Dystopia, Gesellschaftskritik

Lösung

Er las die Stellenanzeigen. Wieder nichts dabei. Nichts bei dem es sich lohnte, eine Bewerbung hinzuschicken. Er hatte viele geschrieben – und ebenso viele Absagen bekommen. Am Anfang hatte er noch Hoffnung gehabt und voll Vorfreude auf Antworten gewartet. Das hatte sich bald gelegt. Nun glaubte er nicht mehr daran, dass sich etwas änderte, dass je ein Antwortschreiben anders begann als mit „wir bedauern, Ihnen mitzuteilen“.
Wenn das Arbeitsamt ihm Angebote aufdrückte, auf die er sich bewerben musste, um weiterhin Sozialhilfe zu beziehen, dann tat er es. Aber auch nur dann. Ohne Begeisterung, ohne sich Mühe zu geben. Er schrieb die Briefe absichtlich schlecht, denn Aushilfstätigkeiten mit schlechter Bezahlung wollte er nicht. Eigeninitiative hatte er aufgegeben, das war Energieverschwendung. Geld bekam er vom Staat, die Miete und alles andere, das er zum Leben brauchte, wurden bezahlt. Es war sehr bequem so.
Die Zeitung wanderte in den Papierkorb. Er schenkte sich einen Schnaps ein und trank auf ex. Es war Mittag. Er war gerade aufgestanden. Schnaps gab es zum Frühstück.
Es klingelte an der Tür. Er reagierte nicht. Bei ihm hatte lange keiner geklingelt. Auch beim zweiten Klingeln glaubte er noch nicht, dass es ihm galt. Jemand hatte den falschen Knopf erwischt. Beim dritten Mal ging er nachsehen, verärgert über den Klingelstreich, bereit mit einem blöden Balg zu schimpfen. Er riss die Tür auf.
Draußen stand eine fremde Dame in einem schwarzen Kostüm. Sie sah streng und sehr geschäftsmäßig aus.
„Guten Tag. Schön, dass Sie da sind. Darf ich hereinkommen?“
Vor Überraschung gelähmt nickte er, ohne nachzudenken.
Die Frau ging durch den Flur, in die Küche, und setzte sich an den halbrunden Tisch.
„Ähm.“ Er konnte sich nicht erinnern, was man bei Besuch zu sagen oder zu tun hatte. Manieren hatte er vergessen, doch er meinte sich zu erinnern, dass man etwas zu trinken anbieten sollte. „Schnaps?“ fragte er.
„Nein danke“, sagte die Frau im Kostüm. „Setzen Sie sich.“
Er folgte der Aufforderung und setzte sich gegenüber, auf den anderen freien Stuhl. Die Frau holte etwas aus ihrer Jackettasche. Es war ein kleines Pillendöschen. Sie öffnete es, nahm eine Tablette heraus und schob sie über den Tisch zu ihm.
„Nehmen Sie die Tablette“, befahl die Fremde.
„Warum? Wofür ist das?“
„Eine Maßnahme zur Wiedereingliederung in die Berufswelt. Damit Sie wieder auf eigenen Beinen stehen.“
„Und wenn ich nicht will?“
„In diesem Fall erhalten Sie mit sofortiger Wirkung keinerlei Unterstützung mehr.“
„Na dann.“ Er nahm die Tablette.
Die Frau ging.

Sie sah fern. Das tat sie immer, schon ihr ganzes Leben lang. Die Schule hatte sie geschmissen, eine Ausbildung nie angefangen. Wozu denn, es ging ihr gut, sie hatte nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch einen Fernseher und einen Computer, denn diese Annehmlichkeiten gehörten laut Gesetz zum Lebensstandard, selbst für Sozialhilfeempfänger, also zahlte der Staat dafür. Sie wusste ganz genau was ihr zustand und wo sie noch etwas herausschlagen konnte. Der Sachbearbeiter unterschrieb alles, gab ihr, was sie wollte, weil sie sonst anfing herumzuschreien und mit einer Klage drohte. Das war ihre Masche. Sie funktionierte. Das Sozialamt wollte keinen Ärger.
Das erste Klingeln hörte sie nicht, weil im Fernsehen laut gestritten wurde. Beim zweiten dachte sie, es käme aus der TV-Show. Als es ein drittes Mal schellte, wunderte sie sich, stand auf und ging zur Tür. Den Fernseher ließ sie laufen.
Sie öffnete einen Spalt, die Kette war vorgelegt. Das war gut so, denn draußen stand eine feine Tussi in Blazer und Rock, die bestimmt von der CIA oder vom FBI war, und die führten bekanntlich nichts Gutes im Schilde.
„Was willst'n du?“
„Dürfte ich bitte hereinkommen?“
„Nee. Glaubst du, ich bin blöde?“
Die Frau im Businessoutfit hob eine Augenbraue. „Treten Sie zurück.“
„Hast du sie noch alle?“
Die Frau zuckte mit den Schultern, tat einen Schritt nach hinten und warf sich gegen die Tür, wie sie es im Fernsehen taten. Die Kette wurde aus der Wand gerissen, die auffliegende Tür traf sie am Kopf.
„Au! Du blöde Kuh!“
Die Frau schob sie beiseite und schloss die Tür hinter sich. Sie hielt sich den Kopf. Die Rambofrau reichte ihr etwas. Es war ein kleines Döschen mit Pillen darin.
„Was'n das?“
„Gegen das Kopfweh. Nimm eine.“
„Verarsch mich nich', das ist bestimmt ein Experiment. Wenn ich das nehm', verwandel ich mich in was Komisches oder krieg Ausschlag oder so.“
Die Frau im Businessoutfit zog etwas aus der Jacke und richtete es auf sie.
„Ist das 'ne Knarre?“
„Nimm die Tablette.“
„Alte, du spinnst, ich nehme keine Pillen von Fremden.“
„Ich kann Sie auch erschießen. Es wäre wesentlich vernünftiger, Sie nähmen die Tablette. Das ist angenehmer.“
„Ach ja? Und dann?“
„Finden Sie es heraus.“
Schlimmer als abgeknallt zu werden konnte es wohl nicht sein.

