Duerer

JENSKASTNER

Mitglied
Dürer



Jens Kastner



























1.

Der Alte bellt wie immer viel zu laut: „Bleib hier! Setz dich wieder hin, Flasche, dalli!“
Der junge Trinker greift sich seine neben der Bank liegenden mit Wäsche und anderen Habseligkeiten vollgestopften Tüten, sagt dem Alten in beschwichtigendem und doch genervtem Ton: „Ich bin gleich wieder zurück, ich geh nur zum Klo, in zehn Minuten bin ich echt wieder zurück.“
„Was nimmst denn dann die Tüten mit, Flasche! Lass die hier liegen, geh zum Klo und bring bloß Grog mit, wenn du zurück kommst!“, schnauzt der alte Mann auf der Bank am Fußwegrand sitzend seinen wohl um die zwanzig Jahre jüngeren Schnappsfreund an.

Flasche ignoriert den betrunkenen, kommandierenden Alten und läuft los mit seinen zwei Kaufhaustüten, läuft die Detlev-Bremer-Straße hinunter, dann über den Spielbudenplatz. Keine fünzig Meter vor der Davidswache erreicht er sein Ziel: Die einzige Toilette weit und breit, in deren Tür man keine fünzig Cent einwerfen muß.

Flasche vertraut keinem, er läßt die Tüten nicht bei den Waschbecken stehen, sondern zwängt sich rückwärts mit ihnen fluchend durch die enge Klotür.
Es ist schwierig, die Tüten reinzuzerren: die Kloschüssel, der Klopapierrollenkasten an der Wand, Flasche selbst und dann das ganze Zeug in so einem engen Raum. Flasche flucht und hat schon Schweißperlen auf der Stirn, doch am Ende kriegt er alles hin: Er zieht sich die Hose runter, setzt sich aufs Klo und entspannt.

Das Sitzen ist wie eine Belohnung für den ganzen Stress, und je länger Flasche sitzt desto besser fühlt er sich; eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten. Erst als er fertig ist, bemerkt er es: das schwarze Bündel auf dem Klopapierrollenkasten.

„Nanu!“, entfährt es Flasche, und das ist sicherlich das erste Mal in seinem ganzen Leben, dass er dieses Wort sagt, denn Hamburger Obdachlose sagen nun mal nicht: „Nanu“. „Nanu!“, sagt Flasche noch einmal, greift das Bündel, begreift es, befühlt es, die Bewegungen der Finger immer schneller und hektischer werdend. Schnell sind die Schweißperlen auf seiner Stirn wieder da – es ist eine Herrenbrieftasche aus schwarzem Leder, teuer, sehr teuer sogar.
Und keine zwei Sekunden, nachdem der junge Trinker die Hunderter gefühlt hat, ist sie schon in einer der zwei Tüten verschwunden – die schwarze Designer Herrenbrieftasche begraben unter Flasches Wäsche.

Den Weg zurück zum Alten, zurück zur Bank, schwebt Flasche fast; es ist, als wenn seine Füße den Fußweg nicht berührten. Er nimmt die Leute nicht mehr wahr, rempelt sie trotzdem nicht an, obwohl er eigentlich gar nichts mehr sieht: nicht die Fußgänger, nicht die Fahrräder und nichts vom ganzen Verkehr.

Mehr als vierhundert sind es, das hat Flasche ja gesehen. Und da er ein einfach gestrickter Mensch ist, kauft er im Türkenladen sechs große Dosen Bier und geht wieder zu dem Platz zurück, wo er hergekommen ist, zum alten Mann auf der Bank am Fußwegrand. Flasche und der Alte reißen sich die Dosen auf, und Flasche erzählt alles.

„Gib her!“, bellt der Alte wie immer in völlig übertriebener Lautstärke. Flasche gehorcht, auf der Bank sitzend, die Kaufhausttüte zwischen die Knie geklemmt, wühlt er durch die nach Schweißfüßen und Alkohol stinkenden Klamotten und legt dem Alten dann die schwarze Brieftasche in dessen schmutzigen Hände.
Der reißt sie auf, schnauzt: „Du Idiot! Da ist ein Pass drinnen! Nimm die Kohle raus und schmeiß das Zeug weg! Du Idiot, willst du in Knast oder was!“
Der Alte wirft Flasche das Bündel in den Schoß, stößt ihn von der Bank: „Nimm die Kohle raus, schmeiß das Zeug weg und komm wieder, dalli!“

Flasche tut wie ihm befohlen, kommt nach Minuten wieder zurück - natürlich nicht ohne beim Türken neues Bier und Korn geholt zu haben.

Da sitzen sie, der Alte und Flasche, und trinken und feiern den großen Fund. Nach einer Stunde sind beide so blau, dass sie trotz Kälte und Nieselregen auf der Bank einschlafen. Sie schlafen, und von den hunderten Passanten die vorbei laufen an den beiden, wechseln fast alle die Fußwegseite - zu störend ist der Anblick der beiden Trinker, der Bierdosen, der Kaufhaustüten, zu störend ist das laute Schnarchen des Alten.

Der Junge wacht zuerst auf. Es dauert eine Weile, bis ihm wieder klar ist, was vor dem Schlaf und vor all dem Korn passierte. Doch dann steht er auf, sagt eigentlich wie im Selbstgespräch zu dem noch schlafenden Kumpanen, ohne diesen aufzuwecken: „Scheiß auf die Bullen, ich will wissen, was da sonst noch drinnen ist!“

Und so stapft Flasche los und zieht die schwarzen Herrenbrieftasche wieder aus dem Müllkorb, in den er sie zwei Stunden zuvor hineingeworfen hatte.
Viel, viel ruhiger als beim ersten Mal in der Toilette klappt Flasche sie dieses Mal auf. Drinnen sind zwei Sachen: ein Heftchen aus dünnem Papier und ein deutscher Reisepass. Was das Heftchen ist, ist Flasche schleierhaft, aber dass das ein Pass ist, den er da aufklappt, daran hat selbst er keinen Zweifel. Er klappt ihn ganz ruhig auf, den Pass, doch als sein Blick auf das Passfoto fällt, verfällt der junge Trinker sofort in brüllendes Gelächter! Er fällt fast um vor Lachen, und erst als ihm die Luft weg bleibt, fängt er sich wieder. Lachend rennt er zurück zum schlafenden Alten auf der Bank, schüttelt diesen, zerrt ihn am Arm und lacht: „Alter! Guck dir das an!“
Der Alte knurrt, guckt auf das Foto im aufgeklappten Pass, den Flasche ihm vor die Nase hält, und lacht sofort auch tösend los: „ Der sieht ja aus wie Dürer, das müssen wir dem zeigen!“


Bevor die S-Bahnen in den S-Bahnhof Sternschanze einfahren, überqueren sie eine Reihe von roten Backsteinbrücken. Unter jenen Brücken haben sich schon immer Drogenhändler, Bettler und Prostituierte positioniert, die aus den täglich vorbeiströmenden Passantenmassen heraus ihren Lebensunterhalt erlügen, erhandeln, erbetteln oder gar erstehlen.
Die letzte Brücke vor dem Bahnhof ist Dürers Revier. Seit Jahren ist er da: auf dem Pflaster ein paar Lagen dicker Pappe, auf der Pappe Dürers blauer Schlafsack, und dann Dürer entweder in dem Schlafsack liegend oder auf ihm sitzend.
Wenn Dürer sitzt, dann trinkt er, und wenn er trinkt, ruft er pausenlos den Fußgängern „Prost!“ zu. Das macht Dürer immer, er sitzt da und trinkt und ruft: „Prost!“.
Jeder kennt ihn, die Leute aus dem Viertel und die Pendler, die anderen Trinker, die Drogenhändler, die Polizisten und der Notarzt, der immer dann kommt, wenn Dürer sich auffallend lange nicht mehr von seiner im Schlafsack liegenden in die auf dem Schlafsack sitzende Position begeben hat.

Dürer ist noch jung, Mitte zwanzig, unter den Obdachlosen wohl einer der jüngsten. Die Leute erzählen sich, dass Dürer ein Junge aus gutem schleswiger Hause sei, richtig reiche Eltern und so. Ein Playboy sei er gewesen, mit italienischem Sportwagen, so das Gerücht, aber das, sieht man den jetzigen Dürer, ist eigentlich unvorstellbar. Was immer Dürer war, Alkohol und Alkohol und noch mehr Alkohol hat ihn dazu gemacht, was er jetzt ist: Ein Penner, der auf einem blauen Schlafsack unter einer roten Backsteinbrücke sitzt und Passanten: „Prost!“ zubrüllt.

Wie er zu seinem Namen „Dürer“ kam, ist aber klar: Jahre zuvor waren die Gemälde, Kupferstiche und Drucke des mittelalterlichen Künstlers Albrecht Dürer in Hamburg ausgestellt, und als dann die ganze Stadt mit den Plakaten der Ausstellung mit dem Selbstporträt des alten Meisters zugeklebt war, ist es absolut jedem sofort aufgefallen: Der langhaarige Albrecht Dürer des Mittelalters auf den Plakaten sieht genauso aus wie der junge Trinker, der unter der Brücke immer „Prost!“ ruft. Jenem war es sowieso egal, wie ihn die Leute nannten, und so wurde Dürer zum Dürer.

Der Alte und Flasche brauchen nicht lange zu suchen, obwohl es noch nicht mal Abend ist, sitzt Dürer schon trinkend auf dem Schlafsack und ruft: „Prost!“
„Guck mal, Dürer, hier ist noch einer, der genauso aussieht wie du!“, sagt der Alte und hält Dürer den aufgeklappten Pass hin. Dürer guckt und dann sitzen sie alle drei lauthals lachend auf Dürers Schlafsack. In der Geschichte Hamburgs haben wohl noch nie die Leute Obdachlose so laut lachen gehört.
Und wieder dauert es fast eine viertel Stunde, bis sie sich soweit beruhigt haben, dass sie wieder sprechen können. Der Alte zieht das dünne Heftchen heraus, welches mit dem Pass in der Brieftasche war. „Guck mal!“, sagt er, „weißt du, was das ist?“
Dürer nimmt es, blättert und spricht so nachdenklich wie ein Betrunkener nur nachdenklich sprechen kann: „Das ist ein Flugticket, Hamburg, Taipeh... Das ist ein Flugticket nach Thailand...“

Flasche staunt und der Alte staunt, und dann fragen beide im Chor: „Und fliegst du?“
„Klar!“, lacht Dürer, „im schlimmsten Fall buchten mich die Bullen für ein paar Monate ein, falscher Pass und so. Macht nichts, im Knast ein bisschen ausnüchtern wäre vielleicht gar nicht so verkehrt.“

Flasche läuft zum Türken, holt Korn und Bier, und dann sitzen und trinken und prosten die drei bis spät in die Nacht.




2.

Dürer begibt sich auf die Reise mit dem Flugzeug. Alles geht glatt: das Schwarzfahren mit dem Bus zum Flughafen, das Einchecken mit dem Pass und Ticket eines Fremden, das Boarding.
Im Flieger selber wäre Dürer eigentlich gleich eingeschlafen und erst in Taipeh wieder aufgewacht, wenn sich nicht eine Kette von bemerkenswerten Vorfällen ereignen würde.
Dürer hatte sich wie oft schon Tage nicht gewaschen, auch hatte keines seiner Kleidungsstücke in den letzten Wochen eine Waschmaschine von innen gesehen. Und so fängt so gleich ein Getuschel an unter den anderen zweihundert Fluggästen, insbesondere denen, die auf den Sitzen neben, hinter und vor dem stinkenden Dürer sitzen. Im Zehnsekundentakt wird das Getuschel lauter, die Stewardessen kommen hinzu, beschwichtigen, weisen an, entschuldigen, versprechen, kurz gesagt, tun alles, damit der Unmut der Passagiere nicht zum offenen, lautstarken Protest führt.

