter ihm.
Ich glaube, so schnell hab ich noch nie einen Mann sich um die eigene Achse drehen sehen, wie unser armer Held es nun tat. Nicht nur einmal, sondern dreimal wirbelte er herum und herum, doch, seltsam genug, den Ursprung der Stimme konnte er nicht ausmachen.
„Ich habe euch wohl erschreckt.“, klang es da wieder. „Verzeiht, das lag nicht in meiner Absicht.“
Wieder riss der Wanderer den Kopf herum. Da erkannte er, halb verborgen im Schatten zweier dicht bewachsener Tannen, eine Gestalt. Ganz still stand sie da und erst, als er sie länger sehr unhöflich angestarrt hatte, konnte unser Städter die Umrisse eines alten Mannes ausmachen. Er trug einen dunklen Mantel, darunter ein schmutziges Hemd und abgetragene Hosen. Den Kopf bedeckte eine schwarze Kappe, die das Männlein bis weit ins Gesicht hinein gezogen hatte. Ein blendend weißer Bart stach in all dem Dunkel hell hervor wie eine Fackel. Eine Sekunde wunderte sich der Wanderer, dass zuvor die Stimme aus einer ganz anderen Richtung gekommen zu sein schien, als er nun den Alten kommen sah. Er sagte sich aber, dass dies wohl seinem müden Geist zuzuschreiben sei, der ermattet und von den Ammenmärchen der Bauern verwirrt sei. Bemüht freundlich und ein wenig zu forsch trat er auf den Neuankömmling zu.
„Ich grüße Sie.“, rief er schon von weitem. „Verzeihen Sie, ich habe Sie nicht gleich gesehen. Es ist ja finster hier wie es im Himmel hell sein mag. Ich habe mich zu später Stunde verlaufen und mich nun hier zur Ruhe gelegt, um das Tageslicht abzuwarten. Was treibt Sie bei Nacht hier in den Wald?“
Eine Weile blieb der Alte stumm, sodass dem Städter schon wieder die Angst kalt über den Rücken kroch. Dann antwortete er mit brüchiger Stimme: „Ich bin Krämer und komme eben vom Haus des Försters. Es liegt nur wenige Schritte von hier in diese Richtung“ - dabei wies er unbestimmt hinter sich. - „Wenn du willst, bringe ich dich hin. Zwar wird der Waldmann dir nur den Boden vor seinem Ofen bieten können. Es schläft sich dort aber bestimmt angenehmer als hier draußen in der Kälte.“
Der Wanderer bedankte sich herzlich für dieses Angebot. „Zuletzt habe ich doch noch Glück!“, sagte er zu sich selbst. „Dem vernünftigen Mann schlägt doch alles zum Guten aus. Gehen Sie voran, guter Mann, ich folge Ihnen.“
So liefen sie eine Weile durch das Dickicht des Waldes. Der Städter hatte manchmal Mühe, Schritt zu halten. Zwar musste der Krämer, nach seinem Äußeren und der Stimme zu urteilen, ein Methusalem sein. Doch schritt er so schnell aus und kannte manch sicheren Tritt durchs Gebüsch, dass er schnell und wendig vorwärts kam wie ein Fisch im Wasser.
„He, guter Mann.“, rief endlich der geplagte Wandersmann ganz außer Atem. „Ist es noch weit zu laufen?“
„Nicht mehr weit.“, tröstete der Alte ihn, ohne hinzusehen. „Siehst du dort vorne das Licht? Das ist schon die Kerze der Försterin. Die sitzt bis spät in die Nacht wach, um Hemden für ihre dreizehn Söhne zu nähen.“
Hoffnungsvoll wandte der Städter den Blick nach vorn. Tatsächlich, wenn er die Augen zusammen kniff, meinte er dort in der Ferne ein rotes Licht zu sehen.
„Nur noch wenige Minuten, dann sind wir da.“, erklärte der Alte. „Wir müssen nur noch hier den Fluss überqueren. Die Steine sind glitschig und trickreich. Doch gib mir nur die Hand, dann will ich dich sicher hinüber führen.“
Da durchfuhr es den Wanderer wie ein Schlag. Mit einem Mal fielen ihm die Geschichten wieder ein, welche die Bauersleute ihn am Nachmittag erzählt hatten. Doch anders als vor ein paar Stunden im Sonnenschein erschienen sie ihm nun gar nicht mehr lächerlich. Wie gelähmt stand er auf dem Fleck still und starrte auf die Hand, die der Fremde ihm entgegen streckte. Da grinste der Alte.
„Man hat dir wohl ein paar Schauergeschichten erzählt. Sei unbesorgt. Wenn du es willst, so warte ich am anderen Ende und du kannst allein hinüber schreiten. Beschwere dich aber nicht, wenn du ins Wasser fallen solltest!“