Die Rente war klein, doch er brauchte nicht viel. Nachdem seine Frau vor einigen Jahren gestorben war, hatte er die gemeinsame Wohnung aufgelöst und war in das kleine Apartment gezogen. Attraktiv war der soziale Wohnungsbau nicht, aber günstig, und seine Bücher hatten alle Platz gefunden. Wenn der Fernseher von nebenan zu laut war, trug er einfach sein Hörgerät nicht. So konnte er stets in Ruhe lesen.
Jeden Morgen kochte er Kaffee und sah aus dem Fenster. In der Wohnung direkt gegenüber saß am halbrunden Küchentisch gewöhnlich der Zeitungsleser, der nach Arbeit suchte. Heute war schon der zweite Morgen, an dem er ihn nicht sah. Probeweise zog er sein Hörgerät an. Es war still. Seine Nachbarin hatte ausnahmsweise nicht den Fernseher laufen. Vielleicht war sie beim Sozialamt, den nächsten Kleidergutschein einfordern.
Der alte Mann schaltete das Hörgerät aus und setzte sich mit einem Buch in den abgewetzten Samtsessel. Er blätterte bis zum Lesezeichen, nahm es heraus, strich die Seiten glatt und versank in dem alten Schinken.
Das erste Klingeln war nur ein leises Summen. Er schenkte ihm keine Beachtung. Beim zweiten drehte er das Hörgerät auf. Als es zum dritten Mal läutete, stand er auf, ging zur Tür und äugte durch den Spion. Eine adrette Dame in einem dunklen Kostüm stand da. Hoffentlich nicht schon wieder jemand vom Bestattungsinstitut. Er hatte seine Angelegenheiten längst geregelt.
Der alte Mann öffnete die Tür. „Ja bitte?“
„Dürfte ich hereinkommen?“
„Für die Beerdigung is schon alles geregelt, ich brauche keine Angebote.“
„Ausgezeichnet.“
Verdutzt sah er die Frau an. „Sind Sie von den Zeugen Jehovas?“
„Nein.“
„Was wollen Sie dann?“
„Wenn Sie mich hereinlassen, erkläre ich es Ihnen.“
Er trat zurück und ließ die Fremde ein. Zu holen gab es bei ihm nichts, außerdem war die Frau gut gekleidet. Sie war bestimmt kein Verbrecher, eher eine Geschäftsfrau, oder von der Regierung.
Die Frau im Kostüm nahm am Küchentisch Platz.
„Möchten Sie etwas trinken? Wasser oder Kaffee?“
„Nein danke. Bitte setzen Sie sich.“
Er tat wie geheißen.
Die Frau nahm eine kleine Dose aus der Jackettinnentasche und schob sie ihm hin.
Fragend blickte der Alte die Fremde an.
„Öffnen Sie sie“, forderte sie ihn auf. „Darin ist eine Tablette, die Sie einnehmen werden.“
Die Tablette war grün. Er war skeptisch. „Wofür ist die gut?“
„Nehmen Sie sie einfach. Ich kann Sie auch zwingen, falls Sie sich widersetzen.“
„Ich habe Soylent Green gesehen, wissen Sie?“
„Soylent...was?“
„Da werden die Alten mit Tabletten umgebracht und zu Essen verarbeitet.“
Die Frau lachte. Amüsiert sagte sie: „Ich versichere Ihnen, damit hat es nichts zu tun. Nicht nur alte Menschen erhalten die Tablette. Und keiner von ihnen wird gegessen.“
Das beruhigte ihn ein wenig. „Dennoch – ich habe Herzprobleme. Verträgt sich das miteinander? Und wozu ist es gut? Warum ich? Wer bekommt noch so eine Tablette?“
„Das sind viele Fragen. Die Antworten kann ich Ihnen erst verraten, nachdem Sie sie genommen haben.“
Jetzt war er neugierig. Außerdem war er alt und krank – was auch immer es war, spielte keine große Rolle. Wenigstens war es aufregend, wie in einem guten Buch, einem Krimi oder Spionage-Thriller. Er nahm die Pille.