Doch das einzige, was die Stewardessen mit Mühe ereichen, ist, dass die Fluggäste auf den Sitzen 33 H –I –J, 34 G – H – I – J, 35 G – H - J (35 I ist Dürers Sitz), 36 G – H – I - J und 37 H– I - J bis ganz genau zum Erlöschen des „Bitte Anschnallen“ Signals sich die Nasen zuhaltend auf ihren Sitzen bleiben, und dann wie siebzehn unter viel Druck zusammengestauchte Metallfedern fast explosionsartig auf- und auseinanderspringen. Keine Minute später steht die ganze Gruppe protestierend, diskutierend vor den Toiletten auf der rechten Seite im hinterem Teil des Flugzeuges. Einigen der siebzehn ist es anzusehen, dass diese Empörung nicht übertrieben ist: Sie sind blass, Dürers Körpergeruch hat sie krank gemacht.

Und so hätte Dürer eigentlich seine Sitzreihe für sich allein, nehme der Pilot nicht wahr, dass es Unregelmäßigkeiten auf den Parametern gibt. Die siebzehn Passagiere, die alle auf kleinstem Raum vor der Toilettentür stehen, sind für die hochempfindlichen Instrumente nicht etwa Herr Meier, Frau Gniese und dergleichen, sondern Zahlen, Zahlen hinter denen ein „kg“ steht: siebzehn multipliziert mit 85, 102, 58 oder 62 Kilo. Der Schwerpunkt des Fliegers hat sich verlagert, der Pilot ruft die erste Offizierin in das Cockpit und fragt jene, ob es eine Erklärung gäbe.

Es gibt eine Erklärung und eine Lösung gibt es auch. Die erste Offizierin zupft dem schnarchenden Dürer unsanft am Arm, befiehlt: „Folgen Sie mir, sie kommen in die First Class - ja, Ihre Tüten nehmen Sie unbedingt mit!“
Dürer ist der einzige Passagier in der ersten Klasse, und auf dem komfortablen Sitz schläft er dann wirklich bis zur Landung in Taipeh.

Das Taipeh nicht die Hauptstadt Thailands ist, sondern die Taiwans, oder besser gesagt die der Republik China, wie das Land offiziell heißt, was natürlich nicht mit dem anderen China zu verwechseln ist, der wesentlich bekannteren Volksrepublik, die bis vor kurzem noch als Erzfeind galt - das alles ist Dürer bis Tage nach seiner Ankunft nicht klar.

Die Frage, die sich Dürer stellt, ist von viel pragmatischerer Natur: Was macht ein Hamburger Trinker, der bis gestern in der Nähe eines Bahnhofs unter einer roten Backsteinbrücke auf einem blauen Schlafsack saß, trank und den Passanten „Prost!“ zurief, wenn er sich plötzlich in einer von unlesbaren chinesischen Schriftzeichen wimmelnden, hupenden, verstopften asiatischen Großstadt wiederfindet?
Antwort: Er sucht sich eine Brücke in der Nähe eines Bahnhofs, setzt sich auf seinen Schlafsack, trinkt und ruft den Leuten „Prost!“ zu. Der Mensch ist ja schließlich ein Gewohnheitstier.

Taipeh hat einen Bahnhof, einen großen sogar, aber die Gleise sind in Tunnel gelegt, also findet Dürer keine Brücke. Rote Backsteine sind in diesem Teil der Welt anscheinend gar nicht existent, Gebäude sind aus Beton gebaut und mit jener Art von Fliesen beklebt, die Dürer zuvor nur an den Pissoirs der öffentlichen Toiletten Hamburgs gesehen hatte.
Also breitet Dürer seinen Schlafsack in der Halle des Bahnhofs aus, auf deren Ostseite, drei, vier Schritte neben der sich automatisch öffnenden und schließenden gläsernen Eingangstür mit dem Namen `East 3`. Er reißt die erste Dose taiwanesisches Bier auf, trinkt, und da er einen guten Eindruck auf die Bürger seines neuen Gastlandes machen möchte, ruft Dürer nicht mehr „Prost!“ sondern „Ganbei!“, denn so heißt „Prost“ nun mal auf Chinesisch.

Augenscheinlich ist die Reaktion der Passanten Taipehs dieselbe wie die der Hamburger: Sie machen einen Bogen um den auf dem Boden Sitzenden. Aber von den hunderttausenden Pendlern, die tagein- tagaus durch die Glastür East 3 strömen, hatte keiner je zuvor einen weißen Trinker da sitzen sehen. Die Leute wundern sich, sind auch neugierig auf den Hintergrund: Warum sitzt der da, der Weiße?
Tausende fahren morgens in die Büros und in die Fabriken und berichten Arbeitskollegen und Vorgesetzten, und wenn sie abends nach Hause kommen, in ihre 4 – Zimmerwohnungen in den Satellitenstädten Taipehs, dann erzählen sie Ehepartnern, Eltern und Kindern von Dürer.

Die Bahnhofspolizei läßt Dürer in Ruhe. Nur einmal, es ist Dürers vierte Tag, tickt ein dicker Polizist, der augenscheinlich kurz vor dem Rentenalter steht, seinem jungen Kollegen beim Streifengehen auf den Arm, deutet mit einem Kopfnicken auf Dürer. Er sagt: „Du kannst doch Englisch, geh mal rüber und check den mal, den durchgeknallten Weißen.“
Doch die beiden Polizisten sind kein Match für Dürer, Millionen Male hatten ihn die viel, viel professionelleren Streifenpolizisten Hamburgs versucht auszuquetschen, zu verhören und zu kontrollieren, aber immer wieder ist es Dürer gelungen, sich herauszureden, sich doofzustellen. Immer wieder nahm Dürer durch meisterhaft in seine lallende Rede eingebauten Tricks schnell den Polizisten jede Lust am Verhör.

Der dicke taiwanesische Bahnhofspolizist und sein junger Kollege sind chancenlos, es mißlingt ihnen nicht nur, Dürers Personalien aufzunehmen, Dürer schafft es sogar, ihnen Zigaretten und etwas Biergeld abzuschnorren. Die Tatsache, dass Dürer sich eines sehr guten Englisch bedient, hörten es die Leute, die ihn in Hamburg kennen, gelte sicher als ein ganz konkreter Hinweis darauf, dass an den Gerüchten um Dürers noble Herkunft doch was dran sei.


Zwei Eigenarten seines Gastlandes führen dazu, dass Dürer etwas in seinem Leben nie zuvor da Gewesenes wiederfährt: Er findet seine große Liebe.
Die erste Eigenart Taiwans ist, dass dieses eine Insel ist, auf der es sehr, sehr viele Fabriken gibt. Die zweite Eigenart ist jedoch weit weniger augenscheinlich: Altersheime existieren so gut wie gar nicht, Taiwanesen behalten ihre Alten traditionell zu Hause, drei Generationen unter einem Dach sind der Normalfall.
Aber: Taiwanesen arbeiten nicht gern an den Fließbändern und schon überhaupt nicht als ambulante Altenpfleger, also sind jene Jobs von zig-tausenden Gastarbeitern und vor allem Gastarbeiterinnen aus südostasiatischen Ländern wie den Phillipinen, Vietnam oder Indonesien besetzt.
Wer immer ein altes, pflegebedürftiges Familienmitglied im Hause hat, und das sind viele Leute, hält sich also eine ausländische `Magd`, die putzt, kocht, einkauft, den Alten und den Babys die Windeln wechselt, mit dem Hund Gassi geht, und, und, und.
Diese Mägde haben im Monat einen Tag frei, einen Sonntag, den sie mangels Taschengeldes meistens an einem klimaanlagengekühlten öffentlichen Platz verbringen: der Bahnhofshalle.

An seinem ersten Sonntag in Taipeh sitzt Dürer, wie auch die Tage zuvor, neben East 3.
Er bemerkt, dass die Halle von morgens an schon von Frauen wimmelt, er bemerkt auch, dass das wohl keine Taiwanesinnen seien, die Frauen die im Bahnhof sind, sind ja viel dunkler, und deren Sprache klingt auch ganz anders, etwa wie: „Bakbakbakbak“.
Am späten Vormittag setzt sich eine kleine Gruppe von Frauen auf das Treppengeländer gegenüber von East 3, keine fünf Meter vom „Ganbei!“ rufenden Dürer entfernt.
Dürer nimmt wahr, dass die sechs dunkelhäutigen, mandeläugigen Ausländerinnen kichern, glucksen, und dass ganz offensichtlich er selbst es ist, über den da gelacht wird.

Bald schon kauft das Grüppchen ein paar Dosen Bier und setzt sich zu Dürer auf dessen blauen Schlafsack.
Dürer lacht und die Frauen lachen, und nachdem Dürer eine nach der anderen nach ihrem Namen gefragt hat, sagt er den Namen des letzten von ihm befragten Fräuleins wohl zehnmal leise vor sich her: „Dewi, Dewi, Dewi...“
Allen Anwesenden ist klar, auch Dürer selbst und der hübschen Indonesierin Dewi, dass das der Beginn einer großen Liebe sei.


Am Nachmittag dann verabschieden sich alle sechs außer Dewi. Diese nimmt Dürers Hand in die ihre, sieht ihm in die Augen, sagt sanft aber bestimmt: „Du kannst bei mir wohnen. Let’s go!”
So etwas war Dürer in Hamburg nie wiederfahren, aber er, ohne auch nur im Geringsten zu protestieren, folgt Dewi aus dem Bahnhof zur Bushaltestelle, in den Bus und nach einer halbstündigen Fahrt in den noblen Vorort Neihu läuft er mit ihr Hand in Hand ein Stück bis zu Dewis Haus, ein drei-stöckiges, das mit seinen kitschigen, barockartigen Fenstern und großer Haustür sehr pompös, luxuriös, aber auch sehr nach einer schlechten Filmkulisse aussieht.

„Sei ein bisschen leise, wir gehen durch das Garagentor!“, weist Dewi Dürer, jetzt erst seine Hand loslassend, an. Neben dem Tor an der Wand ist ein kleiner goldener Kasten angebracht. Dewi klappt ihn auf und Dürer kann im Anbruch der Dunkelheit vage erkennen, dass darin eine Tastatur ist, die aussieht wie die eines Telefons.
Einen Augenblick später hebt sich das Garagentor fast lautlos wie von Geisterhand, und als es ein Drittel offen ist, greift Dewi Dürers Unterarm und zieht den von den Ereignissen des Tages offensichtlich beeindruckten Dürer hinter sich in die Garage hinein.

In der Garage sind nur eine Tischtennisplatte und ein riesen Stapel Klopapierrollen. Dewi deutet Dürer an, stehen zu bleiben, geht dann zu einer von zwei Türen an der hinteren Seite der Garage. Eine Treppe führt von dort zum zweiten Stock hinauf, Dewi mit einem Fuß auf der untersten Stufe stehend, ruft etwas auf Chinesisch.
Dürer versteht nicht, was Dewi da ruft, aber es ist ihm klar, dass der Ton ihrer Stimme einer ist, mit der man nur alte oder schwerhörige Leute ruft.
Wie auch immer, vom oberen Stockwerk kommt keine Antwort. Dewi zieht Dürer zu der zweiten, geschlossenen Tür, stößt sie auf, erklärt, jetzt nicht mehr flüsternd sondern in normaler Lautstärke: „Ich passe hier auf Oma auf, die hört und sieht nichts. Der Sohn hat seine Fabrik in Shenzhen drüben und kommt nur ein, zwei Tage im Monat zurück nach Taiwan.“
„Was ist Shenzen?“, fragt Dürer, schon mit Dewi in dem Zimmer neben der Garage, welches ganz offensichtlich Dewis Schlafzimmer ist.
„Shenzhen ist in China, die reichen Leute hier haben alle ihre Fabriken in China. Die Männer gehen rüber und machen Geschäfte, aber die Familien bleiben in Taipeh.“ Dewi beantwortet geduldig Dürers Frage, Handtücher, T-shirt und ein Paar bunte Bermudashorts aus einem Regal nehmend.