Der Städter kam sich nun reichlich lächerlich vor. Er konnte jedoch nicht umhin, das Angebot des Alten anzunehmen. Während der Krämer sich am jenseitigen Ufer des Stroms im weichen Gras niederließ, kämpfte sich der Wanderer Schritt für Schritt über die nassen, moosigen Steine, voran. Doch mit jedem Tritt, den er vorwärts tat, schien der Weg, der noch vor ihm lag, auf das Doppelte anzuwachsen und was er geschafft hatte, verschwindend gering. Nach fünf Minuten lag noch nicht einmal die Hälfte des Weges hinter ihm. Dem Städter zitterten die Knie vor Erschöpfung und das Hirn war ihm vor Müdigkeit ganz weich geworden. Da geschah es, dass er auf einem besonders rutschigen Stück einen falschen Schritt tat. Entsetzt spürte er seinen Fuß rutschen. Er ruderte wild mit den Armen, schwankte nach vorn und zurück, vor und zurück, ohne sein Gleichgewicht wieder zu erlangen. Mit einem erstickten Aufschrei fiel der Mann kopfüber in den Fluss hinein. Tiefer und tiefer sank er und obgleich er panisch Arme und Beine einsetzte, um zur Oberfläche zu schwimmen, trieb ihn das nur noch tiefer hinab.
Da endlich, als er schon meinte, ohnmächtig werden zu müssen, merkte er, wie eine starke Hand nach der seinen griff. Mit letzter Kraft klammerte er sich daran fest. Nun fühlte er sich zu seiner Erleichterung von einem kräftigen Arm empor gezogen. Gerade bevor ihm die letzte Luft ausging, zog ihn die helfende Hand aus den Fluten und ans Ufer. Heftig nach Atem ringend ließ sich der arme Kerl ins Gras sinken. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder soweit bei Besinnung war, dass er sich nach seinem Helfer umsehen konnte. Zu seinem Erstaunen erblickte er aber den Alten weit und breit nirgends. Statt dessen saß neben ihm ein junges Mädchen, das ihn mit ruhigem, fürsorglichen Blick betrachtete.
„Wer bist du?“, rief er verwirrt. „Was ist geschehen?“
„Ich bin des Försters Tochter.“, sprach das Mädchen mit glockenheller Stimme. „Mein Name tut jetzt nichts zur Sache. Ihr seid in die Fänge eines bösen Kelpie geraten und es hätte nicht viel gefehlt, dass der euch in den Fluten hätte ertrinken lassen. Doch seid unbesorgt, denn nicht nur habe ich euch aus dem Fluss gerettet, sondern habe auch den Dämon zur Strecke gebracht.“ Mit diesen Worten wies sie auf eine Stelle nicht weit entfernt. Und tatsächlich: Bei genauem Hinsehen entdeckte der Wanderer zu seinem Entsetzen die leblose Gestalt des Alten mit blau angelaufenem Gesicht. Ein Gruseln überkam ihn dabei und er wünschte sich nur noch, daheim in seinem Bett in Sicherheit zu sein.
Als hätte sie sein Unbehagen gesehen, berührte das Mädchen sanft den Arm des Mannes. „Grämt euch nicht weiter. Der Geist kann euch nun nichts mehr anhaben und in wenigen Augenblicken schon sollt ihr in meinem Heim sein. Seht, ich habe das Pferd meines Vaters mitgebracht. Es ist noch ganz nass, denn im Kampf gegen den Kelpie wollte es mir beistehen. Steigt nur auf seinen Rücken und im Nu werdet ihr sein Haus erreicht haben.“
Da wandte der Mann sich um und tatsächlich: Zu seiner großen Verwunderung entdeckte er plötzlich neben sich ein Pferd, so schwarz wie die Schatten der Bäume um sie herum. Flusswasser tropfte aus seinem Fell, als es sich vertrauensvoll an seine Herrin schmiegte. Der Städter wunderte sich einen Moment, dass ein Förster ein solch prachtvolles Pferd sein Eigen nannte. Er sagte sich jedoch, dass er es hier in dieser Einsamkeit wohl brauchen konnte. Zudem wollte er dem geschenkten Gaul nicht lange ins Maul schauen. So rappelte er sich hoch und schaffte es mit einiger Mühe, sich auf den Rücken des Hengstes zu schwingen. Doch kaum saß er halbwegs fest im Sattel, da sprintete der Gaul auch schon los. Sein empörtes Schreien nutzte ihm nichts. Mit einer unmenschlichen Geschwindigkeit raste das Tier dahin und der Mann meinte, es müsse nicht einmal den Boden mit seinen Hufen berühren. Hilflos wandte sich der Städter nach dem Mädchen um und rief ihm zu. Doch dieses winkte nur lächelnd. Die Augen des Mannes weiteten sich vor Schreck, als er im plötzlich auftauchenden Mondschein ihre blaue Haut gewahrte. Er sah auf das Pferd hinab, und auf einmal erschien ihm auch dieses nicht nur nass vom Wasser, sondern auch schuppig und glitschig zu sein und der Schweif, der ihm in schnellem Flug hinterher wehte, wirkte mehr wie ein Fischschwanz. Da konnte der Mann nicht mehr anders, sondern schrie seine ganze Angst hinaus in die Nacht. Es hörte ihm aber niemand. Weit und breit waren nur die geisterhaften Umrisse der Bäume zu sehen. Doch da, ein Stück vor ihm, da glitzerte etwas. Ein Licht!, dachte der Gemarterte erfreut. Wie kehrte sich seine Freude aber ins Gegenteil um, als er erkannte, dass dies kein Feuer und keine Kerze, sondern nur der Widerschein des Mondes auf dem Wasser war. Statt aus dem Wald heraus, hatte der dämonische Gaul ihn von dem Fluss weg zu einem See mitten im Wald gebracht und hielt nun direkt darauf zu. Gleich würde er in die schwarzen Fluten hinein springen und das Wasser würde den Wanderer unter sich begraben.