Die Frau im Kostüm stand vor den beiden hässlichen Hochhäusern und hakte etwas in ihrem Notizbuch ab. Sie vermerkte, dass sie für diese Adresse – zwei Häuser mit insgesamt achtundneunzig Einheiten – vier Tage benötigt hatte. Dann stieg sie in ihr Auto und fuhr zum nächsten Kostenfaktor, der beseitigt werden musste.
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Skylar,

eine kurzweilige, spannende Geschichte, nur der Schluss ist etwas sehr kurz geraten. Ich frage mich, ob die Dame im Kostüm aus eigenem Engagement heraus handelt und somit eine Psychopathin ist, oder ob sie für irgendeine staatliche Institution arbeitet. Dann hätte ich ihr eine männliche Begleitperson "für's Grobe" zur Seite gestellt, z.B. Türen aufbrechen, das passt zu einer Dame im Kostüm nicht so gut. Den Dialog mit der jungen Frau im zweiten Abschnitt finde ich klasse, aber auch die beiden anderen Pillenopfer sind gut beschrieben. Ein bittersüßer Text mit einem Schuss schwarzen Humor.

Grüße,

Thomas
 
A

aligaga

Gast
Ich finde diese "Geschichte" weder kurzweilig noch spannend.

Es gibt Genres, die zumindest in Deutschland wohl nie mehr kurzweilig und spannend sein können - weil sie nicht bloß schlechte Fantasien blieben, sondern grausame Wirklichkeit wurden. Vor nicht allzulanger Zeit klingelte es tatsächlich an den Türen, und man brachte jenen, die man für unwertes Leben hielt, den Tod. Man gab ihnen keine Pille, sondern nahm sie mit, sammelte sie familienweise auf Lastwägen und in Viehwaggons und brachte sie in so genannte "Vernichtungslager". Insgesamt haben wir Deutsche gut sechs Millionen Mitbürger eiskalt umgebracht.

Ich halte derartige G'schichterln, die nota bene zumindest im Titel auf Himmlers "Endlösung" schielen - freundlich ausgedrückt! - für ebenso pietät- wie geschmacklos. Nichts gegen schwarzen Humor, aber wer sich der jüngsten Vergangenheit noch einigermaßen bewusst ist, sollte bei einer solchen Nummer nicht lachen können. Sondern sehr, sehr nachdenklich werden.

@Ali spürt da immer gleich Brechreiz, @Skylar, und ich möchte, dass du das weißt.


Gruß

aligaga
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Skylar, das "Pillendöschen" braucht das "kleine" nicht, es ist schon klein. ;-)

Ansonsten gut geschrieben und durchaus realistisch: Menschen als Kostenfaktor. Gar nicht so weit weg im heutigen Denken, siehe Krankenkassen ...

LG Doc
 

ThomasQu

Mitglied
Mag schon sein, @aligaga, man kann den Text auch sehr nüchtern und schmallippig interpretieren, aber in Verbindung mit diesem flotten Schreibstil und spätestens nach dem Auftauchen der anscheinend jüngeren Frau im zweiten Abschnitt bringt mich die Story zum grinsen.
 
A

aligaga

Gast
Menschenverachtender, "flotter" Schreibstil?

Den gab's damals auch. Und ein paar wenige, denen der seinerzeit schon nicht gefallen hat. Guhgel doch mal und "Der Giftpilz", @Thomas.

Wahrscheinlich ist @Ali ein wenig zu zartbesaitet für diese Art von "Literatur". Er muss immer kotzen, wenn die auftaucht.

Wer unseren Krankenkassen Euthanasieglüste nachsagt, hat sie nicht mehr alle. Dem rate ich, mal nach Amerika zu gucken. Vorher am besten noch das Gesicht schwarz anmalen, damit's die volle Dröhnung wird!

Kopfschüttelnd

aligaga
 

ThomasQu

Mitglied
@aligaga,
ich kann auch deinen Standpunkt nachvollziehen, der ist fraglos sehr ehrenwert. Du wirst aber zugeben müssen, dass das ein ganz starker Text ist, denn aus deiner Sichtweise betrachtet verherrlicht er ja nichts, sondern beschreibt und macht betroffen. Natürlich kann man ihn auch als Horrorszenario begreifen aber ich entdecke darin vor allem einen schwarzen skurrilen Humor, und, aligaga, dass du recht zartbesaitet bist, kann man in anderen Themenbereichen nicht immer so hundertprozentig behaupten, oder? (-:
Grüße
Thomas
 
A

aligaga

Gast
Ich habe mich klar und deutlich ausgedrückt, @Thomas.

Was du jetzt im Nachhinein noch alles behauptest, spielt keine Rolle - es hat mit diesem Text und der Tatsache, dass er in meinen Augen kein bisschen lustig ist, nichts zu tun.

Gruß

aligaga
 



 
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