Dewi drückt Dürer den ganzen Ballen in die Hände, schubst ihn dann in ein kleines Badezimmer nebenan, zieht dessen Tür hinter ihm zu.
Dürer will bloß keine Zeit verlieren, er kann sich ja denken, wie es nach dem Duschen weitergehen werde. Als Dürer schon nackt unter der Dusche steht, kommt Dewi plötzlich ohne angeklopft zu haben hinein, greift, ohne Dürer anzusehen, seine von ihm in das Waschbecken geworfene verschwitzte Kleidung, und ist so schnell wieder aus dem Badezimmer, wie sie hereingekommen ist.
Fünf Minuten später sitzt Dürer in sauberster Wäsche und frisch rasiert auf Dewis Bett und wartet eine Ewigkeit, bis auch sie wieder aus der Dusche kommt.
Mit nur einem Badehandtuch umwickelt, ihr nasses Haar auf ihren dunklen Schultern, stellt sie sich vor den staunenden Dürer, und als dann ihr Handtuch fällt, ruft Dürer voller Glück: „Ganbei!“


In den Monaten danach, pflegt und peppelt Dewi zwei Patienten: Oma im zweiten Stock und ihren deutschen Boyfriend Dürer. Sie wäscht und füttert auch ihn, bringt ihm an zig-Abenden Chinesisch bei. Die alte Frau, deren Sohn in China ein Vermögen verdient, bemerkt nichts von dem neuen Mitbewohner. Die Wohnung des Sohnes ist im dritten Stock, von morgens bis abends spielt Dürer dort dessen Computerspiele, sieht dessen Filme, trägt sogar dessen Jogginganzüge.
Dürer nimmt ein bisschen zu, trinkt auch fast gar nicht mehr, und sieht immer mehr danach aus, was er den Gerüchten der Bürger Hamburgs zufolge einmal war: ein Junge aus sehr gutem schleswiger Hause.

An einem freien Tag schiebt Dewi ihren Dürer neben eines der kitsch-barocken Fenster, schmückt die Szene noch mit einer Blumenvase, kommandiert: „Beweg dich nicht!“
Sie greift ihren Fotoapparat, zoomt und klickt, und als sie dann auf den kleinen eingebauten Monitor guckt, ruft sie freudenstrahlend los: „Du bist ein Schönling! Du bist ein Schönling, mein Boyfriend ist ein Schönling!“
Und nachdem auch der Fotografierte selbst einen Blick auf die kleine Kamera geworfen hat, stehen sie da, nehmen sich in die Arme, küssen sich, und sind ganz glücklich.
„Mein Boyfriend ist ein Schönling!“, ruft Dewi mit Tränen in den Augen und Dürer, wie könnte er auch anders, brüllt sein donnerndstes: „Ganbei!“


In den Ländern Ostasiens wird der Westen hochangesehen: Amerikanischer und europäischer Film, Musik und bildende Kunst faszinieren seit jeher nicht nur die Oberschichten, sondern auch Otto Normalverbraucher. Westliche industrielle Produkte werden traditionell als qualitativ hochwertiger als die in Asien produzierten angesehen; das gilt für alles, von Maschinen über Lebensmittel bis zur Kosmetik.

Im Amerika und Europa Hergestelltes kostet mehr, und darum greifen pfiffige asiatische Unternehmer gerne in die Trickkiste, lassen ihr Plastikzeug vom Schwager nebenan herstellen, und, um dessen wahre Herkunft zu verschleiern, drucken sie ein Foto eines Weißen auf die Verpackung; ein Foto eines Weißen, der ganz offensichtlich höchstzufrieden eben jenes Produkt benutzt.
Und da man nicht Fotos eines und desselben Menschens auf die Packungen sämtlicher Waren drucken kann, denn dann würde der Blöff zweifellos dem getäuschten asiatischen Verbraucher auffallen, darum nun braucht man viele Weiße als Werbemodelle: Frauen, Kinder, Männer.

Dewi arrangiert, Dürer wird Modell, und im Wochentakt mimt er dann mal einen amerikanischen Weihnachtsmann, einen italienischen Gigolo oder einen mexikanischen Banditen für Werbung aller Arten von Unternehmen: Versicherungen, Fast-Food Restaurants, Herstellerfirmen von Kaffeemaschinen.

Bald, denn Dürers Chinesisch ist mittlerweile lupenrein, läd Taiwans populärste Fernsehshow Dürer als Quizkandidaten ein. Die Sendung wird moderiert von Taiwans Verona Feldbusch Version: Little S.
Anders aber als bei Feldbusch, ist das Markenzeichen der Little S nicht etwa, das Dummchen zu spielen, im Gegenteil sogar, ihre Rede vor der Kamera wimmelt nur so von Sätzen klugen Geistes. Die Tatsache, dass die Show nach Kanqi, einem Kaiser der Qing Dynastie benannt ist, macht deren Konzept sehr deutlich: eine schöne Frau mit großer Oberweite plus eine Portion der von Taiwanesen fast religionsartig verehrten Bildung.


Dewi lässt es sich nicht nehmen, Dürer bis zu den Stufen der Bühne zu begleiten, schubst ihn geradezu das kleine Treppchen hinauf, zischt ihm ins Ohr: „Spiel nur dich selbst, Dürer!“ „Ganbei!“, sagt Dürer einmal laut, steht sogleich im Rampenlicht, gutaussehend, frisch, und vor allem fähig, von der ersten Sekunde an die Moderatorin, die anderen Kandidaten, das Studiopublikum und hunderttausende von Fernsehzuschauern mit einem köstlichen Humor in seinen Bann zu ziehen.
Schon während der Show ist es den Produzenten mehr als klar: `Dürer` wird zur festen Rolle, mit Handschlag, Vorschuss und Vertrag verpflichten sie den Deutschen zu einem Jahr wöchentlicher Aufzeichnungen.


Nun hätte Dürer mit seinem ersten festen Gehalt eigentlich auch eine eigene Wohnung mieten können, macht das aber nicht, sondern bleibt mit Dewi in Neihu bei der blinden und tauben Mutter des Fabrikbesitzers wohnen. Die Gründe liegen auf der Hand: Der Kühlschrank ist immer voll und Dürer hat noch längst nicht jeden der Filme des immer abwesenden Hausherren gesehen.


Es geht ihm gut, dem Dürer, längst sind die Tage und Nächte unter der roten Backsteinbrücke in Hamburg vergessen. Es geht ihr gut, der Dewi, in keiner Minute des Tages fühlt sie sich noch als das, wofür sie vor kurzem noch galt, eine Magd, eine billige südostasiatische Arbeitskraft, denn in Wirklichkeit ist sie jetzt viel mehr, nämlich Muse und Mentorin des berühmtesten Ausländers von ganz Taiwan.


Manchmal ist es so, dass sich vor der Wendung des Schicksales eines Menschen zum Schlechten hin eine böse, ungute Ahnung wie eine dunkle Wolke aufzieht. Doch in Dürers und Dewis Fall kommt es plötzlich und unerwartet, kein flaues Gefühl kündet von Untergang und Verlust, gar nichts dergleichen: Dewis Boss kommt unangekündigt zurück nach Taipeh und erwischt Dürer in des Hausherrens eigenem Pyjama beim Videospielen in des Hausherren eigenem Bette lümmelnd.
Der Mann klappt sein Handy auf, keine zehn Minuten später werfen Streifenpolizisten Dürer aus dem Haus, keine dreizig Minuten später ist Dewis Arbeits –und Aufenthaltserlaubnis gestrichen und ihr Name auf die schwarze Liste der taiwanesischen Einwanderungsbehörde gesetzt. Dewi widerfährt, was jeder indonesischen Magd widerfährt, die es wagt, sich mit ihrem Boss anzulegen: Ausweisung und keine Möglichkeit, je wieder ins Land einzureisen.
Und wie sie die Polizisten in den Streifenwagen drücken, hört Dewi noch Dürers herzzereißenden Ruf: „Ich komme nach Indonesien und heirate dich! Warte auf mich!“




3.

Zu groß ist der Schmerz, für Tage und Nächte kann Dürer keinen klaren Gedanken fassen. Wie geronnen so zerronnen, sagt man, aber so einfach ist das nicht. Dürer weiß, dass für ihn ein Leben ohne Dewi keines ist, und auch nie eines sein werde.

Dürer macht etwas, was er noch nie in seinem Leben getan hat: Er fragt andere um Rat.
Die Leute vom Fernsehen, die fragt er nicht, denn jene wissen, so Dürers Einschätzung, nichts vom Leben. In den Bahnhof zieht es ihn, dorthin, wo sein Taiwanabenteuer einst begann, zu East 3, dem automatisch öffnenden und schließenden gläsernen Eingangstor.
Er erzählt dem Kassierer des kleinen Reisebedarfsladens, in dem er zuvor oft sein Bier kaufte; er erzählt den Indonesierinnen, die sich vom Sonntagvormittag an versammeln, und er erzählt den zwei Bahnhofspolizisten - dem dicken, der kurz vor dem Rentenalter steht, und dem jungen, der Englisch spricht.
Ihnen allen erzählt Dürer von seinem Schmerz, und jeder der Befragten nimmt sich die Zeit, ein bisschen nachzudenken.
Alle geben Dürer den gleichen Rat: „Flieg nach Indonesien, heirate Dewi dort und bring sie als deine angetraute Ehefrau wieder zurück nach Taiwan. Danach machst du mit deiner Fernsehkarriere weiter.“

Dürer erhält einen Vorschuss auf die Gagen der nächsten zwei Shows, ganz genau elf Tage hat er Zeit für seine Mission.
Dass Dewi aus der indonesischen Hauptstadt Jakarta kommt, das wußte er, aber eine Adresse oder Telefonnummer gegeben hat sie ihm nicht. Niemals hätten die beiden gedacht, dass dieses Versäumnis nun so sehr wahrscheinlich zu einem Ende ihrer Liebe führen würde.

Dürer fährt zum Flughafen, durchquert die Passkontrolle, fliegt nach Jakarta, durchquert noch eine Passkontrolle – aber dass das der Pass eines Fremden ist, den er da den Zollbeamten auf den Tresen legt, diese Tatsache hat Dürer längst verdrängt.

Jakarta ist eine riesen Stadt und obwohl die indonesische Sprache sich des ABCs bedient, also nicht wie bei seiner Ankunft in Taipeh ihn die bunten chinesischen Schriftzeichen auf Neonreklamen und Großbildschirmen verwirren, sind es zwei andere Faktoren, die Dürer so überwältigen, dass er fast ohnmächtig wird: die folternde Hitze und der ätzende Geruch von Kerosin, mit dem in Indonesien gekocht und wohl auch oft mal um Steuern zu sparen ein Auto oder Motorrad betankt wird.

Dürer druckt sich ein Foto von Dewi aus, und so beginnt er noch am ersten Tag ein scheinbar hoffnungsloses Unterfangen. Er läuft und läuft durch die Stadt, durch Kaufhäuser, über Märkte und durch engste Gassen, und zeigt jedem, der willig ist, kurz stehenzubleiben, Dewis Foto.