In seiner Angst klammerte er sich am Sattel des Tieres fest, der aus weichem Leder gefertigt, aber ebenfalls von klammer Nässe durchdrungen war. Da ertastete er in einer Satteltasche etwas, das sich wie eine Schnur anfühlte. Als er es herauszog merkte er, dass es sich dabei um Zaumzeug und Halfter handelte, die dem Tier aus irgendeinem Grund niemand umgebunden hatte. Das gab ihm eine Idee. Mit zitternden Händen und großem Ungeschick, dazu durch den fliegenden Galopp des Tieres behindert, entfaltete der Mann die Lederriemen und zog sie dem Pferd über. Das wehrte sich und warf den Kopf wild hin und her, bäumte sich auf und hätte seinen Reiter beinahe abgeworfen. Mit letzter Kraft klammerte der sich fest und schaffte es schließlich, das geisterhafte Tier in Zaum zu nehmen. Im gleichen Augenblick stand das Ross still, als sei es angewachsen, nur einen Meter vor dem Ufer des Sees. Das Herz schlug dem armen Mann bis zum Hals und er konnte sein Glück noch gar nicht fassen. Es war ihm zum Lachen und zum Jammern gleichzeitig zumute. In seiner Verwirrung rief er aus: „Wenn ich doch nur schon auf dem Weg nach Hause wäre!“
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da galoppierte der Hengst wieder los. Aller Protest nutzte nichts; auf ging es wieder durch die Nacht, die schon von den ersten Strahlen der roten Sonne durchbrochen wurde. Der Städter meinte, nun habe sein letztes Stündlein endgültig geschlagen. Da hielt das Pferd erneut an. Der Mann wagte kaum aufzuschauen; er tat es aber doch. Wie groß war seine Verwunderung und Freude, als er vor sich nicht etwa Wald und Wasser, sondern stattdessen eine gewaltige Dampflok aufragen sah. Tatsächlich: Der Dämon hatte ihm bis zum nächsten Bahnhof gebracht. Und da stand der Zug, der ihn heim bringen musste. Eilig, bevor das Tier es sich noch einmal anders überlegen konnte, sprang der Städter aus dem Sattel und rannte, ohne sich noch einmal umzusehen, auf den Zug zu. Hier ließ er sich auf eine Bank sinken und fiel in einen tiefen Schlaf, aus dem er erst wieder an der Endstation erwachte.
Das Pferd aber verschwand wieder im Wald. Niemand außer unserem Wanderer hatte es gesehen und niemand glaubte ihm, als er davon berichtete. Einige hielten ihn für wunderlich. Andere meinten, er hätte sich an dem heißen Tag einen Sonnenstich geholt oder in der Wirtschaft einen über den Durst getrunken. Seine Hausfrau aber steckte ihn sogleich ins Bett, legte eine große Wärmflasche an seine Füße und einen Eisbeutel gegen das Fieber auf seine Stirn und ließ ihn eine Woche lang nicht mehr ausgehen. Und wenn er an dieser Behandlung nicht gestorben ist, dann lebt er wohl noch heute.
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Welt ist manchmal wirklich ungerecht!

Da schreibt ein VikSo sein mittlerweile dreizehntes Märchen, eines hübscher als das andere, noch dazu eingebettet in eine bezaubernde Rahmenhandlung und kaum einer sagt was dazu!

Das Du es nur weißt:
Ich habe jedes mit Vergnügen genossen, also nur weiter so!

Auch wenn mir als altem Besserwisser die paar Stolpersteine bei der Führung durch Dein Märchenreich nicht entgangen sind, hat das den Lesespass kaum getrübt. Wenn Du magst, zeige ich sie Dir.

so entzückt
ausgerückt
ließ er im Vergehen
glatt sein Lächeln stehen
 

VikSo

Mitglied
Hallo Rumpelstilzchen, finde leider keinen Button, mit dem ich auf deinen netten Kommentar antworten kann. Würde mich aber freuen, wenn du mich auf die "Stolpersteine" aufmerksam machst. Bin mit einem "Besserwisser" verheiratet, ich halte einiges aus ;-)
 



 
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