Dunkelschein

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Chrisch

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Dunkelschein

Als ich vor ein paar Wochen kurz die Augen schloss, war es dunkel. War ja auch schon spät. Sonne weg, Mond nicht im Fenster, Licht war auch aus. Nichts Besonderes also, oder? Augen zu und dunkel, oder? Ausatmen, einatmen. Nein, eigentlich wollte ich noch nicht schlafen und mit geschlossenen Lidern war es auch nicht dunkler als mit offenen Augen. Kleine Lichtblitze und einen rötlichen Schimmer nahm ich wahr. Dann kamen Bilder mit immenser Kraft. Die waren so hell, dass ich schnell die Augen aufriss, weils mich blendete. Aber im Dunkeln konnte ich sie weiter sehen. Ich flog über den Himmel und landete tief unter der Erde, erschuf steinerne Figuren und bemalte freie Wände, dass mir die Farbe in die Nase stach. Zwischendurch sprach ich mit den Eltern, die sagten: \"Was machst du nur?\" \"Ich lebe,\" antwortete ich den Toten mit offen Augen im Dunkeln, im Bett, unbeweglich, mit Herzklopfen wie beim Sport und außer Atem. \"lebe im Bett\", unbeweglich, seit damals. \"Ja!\" schreie ich lautlos. Blinzeln kann ich wenigstens. Im Geiste fliegend erschaffe ich Figuren und Melodien zu meinen Bildern.
Es ist leicht zu fliegen, wenn man den Körper nicht spürt. Manchmal sehe ich die Erde sogar im Ganzen. Ein erhabener Anblick. Ich schreibe wahrhaft epische Erzählungen, die ich nicht vortragen kann, seit damals, dem dunklen Unfall, von dem ich nichts weiß, der mich meiner lauten Sprache und aller Bewegung beraubte. Ich bemühe mich Besuchern meine Gedanken zu übertragen, denke an den netten Wirt aus der Eckkneipe, der mich oft besucht, gebe ihm Ideen in den Kopf. Er merkt es nicht, aber ich freue mich, wenn er dann bei mir ist und von den guten Sachen erzählt, die er wieder erlebt, gesehen und gemacht hat. Ich blinzle ihm verstehend und aufmunternd zu, was den Hünen oft zu Tränen rührt. \"Was machst du nur?\" fragt er und die anderen seltenen Besucher. Ich denke mit all meiner Kraft: \"Ich lebe! Ich bin noch da und mein Geist ist so frei, wie euer Körper nie sein kann. Wenn ich meine Zeit gekommen sehe, fliege ich in den Himmeln zum Licht und verglühe vor Wonne.\" Das können sie nicht begreifen, ich kanns nicht sagen und das Rollen meiner Augäpfel erscheint ihnen wie Verzweiflung pur. Hätte ich früher ja auch gedacht, aber jetzt bin ich frei.
Ich höre die Maschine mich atmen. Ein beruhigendes Geräusch, das mich auch manchmal in Panik versetzt. Dann fliege ich schnell wieder fort und höre das Brausen des Windes und lasse mich wehen vom Kap der guten Hoffnung nach Süden, hinaus aufs Meer.

Chrisch März 2008
 

Chrisch

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Dunkelschein

Als ich vor ein paar Wochen kurz die Augen schloss, war es dunkel. War ja auch schon spät. Sonne weg, Mond nicht im Fenster, Licht war auch aus. Nichts Besonderes also, oder? Augen zu und dunkel, oder? Ausatmen, einatmen. Nein, eigentlich wollte ich noch nicht schlafen und mit geschlossenen Lidern war es auch nicht dunkler als mit offenen Augen. Kleine Lichtblitze und einen rötlichen Schimmer nahm ich wahr. Dann kamen Bilder mit immenser Kraft. Die waren so hell, dass ich schnell die Augen aufriss, weil's mich blendete. Aber im Dunkeln konnte ich sie weiter sehen. Ich flog über den Himmel und landete tief unter der Erde, erschuf steinerne Figuren und bemalte freie Wände, dass mir die Farbe in die Nase stach. Zwischendurch sprach ich mit den Eltern, die sagten: „Was machst du nur?“ „Ich lebe.“ antwortete ich den Toten mit offen Augen im Dunkeln, im Bett, unbeweglich, mit Herzklopfen wie beim Sport und außer Atem. „Lebe im Bett“, unbeweglich, seit damals. „Ja!“ schreie ich lautlos. Blinzeln kann ich wenigstens. Im Geiste fliegend erschaffe ich Figuren und Melodien zu meinen Bildern.
Es ist leicht zu fliegen, wenn man den Körper nicht spürt. Manchmal sehe ich die Erde sogar im Ganzen. Ein erhabener Anblick. Ich schreibe wahrhaft epische Erzählungen, die ich nicht vortragen kann, seit damals, dem dunklen Unfall, von dem ich nichts weiß, der mich meiner lauten Sprache und aller Bewegung beraubte. Ich bemühe mich Besuchern meine Gedanken zu übertragen, denke an den netten Wirt aus der Eckkneipe, der mich oft besucht, gebe ihm Ideen in den Kopf. Er merkt es nicht, aber ich freue mich, wenn er dann bei mir ist und von den guten Sachen erzählt, die er wieder erlebt, gesehen und gemacht hat. Ich blinzle ihm verstehend und aufmunternd zu, was den Hünen oft zu Tränen rührt. „Was machst du nur?“ fragt er und die anderen seltenen Besucher. Ich denke mit all meiner Kraft: „Ich lebe! Ich bin noch da und mein Geist ist so frei, wie euer Körper nie sein kann. Wenn ich meine Zeit gekommen sehe, fliege ich in den Himmeln zum Licht und verglühe vor Wonne.“ Das können sie nicht begreifen, ich kann's nicht sagen und das Rollen meiner Augäpfel erscheint ihnen wie Verzweiflung pur. Hätte ich früher ja auch gedacht, aber jetzt bin ich frei.