Tage vergehen und am sechsten Tag sagt einer der tausenden Befragten: „Ja, die kenne ich, ich weiß wo sie wohnt.“
Der Mensch, der diese Worte spricht, der Mensch, der da vor Dürer steht und Dewis Bild in den Händen hält, ist ein Bettlerjunge. Zehn, zwölf Jahre ist er wohl alt und sehr deutlich wiederholt er seine Worte: „Ja, die kenne ich, ich weiß wo sie wohnt.“
Dürers Blick verschwimmt für einen Augenblick, doch sofort danach hat er schon keinen Zweifel mehr: Wenn dieser kleine Junge im viel zu großen roten Trikot eines englischen Fußballklubs nicht die Wahrheit sagt, dann zumindest nicht mit Absicht. Der bestimmte Ton und die selbstvertrauende Miene des Kleinen ist für Dürer Beweis, dass sein Gegenüber entweder Dewi wirklich kennt oder eine Verwechslung vorliegt. Doch als der Straßenjunge sagt: „Ich bring dich morgen zu ihrem Haus“, ist sich Dürer sicher, dass das letztere nicht der Fall sei.
Dürer kennt die Regeln der Straße, wie sollte es auch anders sein, er hat ja selber lange Zeit von den erbettelten fünzig Cent Stücken der Hamburger Passanten seinen Korn gekauft. Die Regeln der Straße sind überall gleich, ob im neblig-kalten Hamburg oder in der schwül-heißen indonesischen Hauptstadt Jakarta; Dürer greift sich in die Tasche, zieht ein Knäuel Banknoten heraus und stopft es dem Jungen so ungeschickt in die Hand, dass dieser Mühe hat, sie beisammen zu halten. „Treffen wir uns morgen früh um acht hier!“, sagt der Kleine und geht weiter.

Dürer schläft nicht gut in dieser Nacht und nachdem er sich lange im Hotelbett hin-und hergewältzt hat, macht er etwas, was er seit jenem Sonntag, an dem er Dewi kennenlernte, nicht mehr getan hat: Er leert eine Flasche Whisky, allein, erst aufgeregt wie ein Kind, dann allmählich so zweifelnd und schwermütig werdend wie ein alter kranker Mann.


Am nächsten Morgen wartet Dürer eine Weile auf den Bettlerjungen am vereinbarten Platz. Vor ihm ist ein kleiner Park, in dem chinesische Senioren Frühgymnastik treiben. Wie Taipeh sieht das aus, denkt Dürer sich, und es ist, als ob vor seinem inneren Auge jede Sekunde, die er mit seiner geliebten Dewi je verbrachte, wie eine Sequenz von Fotos vorrüberziehe.
Ein kleiner Schubs reißt Dürer aus seinem Tagtraum, es ist der Junge. „Ich habe Hunger“ ,sagt dieser, hält die Hand auf. Der Deutsche steckt ihm wie schon am Tag zuvor ein paar Scheine zu, wartet noch, bis der Indonesier einen Teller Reisporree gekauft und weggelöffelt hat.
Bei einem Fläschchen Cola dann spricht der Junge zum ersten Mal wirklich von dem, was er über Dewi weiß, und darüber, wie er bereit ist, Dürer zu helfen: „Du hast nicht das kleinste bisschen Zeit zu verlieren, Misterrr!“, der Junge rollt wie alle Indonesier das `r` viel zu hart und redet jeden Ausländer - sei es Mann oder Frau - mit `Mister` an.
Er fährt fort: „Sie ist dem Sohn des Holzhändlers versprochen. Der Holzhändler ist ein Mann mit Geld, doch sein Sohn hat nichts Gutes im Herzen...“
„Also?“, stammelt Dürer hilflos, sich jetzt so sehr bewußt, dass sein Schicksal von diesem Straßenjungen im rotem Trikot abhängt.
Es ist, als seien die Rollen vertauscht, das weise Kind belehrt den Erwachsenen, der selber keinen klaren Gedanken zustande bringt.

In Jakarta gibt es keine U-Bahn, Busse quälen sich durch die immer verstopften Straßen. Taxis gibt es viele und als eine exotische Besonderheit noch die Bajajs - die dreirädrigen Motorrikschas.
Bajajs sind aus rotem Blech, Sperrholzplatten und Plane zusammengenagelt, der Fahrpreis ist mit dem Fahrer auszuhandeln. Sie sind laut und stinkend, aber haben einen entscheidenen Vorteil, nämlich dass man mit ihnen auch in die engsten der abertausenden Gassen Jakartas gelangen kann.

Der Junge und Dürer zwängen sich in ein Bajaj und rumpeln den halben Vormittag über tiefe Schlaglöcher und durch beißenden Smog.
Als der Fahrer die fahrende Kiste zum Stehen bringt und der Junge Dürer aus ihr herausdrückt, ist der Deutsche längst völlig durchgeschwitzt - pitschnass ist sein Haar und alles, was er am Leibe trägt.
Die beiden stehen vor dem Eingang eines Wohnviertels, das, wie mit engen Gassen mit und offenen Abflussgräben an deren Seiten und unzählbarer aus Sperrholz, Mörtel und seltsamerweise sehr deutsch aussehenden Dachziegeln gebauten zweistöckigen Häusschen, zwischen den Hochhäusern Jakartas wie Unterholz zwischen Baumriesen zu wachsen scheint.

Ein etwa drei Meter hoher Torbogen überspannt den Eingang des Viertels. Er ist mit Blumen geschmückt, und Dürer kann erahnen, dass die Worte auf ihm Glückwunschslogans zum indonesischen Nationalfeiertag seien.
Die beiden laufen ein Stück, der Junge immer Dürer einen Schritt voraus. Jeder, der auf den Gassen läuft oder vor den Häusschen sitzt, beachtet Dürer, das ist offensichtlich, wohl nicht oft laufen Weiße hier herum.

Dieser Umstand fällt dem Straßenjungen auch auf, er erklärt: „Näher an Dewis Haus heran kannst du nicht, du fällst zu sehr auf. Warte hier auf mich!“

Vor ihnen ist eines der mobilen Kiosks die man in Indonesien an jeder Straßenecke sieht. Ein Kasten mit zwei Fahrradrädern dran, eine Stange zum Schieben und eine Glasvitrine mit einem ausziehbaren Planendach darauf. Unter dem Planendach steht ein niedriges Holzbänkchen, der Junge weist Dürer an, sich dort hinzusetzen und zu warten.
Er greift eine Flasche Cola, deutet Dürer mit einem Nicken an, diese zu bezahlen und verschwindet in dem Labyrinth der Gässchen.
Dürer sitzt und wartet und schwitzt. Es ist so brütend heiß, es ist, als ob eimerweise Schweiß an Dürer herunterlaufe.

Der Vormittag und Mittag vergeht. Die Leute sind freundlich zu dem auf der Holzbank sitzenden Deutschen. In Abständen setzt sich mal der eine oder andere zu ihm, fängt eine kleine Unterhaltung an, die dann jedesmal schnell zum selben Thema führt: Fußball.
Sobald Dürer seine Nationalität erwähnt, geht es um die Bundesliga, um den HSV und St. Pauli, und ein alter Mann berichtet sogar von der freundschaftlichen Beziehung Felix Magaths mit der früheren indonesischen Präsidentin.
Dürer hält sich kurz mit den Antworten zu den vielen Fragen die ihm gestellt werden, die schwüle Hitze führt dazu, dass er sich so unwohl fühlt in seiner Haut wie nie zuvor.
Außerdem suchen seine Augen fieberhaft nach dem Bettlerjungen, der doch bitte bald mit Dewi die enge Gasse herunter gelaufen komme.

Am frühen Nachmittag sitzt Dürer immer noch, Gruppen von Schulkindern in weißen Hemden fröhlich schwatzend an ihm vorbeilaufend: „Bakbakbakbak“, es hört sich genauso an wie Dewis Freundinnen im Taipeher Bahnhof.
Und als dann um halb sechs die Muazzine von den Minaretten über den Gassen zum Abendgebet rufen, da endlich fällt Dürers Blick auf den Bettlerjungen, der da, allerdings ohne Dewi, mit einer Cola in der Hand aus einer Seitengasse kommt.
Jener läuft nicht gerade, als wenn er in Eile wäre, ganz langsam schlürft er mit seinen Plastikbadelatschen und rotem Trikot auf Dürer zu.
„Dafür sollte ich dir eigentlich eine reinhaun, du Arsch,“ hätte Dürer fast gesagt, will es aber dann doch nicht riskieren, es sich mit dem Kleinen zu verderben.

Der Junge setzt sich nicht neben Dürer, selbstbewußt weist er an: „Wir fahren zurück, ich hab alles klargemacht.“
„Was hast du klargemacht, wo ist sie?“, fragt Dürer, große Mühe habend das Verlangen zu unterdrücken, den Kleinen, der ihn fast neun Stunden ohne Nachricht und obendrein ohne jegliche Entschuldigung schwitzen ließ, am Kragen zu packen und an die Wand zu drücken. Dürer fragt noch einmal: „Was hast du klargemacht?“
Der Junge, wie schon am Morgen, läuft immer zwei Schritte voraus, sagt: „Dewi läuft morgen hier vorbei. Wir parken ein Bajaj hier, du sitzt drin, und wenn sie kommt, schnappst du sie dir.“
„Morgen?“, stammelt Dürer, „um wieviel Uhr?“
„Morgen oder Übermorgen, wenn du nicht willst, laß es sein!“, blöfft der Straßenjunge ganz professionell, er weiß ja, der Deutsche hat keine Wahl. Er weiß auch, dass da am Ende der Geschichte so oder so ein ganzer Batzen Geld für ihn selbst rauspringen werde.

Natürlich hat Dürer keine Wahl, er hat ja nicht viel Zeit, der nächste Show- Aufzeichnungstermin rückt immer näher. Dürer geht zurück in sein Hotel und leert wie auch am Abend zuvor eine ganze Flasche Whisky allein aus.
Auf den nächsten Tag wird alles ankommen, also behält Dürer trotz des Alkohols einen klaren Kopf. Der Plan des Jungen enthält eine unbekannte Größe, und das ist die Uhrzeit, an der Dürer Dewi in das Bajaj zerren werde.
Hätte Dürer Glück und es wäre noch am Vormittag, dann würden er mit Dewi im Bajaj zur deutschen Botschaft rasen und eine Emergency-Heirat in der Botschaft selbst einfordern. Auf Leben und Tod gehe es, das würde Dürer dem Personal dort schon klarmachen, und dass neben Priestern und Kapitänen auch Botschafter das Recht haben zu trauen, das weiß Dürer.

Ein Umstand, eigentlich längst verdrängt und vergessen, fällt Dürer über die Flasche Whisky wieder ein: Der Mensch in Dürers Pass ist nicht Dürer.
Die Botschaft werde die Personalien prüfen, und wenn der Pass als gestohlen gemeldet oder der rechte Passinhaber schon verheiratet wäre, dann würde Dürers und Dewis Eheschließung zweifellos blitzschnell ungültig erklärt.
Aber: Zwischen Indonesien und Deutschland liegen sieben Stunden Zeitunterschied, bei einer Trauung am indonesischen Vormittag wäre es in Deutschland noch tiefste Nacht.
Die Botschaft erführe frühestens am späten Nachmittag von dem Passschwindel, doch dann hätten Dürer und Dewi schon bei der taiwanesischen Botschaft ein neues Visum für Dewi geholt und wären in Taipeh angekommen.

Das Dewi ein Visum bekommt, daran hat Dürer keinen Zweifel, das hatten ihm die Taipeher Bahnhofspolizisten und der Typ, der im Reisebedarfsladen Bier verkauft, ja erklärt. Als angetraute Ehefrau eines deutschen Staatsangehörigen werde Dewi selbstverständlich in Taiwan willkommen sein.

Für den Bajajfahrer ist es ein perfekter Tag: Dürer bezahlt den vollen Tag, aber er muß, nachdem er sein Gefährt mit dem Deutschen auf dem Rücksitz in der Gasse positionierte, nicht mehr fahren, sondern kann sich an einem schattigen Plätzchen aufs Öhrchen hauen.

Dürer sitzt und schwitzt, und plötzlich: „Mann, hab ich ein Glück!“, Dürer kann ein lautes Jubeln kaum unterdrücken, denn Dewi kommt da tatsächlich um die Ecke.
Ein Griff, Dewis unterdrückter Schrei, Dewis Blick - sofort Dürer als den erkennend, der sie da in das Bajaj zieht - der Kuss, die Freudentränen, und dann springt Dürer selber auf den Fahrersitz, startet und rast los mit dem entführten Bajaj.

Nach einer wilden Fahrt bremst Dürer vor dem Eingangstor der deutschen Botschaft. Ganz weiß ist sie mit einem grünen Rasen davor, aber was das schönste ist, ist die Bundesfahne wie sie da weht – wohl zum ersten Mal ist Dürer stolz auf sein Vaterland.

Sie stürmen hinein, Dewi und er, scheren sich nicht um die anderen Wartenden. Dürer zieht keine Wartenummer, sondern schreit sofort durch die Sprechöffnung im Plexiglasfenster des Schalters: „Trauen Sie uns! Sofort! Es geht um Leben und Tod!“

Die Frau am Schalter sagt, dass das nicht so ginge, doch Dürer schreit, das müsse sein. Die Frau wiederholt sich nochmal, lauter und ganz, ganz deutlich. Dürer schreit weiter, und dann endlich öffnet sich dieTür hinter der Frau am Schalter. Ein Mann mittleren Alters in Hemd und Krawatte erscheint, raunt der Frau ins Ohr und verschwindet wieder. Die Frau steht auf, spricht zu Dürer: „Gehen Sie durch die Tür hinten links, der Konsul wird Sie trauen.“

Als Mann und Frau rasen sie wieder los im Bajaj, und als sie dann in dem Hochhaus, das die taiwanesische Botschaft beherbergt, vor dem Fahrstuhl stehen, küsst Dewi ihren Ehemann und sagt auf Deutsch: „Du bist mein Held, Dürer!“

Doch Dürers Glück ist nur von sehr kurzer Dauer, die daraufhin folgenden Ereignisse in der taiwanesischen Botschaft verlaufen so ganz, ganz anders, als von Dürer erhofft. Dürer bekommt sein Visum, natürlich, denn er ist Deutscher, aber über Dewis Visum ist die Frau hinter dieser Plexiglasscheibe nicht bereit, auch nur eine Minute zu diskutieren: Dewis Name ist und bleibt auf der schwarzen Liste, ob sie die Frau eines Deutschen, Franzosen oder Marsmenschen sei.
Dürer fliegt allein zurück nach Taipeh, zum zweiten Male trennt das Schicksal so brutal die beiden Liebenden.




4.

Dewis Lage gleicht einer Zwickmühle. Ihr Vater hatte sie dem Sohn des Holzhändlers versprochen, aber sie war mit Dürer durchgebrannt.
Natürlich, Dewis Familie wußte davon noch nichts, denn sie war noch nicht einmal einen ganzen Tag weg. Aber, die Eheschließung mit Dürer war durchaus amtlich registriert. Sehr bald träte die Geschichte ans Tageslicht, und wie solle Dewi das ihren Eltern erklären können?

Also bleibt Dewi in Jakarta bei Freundinnen, die, wie sie selbst einst in Taiwan und Hong Kong als Mägde gearbeitet hatten. Ihrer Familie erzählt Dewi, dass sie sich spontan für weitere zwei Jahre in Taipeh verpflichtet hätte, denn so würde jene ihr nicht allzu böse sein, schließlich setzten sich auf diese Weise Dewis monatlichen Überweisungen von den für indonesische Verhältnisse recht stattlichen zweihundertfünfzig Euro fort.

Nach einigen Stunden tränenreicher Verzweifelung nimmt der Indonesiern ureigene Optimismus in Dewis Gefühlswelt wieder die Oberhand an. Eines weiß sie gewiss, darauf ist Verlass: Ihr Ehemann Dürer werde wiederkommen, auch wenn dieser Berg und Tal versetzen müsse.


Dürer hat keine Wohnung in Taipeh, also checkt er in ein Stundenhotel ein. Stundenhotels gibt es in Taipeh so viele wie in Hamburg Zigarettenautomaten; einige sind düstere Absteigen in dunkelsten Gassen, andere gleichen Freizeitsparks mit Themenzimmern: Piratenzimmer, U-Bahnabteilzimmer, Folterkammerzimmer und so weiter.
Der Grund dafür, dass es von den Stundenhotels so viele gibt, liegt darin, dass Taiwanesen bis zur Heirat bei ihren Eltern wohnen. Das ist eigentlich nur die halbe Wahrheit, denn erstgeborene Söhne und deren Ehefrauen bleiben für immer bei Vater und Mutter. So war es immer schon, so hatte Konfuzius es aufgetragen und so bleibt das auch, da kann die junge Generation noch so moderne Handys und Haarschnitte haben.

Also: Wer unverheiratet ist, aber trotzdem die eine oder andere Art von sexueller Aktivität ausüben will, der geht in ein Stundenhotel. Ferner wären da natürlich noch die bereits Verheirateten, die vor ihren Familien gewisse Geheimnisse haben, denn die sechzig Minuten Tarife passen sehr gut zu der in Taiwan üblichen langen Mittagspause.


Das Hotel, in das Dürer geht, ist nichts besonderes, aber es ist nur ein kurzer Fußweg zu seinem Fernsehstudio und es ist billig.
Dürers Zimmer ist auf B3. `B` steht für basement, also Keller, und die 3 dafür, dass es das dritte Kellergeschoss ist, wohl um die fünfzehn Meter unter der Straßenoberfläche.
Das hat den Vorteil, dass man vom Verkehr nichts hört, und, so hätte Dürer vielleicht gedacht, wäre er nicht zu verzweifelt für solcherlei sarkastischer Gedankenspielereien, seie B3 obendrein bestimmt auch atombombensicher.

Dürer ist müde und zu kraftlos, klar zu denken, zu kraftlos, große Pläne zu schmieden.
Was war das auch für ein unglaublicher Tag gewesen: die Fahrt im gestohlenen Bajaj, die deutsche Botschaft, die taiwanesische Botschaft, der Flug von Jakarta nach Taipeh.

Dürer, den Rucksack noch umgeschnallt, knippst das Licht an in seinem neuen Gemach, und stünde er jetzt unter anderen Umständen dort, entführe ihm sicher ein lautes „Nanu!“.
Doch das bizarre Bild, das sich ihm da bietet in diesem Zimmer auf B3, das nimmt Dürer kaum wahr. Er legt sich auf das Bett und schläft sofort ein.

Das besagte „Nanu!“ entfährt Dürer erst am nächsten Morgen. Die Decke des Zimmers ist ein einziger Spiegel, so auch die vier Wände. Wie in einem Spiegellabyrinth auf dem Kramermarkt sieht Dürer seinen nackten Hintern viele, viele Male multipliziert. Doch nicht genug der grandiosen Geschmacklosigkeit, denn das, was Dürers Augen dann entdecken, bringt den gefühlsmäßig hart angeschlagenen Liebeskranken zum lauten Schluchzen: In der Ecke des Zimmers steht ein monströser gynäkologischer Behandlungsstuhl mit Spiegelstativ, Nierenschale und dem ganzen Pipapo!

Das ist zuviel für den Guten, er knippst das Licht wieder aus, und es ist so dunkel, wie es dunkel nur sein kann. Kein Lichtstrahl dringt durch die Ritzen dieses Verließes, dort unten, fünfzehn Meter unter dem Asphalt der Straßen.


Dürers Zustand ist kein guter, aber bei der ersten Aufzeichnung seiner Fernsehshow nach seiner Wiederkehr bemerkt das nicht nur niemand, Dürer ist sogar witziger als sonst.
Dieses war schon immer eine besondere Eigenart Dürers Wesens: je schlechter er sich fühlt, desto kontrollierter seine Worte, seine Sätze, seine Witze – Dürers Gegenüber ahnen nichts von Schwere und Schwärze in Dürers Innerem.

Das Publikum tobt vor Begeisterung, den Produzenten fällt ein Stein vom Herzen; sie waren nervös, als Dürer den Vorschuss verlangte, sie waren noch nervöser, als Dürer ihnen mitteilte, dass er nach Indonesien wolle. Aber jetzt - alles ist wieder gut, denken sie, die Quoten stimmen, der Rubel rollt.


Dürers Erfolg bringt sogar das Entstehen eines gewissen, wenn auch nicht übermäßig wichtigen, sozialen Phänomens mit sich: Dürer ist deutsch, und die Leute mögen ihn so sehr, dass so mancher Taiwanese sich vornimmt Deutsch zu erlernen.
Traditionell ist Deutsch nach Englisch, Japanisch, Französisch und Spanisch die fünfte Fremdsprache auf der Beliebtheitsskala der vielen Sprachschulen Taipehs, aber nun überholt Dürers Muttersprache – dank Dürers Popularität - Spanisch und Französisch, und bedrängt sogar die ewig zweite, die japanische Sprache, auf ihrem Rang.


Alles läuft bestens für Dürer, außer natürlich die Sache mit Dewi, denn jene ist zu weit von ihm entfernt. Was das schlimmste für Dürer ist, ist dass ihm kein Plan einfällt, er weiß immer noch nicht, wie er seine Ehefrau nach Taiwan bringen könne. Wie nur, wie nur, wie?

Spät am Abend schlürft Dürer die Straße entlang zu seinem Stundenhotel, so müde, dass ihn nicht mal der Gedanke an die Spiegel und den gynäologischen Stuhl stört.
Er geht durch die Eingangstür und dann in den Fahrstuhl. Er drückt B3, die Tür schließt.
Sekunden später schlürft er über den Flur, den Schlüssel aus der Tasche fingernd. Fast wäre Dürer gestolpert, und dann sieht er, dass drei Männer am Ende des Flures vor seiner Tür stehen.
Jene betrachten Dürer mit einem hektischen Ausdruck, es ist klar, dass die drei auf Dürer warten. Es ist zu spät um abzuhauen, doch Dürer fühlt ganz, ganz bestimmt, dass da nichts Gutes auf ihn zukomme. Dürer bleibt stehen, die Drei kommen auf ihn zu. Dürer erwartet schon die Griffe nach seinem Arm, denn nun ist es ihm sonnenklar, dass das Zivilpolizisten sind. „Seit ihr Bullen?“, fragt Dürer auf chinesisch, und diese so brutal direkt gestellte Frage nimmt der Dreier-Gruppe ganz offensichtlich ein gutes Stück Entschlossenheit.
Sie halten inne und räuspern sich.
Der eine hält Dürer recht verlegen ein Foto hin. Dürer nimmt es an, und sofort wird ihm sehr flau im Magen, denn das Foto ist das gleiche wie das Foto in Dürers Pass.
Der Taiwanese, der Dürer das Foto gegeben hatte, räuspert sich noch mal, fragt: „Kennen Sie den Mann? Er ist Deutscher, wohnt der hier im Hotel?“
Das flaue Gefühl in Dürers Magen ist sofort verschwunden, der Gedanke: „Ich Idiot, das sind doch keine Hamburger Bullen hier, diese taiwanesischen haben doch sowieso überhaupt keine Peilung!“, blitzt ihm durch den Kopf. Dürer antwortet in sich entschuldigendem aber auch superselbstbewußtem Ton: „Ich bin Türke, Deutsche kenne ich nicht.“
Dürer schiebt sich an den dreien vorbei, schließt die Zimmertür auf, setzt sich auf das Bett, und betrachtet einen Moment sein in den Spiegeln vervielfachtes Selbst. „Ist das ein Stress,“ säufzt er, knippst das Licht aus und schläft ein.