Ich höre die Maschine mich atmen. Ein beruhigendes Geräusch, das mich auch manchmal in Panik versetzt. Dann fliege ich schnell wieder fort und höre das Brausen des Windes und lasse mich wehen vom Kap der guten Hoffnung nach Süden, hinaus aufs Meer.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo Chrisch,

herzlich Willkommen auf der Lupe, dein Text erinnerte mich sofort an ein erst kürzlich gelesenes Buch von Jean-Dominique Bauby: "Schmetterling und Taucherglocke". Für mich hast du das Gefangensein im eigenen Körper interessant in Worte verpackt. Vielleicht magst du das Buch ja mal lesen, ist ganz dein Thema.

LG Franka
 

anbas

Mitglied
Hallo Chrisch,
gefällt mir ausgesprochen gut! Der Text hat mich regelreicht "eingesogen".
Gruß
Andreas
 
B

bluefin

Gast
Zwischendurch sprach ich mit den Eltern, die sagten
fragten?

es gibt lieder, die sind traunrig und tröstlich zugleich. manche halten die sprache der walfische für gesang und löschen ihren durst mit unserem blut.

liebe grüße aus münchen, @chrisch

bluefin
 

Chrisch

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Dunkelschein

Als ich vor ein paar Wochen kurz die Augen schloss, war es dunkel. War ja auch schon spät. Sonne weg, Mond nicht im Fenster, Licht war auch aus. Nichts Besonderes also, oder? Augen zu und dunkel, oder? Ausatmen, einatmen. Nein, eigentlich wollte ich noch nicht schlafen und mit geschlossenen Lidern war es auch nicht dunkler als mit offenen Augen. Kleine Lichtblitze und einen rötlichen Schimmer nahm ich wahr. Dann kamen Bilder mit immenser Kraft. Die waren so hell, dass ich schnell die Augen aufriss, weil's mich blendete. Aber im Dunkeln konnte ich sie weiter sehen. Ich flog über den Himmel und landete tief unter der Erde, erschuf steinerne Figuren und bemalte freie Wände, dass mir die Farbe in die Nase stach. Zwischendurch sprach ich mit den Eltern, die fragten: „Was machst du nur?“ „Ich lebe.“ antwortete ich den Toten mit offen Augen im Dunkeln, im Bett, unbeweglich, mit Herzklopfen wie beim Sport und außer Atem. „Lebe im Bett“, unbeweglich, seit damals. „Ja!“ schreie ich lautlos. Blinzeln kann ich wenigstens. Im Geiste fliegend erschaffe ich Figuren und Melodien zu meinen Bildern.
Es ist leicht zu fliegen, wenn man den Körper nicht spürt. Manchmal sehe ich die Erde sogar im Ganzen. Ein erhabener Anblick. Ich schreibe wahrhaft epische Erzählungen, die ich nicht vortragen kann, seit damals, dem dunklen Unfall, von dem ich nichts weiß, der mich meiner lauten Sprache und aller Bewegung beraubte. Ich bemühe mich Besuchern meine Gedanken zu übertragen, denke an den netten Wirt aus der Eckkneipe, der mich oft besucht, gebe ihm Ideen in den Kopf. Er merkt es nicht, aber ich freue mich, wenn er dann bei mir ist und von den guten Sachen erzählt, die er wieder erlebt, gesehen und gemacht hat. Ich blinzle ihm verstehend und aufmunternd zu, was den Hünen oft zu Tränen rührt. „Was machst du nur?“ fragt er und die anderen seltenen Besucher. Ich denke mit all meiner Kraft: „Ich lebe! Ich bin noch da und mein Geist ist so frei, wie euer Körper nie sein kann. Wenn ich meine Zeit gekommen sehe, fliege ich in den Himmeln zum Licht und verglühe vor Wonne.“ Das können sie nicht begreifen, ich kann's nicht sagen und das Rollen meiner Augäpfel erscheint ihnen wie Verzweiflung pur. Hätte ich früher ja auch gedacht, aber jetzt bin ich frei.

Ich höre die Maschine mich atmen. Ein beruhigendes Geräusch, das mich auch manchmal in Panik versetzt. Dann fliege ich schnell wieder fort und höre das Brausen des Windes und lasse mich wehen vom Kap der guten Hoffnung nach Süden, hinaus aufs Meer.
 
S

suzah

Gast
hallo chrisch,

ich konnte auf deine geschichte "dunkelschein" nicht sofort antworten, weil ich so ergriffen war von der realitätsnähe. ich kenne jemand, der an ALS leidet und der mittlerweile nicht mehr sprechen kann, nur noch stichwortartig alles aufschreiben oder zeigen. ich glaube, du hast solche gefühle sehr gut nachempfunden!

im text sind nur kleinigkeiten, die vielleicht noch zu verbessern wären.
grüße von suzah
 



 
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