5.

„Was wollen die Bullen von mir?“ – Diese Frage stellt sich Dürer, doch natürlich kennt er auch die Antwort. Sein Pass ist schlecht, und aus irgendeinem Grund haben die Behörden davon Wind bekommen. Die deutsche Botschaft in Jakarta - der Datenabgleich mit dem Einwohnermeldeamt in Hamburg nach der Blitztrauung als Dürer schon im Flugzeug nach Taipeh saß – der Computer der Passkontrolle in Jakarta – die Passagierliste der Fluggesellschaft – der Computer der Passkontrolle in Taiwan: dieser Ablauf ist ganz einfach nachvollziehbar, aber wie die Polizei dann letztendlich vor die Zimmertür Dürers kam, das ist Dürer schleierhaft.

Wie auch immer, anders als jene drei Herren in Zivil ist Dürer nicht auf den Kopf gefallen, auf genialste Dürer-Weise abgewimmelt hat er sie. Doch es werfen sich unangenehme Fragen auf, und eines ist Dürer sonnenklar: den Pass, den Flasche vor nun fast einem Jahr in der öffentlichen Toilette hinter dem Spielbudenplatz gefunden hatte, den kann Dürer auf keinen Fall noch einmal einem Uniformierten unter die Nase halten.


Dürer sitzt im Schneidersitz in seinem Kellerzimmer auf dem Fußboden vor dem gynäologischen Behandlungsstuhl. Einem Stück Pappe und eines Kugelschreibers bedient er sich, um seine Gedanken zu ordnen und die Lage, in der er sich befindet, kühl und präzise einzuschätzen.

Ganz rechts auf die Pappe malt er etwas, das wie ein Teeblatt aussieht, und schreibt `Taiwan` drauf. Auf die Ecke rechts unten kommen dann dutzende kleine Kreise - Dürer macht sich nicht allzu große Mühe mit der Geographie des Archipelstaates Indonesien, nur die Insel Jawa in der Mitte der Kreise zeichnet er etwas liebevoller, denn dort liegt Jakarta, und dort wartet Dewi auf ihn.

Weit, weit links oben zeichnet Dürer dann ein Kreuz und neben das Kreuz zwei große `H`s. Jene stehen für Hamburg, denn Hamburg ist das Ziel, Dürer muß einen Weg finden, Dewi dort hinzubringen.
Die Flächen zwischen Taiwan, Indonesien und Hamburg straffiert Dürer mit feinen, schrägen Kugelschreiberstrichen. Diese Flächen sind das Meer.
„Wie komme ich von einer Insel auf die andere, wenn ich keinen Pass habe und darum nicht mit dem Flugzeug fliegen kann?“, fragt sich Dürer und: „Wie komme ich ohne Pass nach Hamburg rein?“, und, da Dürer damit rechnen muß, dass seine Eheschließung mit Dewi aufgrund falscher Personalien längst annuliert sei, brütet er noch darüber, wie er Dewi am Ende nach Deutschland einschleusen könne.
„Ich Idiot!“, ruft Dürer plötzlich aus, „Ich brauch ein Boot!“ Und zum ersten Mal nach langer Zeit lacht Dürer wieder und brüllt hinaus sein triumphalstes „Ganbei!“

Dürer schreitet in seinem kleinen Spiegelzimmer im B3 auf und ab - wie der verbannte und eingekerkerte Napoleon in dessen Zelle auf der Insel Elba sieht das aus. Mit entschlossener Miene und fester Stimme spricht Dürer zu sich selbst: „Ich laß mir das Boot bauen, segel nach Jakarta und hol Dewi ab!“

Ein Segelboot soll es sein und Segelboote sind teuer, doch an Geld fehlt es Dürer nicht. Navigation ist das Problem. Dürer will allein segeln, keinem Menschen wird er sich anvertrauen, doch wie man segelt, weiß er nicht. Er hatte noch nie einen Kompaß, geschweige denn eine Seekarte in den Händen gehabt, also, so ist ihm klar, werde er sich alles, was man über Schifffahrt so wissen müsse, selber beibringen.


Eine Eigenart Taiwans bereitet Dürer obendrein noch Kopfzerbrechen: Seitdem die Truppen Chiang Kai-Schecks fünzig Jahre zuvor den Bürgerkrieg gegen die Kommunisten Maos auf dem chinesischen Festland verloren haben und sich der geschlagene Generalissimo mit seinem ganzen Staat auf der Insel Taiwan verschanzte - seitdem liegen Taiwan und China im Quasi-Kriegszustand. Fünzig Jahre lang Tag für Tag und Nacht für Nacht befürchten die Taiwanesen nun schon die große Invasion, und da jene zwangsläufig über den Seeweg erfolgen müsse, ist jeder Hafen, jeder Strand zur Festung ausgebaut und überwacht. Zivilisten dürfen nicht einfach in Booten oder Jachten um die Insel fahren, also muß es Dürer gelingen, unbemerkt wegzusegeln.

„Unbemerkt wegsegeln - das wird nicht leicht mit den ganzen Radarstationen!“, grübelt Dürer, jetzt erst seinen Napoleon-Schritt beendend, sich in den Spiegeln seines Zimmers musternd. Dürer spricht zu den hunderten reflektierten Dürern, die da vor, neben und über ihm stehen: „Es müsse in der Nacht sein, in einer Nacht,
in der mich die Küstenwache nicht verfolgen würde. Und welche Eventualitäten würden so eine Nacht zustande kommen lassen? Kriegsausbruch? Erdbeben? Fußballweltmeisterschaftsendspiel mit Taiwan dabei? Alles Quatsch!“, sagt Dürer und hat schon wieder sein geniales Lächeln auf dem Gesicht. Er spricht sie aus, die Lösung: „Taifun-Nacht! Ganbei!“

Der Zyklus der Natur bestimmt fortan Dürers Zeitplan. Drei bis vier Taifune gibt es so im Jahr, die ersten im Juli, die letzten Ende September. Es gibt Taifune mit viel Wind, es gibt Taifune mit viel Regen, und es gibt Taifune mit viel Wind und Regen. Und über den Daumen gepeilt könne man sagen, dass je später im Jahr, desto stärker der Taifun.
Dürer möchte ganz sicher gehen und den stärksten, also spätesten Taifun abwarten. Doch so wird es zum Pokerspiel, denn Taifune sind unberechenbar – wenn er die ersten drei verstreichen läßt, könnte es sein, dass kein vierter mehr komme, und dann müßte Dürer ein weiteres Jahr warten.

Mit dem Bau der Jacht läuft alles bestens. Er hat eine Werkstatt gefunden, die das ganz schwarz erledigt – keine Steuern, keine Behörden, kein einziges geschriebenes, unterschriebenes Wort. Nur der Handschlag gilt und im Juni, zwei Monate nach Baubeginn, streicht Dürers Hand zum ersten Mal über den fertigen, aber noch nicht lackierten Rumpf. „Ganbei!“, flüstert Dürer so glücklich, dass Freudentränen auf das Fieberglas fallen. „GANBEI wird sie heißen!“, sagt Dürer und er stellt sich den Bootsnamen in roten Großbuchstaben auf den schnittigen Rumpf gemalt vor.
„GANBEI wird sie heißen!“, sagt Dürer noch einmal, und die Arbeiter in der Werkstatt sehen deutlich Dürers Tränen.

Der erste Taifun verstreicht mit viel Wind und wohl auch dem einem oder anderem Todesopfer im tiefen Süden der Insel. Gefährlich ist an sich nicht der Sturm selbst, denn Taiwans Gebäude sind aufgrund hoher Erdbebengefahr nicht gemauert oder aus gewöhnlichem Stahlbeton gebaut. Die üblichen Konstruktionen, wie man sie in anderen Ländern sieht, dass heißt eine Holzschalung in die erst geflochtenen Stahlkörbe gestellt, dann Beton hineingegossen und, nachdem der Beton ausgehärtet ist, die Holzschalung abgebaut wird, ist in taiwanesischen Städten durch eine massive Stahlträgerkonstruktion ersetzt. Jene bezweckt, dass im Falle eines starken Erdbebens ein Gebäude nicht etwa in sich zusammenstürzen, sondern im schlimmsten Falle einfach als ein Ganzes umkippen würde.

Der Killer Nummer 1 in den Städten bei starkem Wind sind durch die Luft wirbelnde Werbeplakatwände, die man auf und an jedem Gebäude sieht. Oft sind diese auf schlampigste Weise von Handwerkern, die in Taiwan während der Arbeit gerne eine berauschende Palmnußart kauen, deren Wirkung mit der minderwertigem Kokains zu vergleichen ist, mit Draht, Schrauben und Nägeln gefährlich fahrlässig an den Fassaden angebracht.

Der zweite Taifun, der genau an jenem Wochenende das Land mit der durchschnittlichen Niederschlagsmenge eines halben Jahres überzieht, an dem Dürer seine fertiggestellte GANBEI übergeben wird, dieser Taifun, so entscheidet Dürer, solle der letzte sein, den er verstreichen lassen wolle. In der ersten Nacht des nächsten, des dritten Taifuns werde Dürer, egal ob es ein Regentaifun oder Windtaifun werde, in See stechen.


Aufgrund der gesetzlichen Lage kann Dürer nicht einfach seine GANBEI in einem Hafen zu Wasser lassen, denn er hatte ja keine Ausnahmegenehmigung, mit der er als Zivilist auf Gutdünken um die Insel segeln dürfte.
Dürer mietet sich eine Halle, die zuvor eine Autowerkstatt beherbergte. Die Halle steht frei in Mitten von Reisfeldern, nur einen Kilometer von der Küste entfernt. Dürer hatte dort in der Nähe ein verfallenes Pier entdeckt, genauer gesagt eine Betonrampe, die in Wasser führt, das ausreichend tief zu sein scheint, die Jacht einzulassen.
In der Halle steht sie stolz und schön auf einem PKW-Anhänger - Dürers GANBEI. Sie ist bepackt mit Bier und Proviant, Dürer ist so vorbereitet, wie man vorbereitet nur sein kann.

Die Tage vergehen, die Zeit rückt näher, Dürer macht sich nicht mehr wie Anfangs die Mühe, täglich zwischen Taipeh und der Halle an der Küste hin- und herzupendeln. Dürer schläft außer an Fernsehshow-Aufzeichnungstagen in der Koje seiner GANBEI.

Dürer ist schon lange in Taiwan, und so erkennt er die Anzeichen eines nahenden Taifuns viele Stunden bevor Fernsehen und Zeitungen davon berichten.
Er steht vor der Halle, läßt den Blick schweifen über die Reisfelder und bemerkt eine leichte Änderung des Grüns der Halme. Im Tone eines Poeten spricht Dürer zu sich selbst: „Dieses Grün – so satt, so ein sattes Grün...“ Er schaut auf die Berge am Horizont und fährt fort in seinem Monolog: „Alles ist so klar zu erkennen, die Luft ist kristallklar wie an einem Winternachmittag an der Elbe. Dieses Grün, die Berge – der Taifun kommt in den nächsten vierundzwanzig Stunden - ein schöner Taifun, der jegliche Luftfeuchtigkeit in tausenden Kilometern Umkreis in sich reinsaugt.“

Dürer fummelt sein Handy aus der Hosentasche und ruft Dewi an.
Es vergeht eine kleine Ewigkeit bis diese antwortet: „Hi Dürer, ich vermiß dich so!“
Dürer räuspert sich.
Dewi weiß noch nichts von GANBEI und dem ganzen Weltumseglungsplan, also drückt Dürer sich umständlich und geheimnisvoll aus: „Halt dich bereit mein Schatz, das Bajaj holt dich bald ab!“
Dewi versteht Dürers Anspielung auf die erste Entführungsaktion mit dem Bajaj in Jakarta nicht. Sie sagt in einem sehr, sehr unromantischem Ton: „Dürer! Entweder kommst du bald oder du überweist mir Geld, ich bin pleite!“
„Ich komme bald, halt dich bereit!“, antwortet Dürer und beendet das Telefonat. Er blickt wieder auf die Silhouette der Berge und fühlt sich plötzlich einsam und verloren - Dürer stellt sich selbst für den Bruchteil einer Sekunde wieder unter einer Backsteinbrücke Hamburgs sitzend trinkend und bettelnd vor.

Mit hängenden Schultern und hängenden Mundwinkeln geht Dürer in die Halle. Er klettert die an die GANBEI gelehnte Aluminiumleiter hinauf und dann sich bückend in die Kabine hinein. Er öffnet den mit Kirschbaumimitat funierten Kühlschrank und greift sich ein Bier. Er nimmt einen großen, guten Schluck, zuckt mit den Schultern und sagt: „So sind die Frauen halt, man muß ständig bei denen sein und die füttern und Honig um das Maul schmieren. Das war schon immer so, von den Steinzeitmenschen an...“ Dürer nimmt noch einen Schluck und fährt recht nachdenklich fort: „Und wenn die nicht zufrieden sind, dann laufen sie dann irgentwann einem anderen hinterher, aber so weit sind wir ja hier noch lange nicht - Ganbei!“




6.

Fast verpasst Dürer den Taifun, denn er ist an jenem Wochenende in Taipeh wegen der Aufzeichnung seiner mittlerweile vierzehnten Fernsehshows.
Als die Nachrichten verkünden, dass am folgendem Tag schul –und arbeitsfrei sei und sogar landesweit Flug –und Bahnbetrieb eingestellt werde, da rast Dürer im Taxi zum Bahnhof, um den letzten Zug an die Küste zu erreichen.

Dürer hat Glück und um zwei Uhr nachts schlittert seine GANBEI vom PKW-Anhänger hinein in die meterhohen Wellen der stürmischen See. „Ganbei!“, brüllt Dürer immer wieder, das Ruder in der Hand der peitschenden Brandung trotzend.
„Ganbei!“, brüllt Dürer und dann, keine fünf Minuten nachdem die GANBEI zum ersten Mal Seewasser unter ihrem Rumpf fühlen konnte, bricht der Mast mit einem sprödem, langezogenem Krach. „Ganbei! Ganbei! Ganbei!“, brüllt Dürer wie ein Besessener, aber es hilft alles nichts, und Dürer will es absolut nicht glauben, was er da ganz sicher fühlt – auch das Ruder bricht und verschwindet in den tosenden Fluten des Pazifiks.

„Ganbei!“, schreit Dürer, macht einen Hechtsprung in die Kabine, greift blitzschnell ein Handtuch, Pass und Geldbeutel. Auf dem Boden im knöchelhohen Wasser kniend – denn seine GANBEI schwankt zu stark, um noch auf den Füßen zu stehen – bindet Dürer sich das Handtuch um den Kopf und stopft dann vor der Stirn Geld und den Pass, der ja vielleicht doch noch irgentwann zu nutzen wäre, dahinter.

Was folgt sind einige Stunden von Nah-Todeserfahrung. Dürer hat keine Angst, ihm wird auch trotz des brutalen Wellenschlags nicht übel, aber er ist sich in Mitten dieser höllischen Szene natürlich bewußt, dass es nur einer weiteren, stärkeren Woge bedarf, ihn vor seinen Schöpfer treten zu lassen.
„So soll es sein! Ich hab alles gegeben!“, brüllt Dürer stolz und zornig; darauf noch ein letztes „Ganbei!“ und Dürer bricht zusammen in der Kabine und verliert das Bewußtsein.


Als er aufwacht ist die See ruhig wie ein Spiegel, der Himmel ganz blau, von Taifun keine Spur. Der Schädel brummt ihm ganz schön, dem Dürer, „hin-und hergeworfen hat es mich, als ich bewußtlos war“, denkt er sich, Beulen und blaue Flecke an Kopf und Gliedmaßen befühlend.
Und dann, nachdem der Nebel in seinem Hirn sich etwas legt, stöhnt er: „Das Handtuch mit dem Pass und dem Geld ist auch weg...“
Aber: der Kühlschrank läuft noch, allzuviel Meerwasser ist nicht im Boot – kein Kurzschluß oder ähnliches Malheur nahm ihm die Möglichkeit, sich in jener Minute einer schön kalten Flasche Bieres zu erfreuen.
„Plopp!“, macht die Flasche, Dürer sitzt auf dem Bug seiner GANBEI – der Pazifik unendlich weit und schön vor, hinter ihm und um ihn rum.

Viel Brot hat Dürer; Pasta, Käse und Salat – hungern oder verdursten würde er nicht. Dürer angelt, trinkt Bier und fühlt sich gut: „Wie die reichen Leute auf Mallorca!“, freut er sich. Dass er so gar nicht weiß, wo die Strömungen ihn da hintreiben, tut Dürers Gefühl von Erholung und Entspannung keinen nennenswerten Abbruch.

Am Mittag des fünften Tages reißt das donnernde Wummern von Rotorblättern Dürer aus glückseligem Schlaf. Ohne die Augen zu öffnen, greift er nach Kissen und Laken und presst sich alles an die Ohren, denn er träumte gerade einen schönen Traum, einen Traum von Dewi und ihm in Hamburg, einen Traum, in dem er ein erfolgreicher Mann ist mit einer hübschen indonesischen Ehefau. Dürer will nicht aufwachen, aber das Wummern wird immer lauter – als sei der Hubschrauber keine zehn Meter von der treibenden GANBEI entfernt.
„Scheiß!“, flucht Dürer und verkatert kriecht er an Deck. Der Hubschrauber, eine riesen Maschine, schwebt donnernd über Dürer.
Dürer flucht noch einmal: „Scheiß!“ und erkennt dann am Rumpf des Hubschraubers eine koreanische Flagge: weiß, mit einem rot-blauem Esoterikkreis in der Mitte und ein paar schwarzen kurzen und langen Strichen drumherum, die so aussehen, wie die auf Dürers Bierdosen gestanzte Blindenschrift.
Zwei Männer kann Dürer erkennen: der eine hält eine Kamera und filmt Dürer, wie er da in Unterhosen und sich immer noch Kissen und Laken an die Ohren drückend, nicht etwa wie ein normaler Schiffsbrüchiger winkend und sich freuend, sondern fluchend wie ein Einfamilienhausbesitzer, dem eine Bande Kinder einen Fußball in seine Blumenbeete geschoßen haben, auf der GANBEI steht.
Der zweite Mann macht sich bereit sich abzuseilen und im Handumdrehen steht er neben Dürer auf dem Deck. Der Koreaner in signal-oranger Küstenwachenuniform greift sich den Deutschen, schnallt ihn mit zwei, drei Karabinerhaken fest und lacht Dürer ins Gesicht: „Nice to meet you!“
Dürer antwortet nicht und läßt die ganze Prozedur genervt über sich ergehen. Er kann auch gar nicht anders, denn der Koreaner ist ein Muskelberg mit Kopf, vor dessen Griffen es kein Entrinnen und Entwinden gibt.

Die Helikopterbesatzung bringt Dürer auf eine der koreanischen Halbinsel vorgelagerten Insel, der Insel Jeju. Zum Zeitpunkt der Landung ist es schon dunkel. Das ärgert Dürer, denn er liehe sich gern die digitale Kamera des Muskelberges mit Kopf aus, um ein paar Bilder von der Insellandschaft zu schießen, aber dazu ist es schon zu spät.

Dürer wird zum Militärflughafen gebracht und nach Busan, der zweitgrößten Stadt Koreas an der Ostküste geflogen.
Dort ändert sich Dürers Status von einem Schiffbrüchigen in Militärobhut zu einem zivilen Fall. Zwei Polizisten nehmen ihn in Empfang. Einer der beiden ist Polizist Kim, ein freundlicher Mann, der Dürer trotz seiner sehr athletischen Statur mit einem viel zu sanften Händedruck begrüßt.
Dieser mädchenhafte Händedruck überrascht Dürer nicht, er kennt das ja aus Taiwan: Ostasiaten reichen sich nun mal nicht die Hand zum Gruß, es sei denn, sie haben mit Bürgern westlicher Staaten zu tun.

Wie auch immer, Polizist Kim reicht Dürer die Hand die sich anfühlt wie ein schlapper Fisch, und begrüßt Dürer: „Nice to meet you!“
„Nice to meet you, too“, antwortet Dürer höflich, steigt in den wartenden Polizeiwagen ein und genießt sogar ein bisschen die darauf folgende kleine Stadtrundfahrt.
„Das erste Mal in Korea?“, fragt Kim auf dem Beifahrersitz sitzend den Deutschen.
„Das erste Mal“, antwortet Dürer artig, sagt dann: „Das ist schön hier“, und einen Augenblick den Verkehr betrachtend fügt Dürer noch fragend hinzu: „Gibt es hier keine deutschen Autos?“
„Nein, gibts hier nicht“, antwortet Kim und erklärt dann Dürer die Lage: „Dein Pass ist weg, dass wird eine Woche dauern, bis du den neuen bekommst. Eigentlich müßtest du die Zeit auf dem Polizeipräsidium wohnen, aber das geht schon klar, meine Familie hat für dich ein Zimmer gemietet.“
Dürer räuspert sich. Sich mit dem Zeigefinger am Rand seines Nasenlochs kratzend fragt Dürer erstaunt nach: „Ein neuer Pass dauert eine Woche?“
Kim bejaht und Dürer erleidet fast einen Herzinfarkt, denn plötzlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Sich selbst unglaublich dumm vorkommend denkt Dürer sich: „Ich Idiot! Wenn man keinen Pass hat, sagt man einfach, dass man seinen verloren hat und bekommt dann einen neuen! Und ich Idiot bau mir ein Boot wegen dem ganzen Pass-Scheiß!“
Die Polizisten setzen Dürer ab vor seinem Hotel. Polizist Kim steigt mit aus, reicht Dürer nochmal die Hand und sagt: „Ich habe eine Tochter, die steht auf Oliver Kahn. Wir holen dich morgen Mittag ab und zeigen dir den Strand.“

Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das besagt, dass man sich im Leben nicht zu viele Sorgen machen solle, denn der Rumpf eines Schiffes richte sich in der Strömung des Flusses von selbst so aus, dass er nicht etwa gegen Brückenpfeiler krache.
Dürer geht zu Bett, schläft und wacht auf - ein schöner Tag ist es und Dürer hat so gute Laune, dass er das Fenster öffnet und, da er das koreanische Wort für `Prost` noch nicht kennt, erst einmal ein lautes „Ganbei!“ über den vor dem Hotel liegenden Platz brüllt.

Polizist Kim kommt um halb neun. Dürer steigt in dessen Auto ein und auf dem Rücksitz sitzt Kims Tochter: Sie ist so schön wie eine Blume.
„Hi!“, sagt sie und Dürer sagt auch : „Hi!“.
Dann fahren die drei zum Busaner Stadtstrand. Das Herbstwetter ist schon zu kühl, um sich dort länger hinzusetzen, sie laufen ein bisschen auf und ab. Polizist Kim deutet auf ein Pier am linken Ende des Strandes: „Von dort fährt einmal die Stunde eine Fähre ab, die macht dann eine Schleife um die Insel da hinten. Ich lad euch ein!“
Zwanzig Minuten später sind Dürer, Kim und Kims schöne Tochter an Bord, kurz vor dem Ablegen sagt Kim, er habe noch etwas vergessen und sei schnell wieder zurück. Das Boot legt ab, aber Kim ist nicht zurück - Kims Tochter und Dürer stechen zu zweit in See.
„Was ist los?“, fragt Dürer etwas nervös, „wo ist dein Vater?“
Kims Tochter antwortet so direkt, dass es Dürer ganz schön erschreckt: „Das macht der absichtlich, der will uns verkuppeln, damit ich nicht zu den Nonnen geh.“

Und dann, beide nebeneinander auf einer Holzbank auf dem Oberdeck sitzend, von kreischenden Möwen umkreist, hört sich Dürer Kims Tochters Lebensgeschichte an: ganz gute Schülerin mit einem Knacks in der Pupertät, der sie dazu bewegte, gegen Tradition und Eltern zu rebellieren und – in die Kirche einzutreten.
„Dein Alter hat die Krise, weil du zur Kirche gehst?“, fragt Dürer ungläubig.
Kims Tochter kichert: „Ich hab mal gelesen, dass sich bei euch in Deutschland die jungen Leute in meiner Situation die Haare grün färben und sich Nägel durch die Nase stecken -bei uns in Korea ist das anders: Wir treten in die Kirche ein, um die langweiligen buddistischen Alten richtig zu schocken!“
Kims Tochter kichert immer noch und Dürer kann nicht anders, als an Dewi zu denken, und er kann nicht anders als diese beiden Frauen zu vergleichen, und er kann nicht anders, als zu bemerken, dass er mit Dewi niemals auch nur ein einziges Gespräch mit auch nur einem kleinen bisschen Tiefe geführt hatte.
Aber: Dürer verwirft sofort seinen Gedanken und seinen Zweifel und denkt sich so überzeugt wie ein Fels: „Da kann die noch so schön, klug und einzigartig sein, die Koreanerin, ich wart auf den Pass und hol dann Dewi ab!“

Die beiden müssen auf dem Oberdeck sitzen trotz des kalten Windes, denn im Inneren der Fähre gehen die anderen Passagiere lautstark der liebsten Freizeitbeschäftigung der Koreaner nach: grauenhaft schief klingendes Karaoke-Singen.
Die Fähre nähert sich der Felseninsel, die der Wendepunkt des Ausflugs ist. Kims Tochter deutet auf die Klippen und fragt: „Warum ist die eine Seite weiß und die andere nicht?“
„Weil da Vogelscheiße drauf ist“, antwortet Dürer, und da er der Hübschen ein bisschen mit ihrem Englisch helfen möchte, buchstabiert er `Vogelscheiße` noch einmal.


Schneller als erwartet bestellt Polizist Kim Dürer zum Polizeirevier – der neue Pass ist angekommen. Dürer kann sich eines gewissen erfürchtigen Gefühls nicht erwehren, als er da zum ersten Mal dieses in unzerstörbare weinrote Pappe eingebundene Dokument in den Händen hält.
Er schlägt den Pass auf und ist ganz glücklich, denn der Kopf auf dem Foto ist jetzt tatsächlich der seine; auch der Name stimmt, das Alter und so weiter.
Dürer strahlt und bedankt sich beim Polizisten Kim. Jener räuspert sich, macht den Anschein, eine kleine Ansprache halten zu wollen. Kim stockt, räuspert sich und spricht dann davon, dass die Republik Korea und die Bundesrepublik Deutschland nicht nur aufgrund politisch-geschichtlicher Parallelen befreundete Nationen seien. Kim errinnert Dürer daran, dass die Ostdeutschen, anders als die Nordkoreaner mit ihrem Kim Jong-il, es mit Erich Honnecker doch recht gut erwischt hätten. Er fährt fort: „Die Regierung hat mir bestätigt, dass sie die gesamten Rettungskosten übernehmen wird, du mußt für Hubschrauber, Gesundheits-Check und Unterkunft nichts bezahlen...“
Dürer lacht, freut sich: „Ein Hoch auf eure Regierung, Ganbei! Ganbei! Ganbei!“
Polizist Kim räuspert sich wieder, diesmal übertrieben laut. Es ist so ein lautes Räuspern, dass es dem Räuspernden richtiggehend in der Kehle zu schmerzen scheint.
Er sagt es täte ihm leid, aber er hätte die Pflicht, Dürer darüber zu unterrichten, dass aufgrund des im Jahre 1997 erlassenen maritimen Umweltschutzgesetzes der Republik Korea Kosten für das Bergen von Schiffen und Ladung von der verursachenden Partei beglichen werden müssen. Dies gelte für Firmen und privat Personen und auch für Ausländer.
Kim stoppt, stützt sich mit einer Hand auf seinen Schreibtisch und bringt seine Rede zum Abschluss: „Mein lieber Freund, die Bergungskosten belaufen sich auf 43.000 Euro.“

Dürer klappt den Pass zu und läßt dann den Polizisten Kim mit weinerlicher Stimme wissen, dass er den ganzen Tag schon an Durchfall und einem verstimmten Magen leide, was wohl mit all dem Kimchi, dem scharfen koreanischen Sauerkraut, den er mit Kim und dessen Tochter nach dem Strandausflug am Vortag gegessen hat, zu tun hätte.

Dürer sagt er gehe kurz aufs Klo, und mit dem gequälten Lächeln eines Schwerkranken verläßt er Kims Büro. Kaum aus der Tür hinaus, fängt Dürer an zu rennen – über den Flur, die breite Treppe hinunter, auf die Straße und dann in ein Taxi, das ihn dann in Windeseile zum Flughafen bringt.

Als Polizist Kim langsam anfängt, sich über Dürers Verschwinden den Kopf zu zubrechen, sitzt Dürer schon im Flugzeug in Richtung Indonesien. „Ganbei!“, ruft Dürer, als er von seinem Fensterplatz aus halb von den Wolken verdeckt Taiwan unter sich entdeckt, und dann nochmal ein dreifaches „Ganbei!“ nach der Landung in Jakarta.




7.

Dewi ist im Handumdrehen abgeholt und exakt vierundzwanzig Stunden, nachdem Dürer auf der Fähre `Vogelscheiße` buchstabiert hatte, fliegen die beiden nach Hamburg.

Dewi verschläft den ganzen Flug, sie hatte am Abend, bevor Dürer kam, wohl sehr viel getrunken. Dürer bemerkt auch den Geruch von Rasierwasser eines fremden Mannes in ihrem Haar, ein Umstand, den er aber irgentwie verdrängt, denn Dürer hat, wie er da im Flieger neben der schnarchenden Dewi sitzt, ganz andere Sorgen.
Ihm fällt plötzlich auf, dass Dewi von seinem Leben in Hamburg, das er vor seinem Asienabenteuer führte, rein gar nichts weiß.
Dürer hatte nicht etwa erzählt, dass er ein reicher Mann sei in Deutschland, aber dass er Obdachloser war, das ist Dewi gewiß nicht klar.
Keine Adresse hatte Dürer, auch keine Freunde, die ihm ihre Wohnung ausleihen würden – Dürer grübelt, grübelt und grübelt, doch er findet einfach keine Antwort auf die Frage, wohin die beiden nach ihrer Ankunft in Hamburg sollen.
„Ach, was solls,“ denkt er sich letztendlich trotzig „die wird sich schon an alles gewöhnen, meine hübsche Indonesierin!“


Mit zwei Koffern in den Händen laufen die beiden die Detlev-Bremer-Straße entlang, und dann über den Spielbudenplatz. „Ist dein Haus noch weit?“, fragt Dewi sehr, sehr genervt und Dürer antwortet: „Da hinten ist es!“
„Was ist wo, ich seh nichts!“, protestiert Dewi, sie trägt Stöckelschuhe und hat schon Blasen an den Füßen.
„Da ist es schon!“, sagt Dürer mit sanfter Stimme, bleibt stehen und zeigt auf die Bank, auf der immer noch wie einst der alte Trinker sitzt, der Dürer damals den gefundenen Pass und das Flugticket gab.
„Das ist mein Freund und das ist sein zu Haus, hier bleiben wir erst einmal“, verkündet Dürer und blickt auf Dewi, die blaß wird und dann hysterisch keift: „Der Typ ist total ekelig! Hör auf mich zu verarschen, Dürer!“
Doch Dürer zieht sie am Arm bis vor die Bank, setzt sich, legt die Hand auf Dewis Schulter und recht grob drückt er sie runter neben sich auf die Bank.
Er stellt dem Alten Dewi vor und er stellt Dewi dem Alten vor, dann sagt Dürer, er gehe zum Türkenladen und hole Bier.
Der Alte freut sich und wie immer mit viel zu lauter Stimme bellt er, Dewi solle doch bitte auf der Bank neben ihm auf Dürer warten, bis dieser mit dem Bier zurückkomme.

Dürer läuft los, und als er Minuten später wieder vor der Bank steht, sitzen dort drei Leute drauf: der Alte, Dewi und ein jüngerer, gut gekleideter Mann, der so gar nicht aussieht wie einer, der auf der Straße lebt.
Jener schaut Dürer ins Gesicht und Dürer schaut jenem ins Gesicht und dann lachen beide los. Der Gutgekleidete brüllt: „Dürer! Bist du aus Asien zurück!“
Und Dürer brüllt: „Flasche! Mann hast du dich rausgemacht! Hast du im Lotto gewonnen, oder was!“
Der Gutgekleidete, der früher der Trinker namens Flasche war, der die schwarze Herrenbrieftasche auf der öffentlichen Toilette fand, lacht verschmitzt und erzählt Dürer seine Geschichte: „Den Pass und das Ticket hab ich dir gegeben, aber die Euros, die habe ich genommen. Die Hälfte hab ich versoffen, wie es sich gehört, aber von dem Rest hab ich mir gute Klamotten gekauft, mich um Arbeit beim Parkhaus beworben und bin auch eingestellt worden.“
Flasche ist ganz stolz und er freut sich und protzt: „Schau mich an Dürer, ich hab es zu was gebracht im Leben - Haus, Auto, alles da!“
Und genau in jenem Augenblick schweift Dürers Blick von Flasches Gesicht auf die Knie der drei auf der Bank Sitzenden, und dann ist es, als wenn Dürer in den Magen geschlagen wird, denn er sieht plötzlich, dass Flasche und Dewi unter der Bank Händchen halten.
„Scheiß!“, knurrt Dürer, dreht sich um und läuft über den Spielbudenplatz, die Budapester Straße entlang in Richtung Sternschanze. Auf dem Weg macht er kurz hinter einem Kiosk halt und greift sich einen leeren Karton. Er läuft weiter und während er läuft, plättet er mit einer Hand die Pappe. Unter der roten Backsteinbrücke wirft Dürer sie auf das Pflaster, legt den blauen Schlafsack darauf und fängt an zu trinken.
„Prost!“, ruft er schon bald den Passanten zu, und von den Tausenden, die da an ihm vorbeiströmen, gibt es wohl den einen oder anderen, der wahrnimmt, dass das „Prost!“ des Trinkers, der da sitzt, sich ein bisschen trauriger anhört als zuvor.

























Dürer ist keine getarnte Ich-Erzählung. Dürer ist ein Hamburger Trinker, der mit einem gefundenen Pass und Flugticket nach Ostasien reist und dort seine große Liebe findet. Für die Liebe schlägt Dürer sich tapfer, trotzt Gesetz und stürmischer See.
Jens Kastner ist ein Deutscher, der seit langem in Ostasien lebt, an einer Nachhilfeschule in Taiwan Englisch unterrichtet, für eine lokale Zeitung übersetzt, Chinesisch studiert und chinesische Geschichten schreibt. Für seine Schreibereien wurde er mit taiwanesischen Literaturpreisen geehrt. Er ist mit höchster Wahrscheinlichkeit der einzige Nicht-Chinese, dem das jemals gelang.



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yens@hotmail.de
 



 
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