Edna hat sich beruhigt

Trude

Mitglied
Edna hat sich beruhigt

Edna ist eine Schnecke. Schnecken sind Zwitter. Das macht nichts. Sie sind trotzdem der Liebe sehr zugetan, besonders im Sommer, wenn die Nächte warm und die Morgen hell sind. Und weil das Schneckenleben so kurz ist, und das erste Mal das einzige und das letzte sein kann, ist Edna mächtig aufgeregt. Sie hat das Haus geputzt, die Fühler poliert und frischen Schleim aufgelegt, wohlriechend parfümiert.

Du nennst das vielleicht unsensibel Sexuallockstoff. Aber würdest du zu Douglas gehen und sagen: „Ach bitte, ich möchte Sexuallockstoff von Nina Richi.“

Edna ist auf einen großen Stein geklettert, kaum, daß ihn die ersten Sonnenstrahlen erwärmt haben. Wärme ist gut für die Schneckenliebe. Sie reckt und streckt sich. Wie schön, ein sanfter, warmer Wind umspielt den Stein. Edna spiegelt sich im Tautropfen, der am Wegerich hängt. Ja, sie hat es gewußt, sie ist eine richtige kleine Schneckenschönheit. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Ist es der steile Weg? Ist es die Aufregung? Wird es eine Enttäuschung bringen? Eine Überraschung?

Du lächelst, weil eine Schnecke ein so kleines Herz hat? Na und? Ist das nicht egal? Hattest du Herz-klopfen vor dem ersten Rendezvous? Und vor dem zweiten?

Edna dreht ihre Fühler in den Wind. Er trägt eine winzige Spur eines Geruches heran, der zu ihrem paßt. Sie streckt einen Fühler in die Duftspur. Da ist sie, der rechte Fühler hat sie auch gespürt. Das Herz klopft so schnell wie es überhaupt kann.

Da stößt plötzlich etwas großes, dunkles an ihr Haus, ein kalter Schatten fällt auf sie. Mit aller Kraft preßt Edna den Fuß auf den Stein. Vergeblich, sie wird mitsamt dem Haus in die Luft gehoben. Das Haus knirscht zwischen den Hundezähnen, aber es hält stand. Angstvoll hat Edna sich tief hineinge-zogen. Sie fürchtet, draußen könne man ihr Herzklopfen hören.

Du sagst, Hunde fressen keine Schnecken? Woher soll Edna das wissen?

Zu ihrem Glück interessiert sich der Hund schon etwas anderes. Sie fällt neben den Stein ins Gras. Langsam, ganz allmählich, geht ihr Atem ruhiger. Bestimmt sieht sie jetzt unmöglich aus! Das Haus zerkratzt, die Fühler verbogen. Die Sonne hat den Tautropfen aufgesogen. Edna glättet sich so gut sie ohne Spiegel kann. Die süße Duftspur ist verschwunden. Der Geruch des Hundes liegt noch schwer in der Luft. Edna versucht, langsamer zu atmen. Sie streckt und dreht suchend ihre Fühler. Sie steht zwischen ihr völlig unbekannten Grashalmen. Von ihrem großen Ziel, die Schneckenliebe zu erleben, ist sie weit entfernt wie nie. Mißmutig, traurig, seufzend, knabbert sie an einem Grashalm. Aber wenn man so traurig ist, schmeckt auch das Frühsommergras nicht. Edna zieht sich in ihr Haus zurück. Vielleicht schläft sie, vielleicht weint sie.

Du meinst, Schnecken sind nicht traurig, du hast noch nie Tränen in den Augen einer Schnecke gese-hen? Aber du hast doch schon den süßen Duft der Liebe gespürt und ein kalter Schatten hat ihn ver-jagt. Dann weißt du, daß jedes Wesen davon weinen muß, bis die Seele wieder blank ist und das Herz voller Hoffnung.

Der Wind treibt die Wolken. Ein Sonnenstrahl guckt ins Schneckenhaus und kitzelt Edna wach. Sie kommt heraus und reckt und streckt sich in der Wärme. Das Gras leuchtet im schönsten Grün. Ein Gänseblümchen. Das richtige, um Leib und Seele zu stärken. So gut hat Edna lange nicht mehr ge-gessen. Wenn doch wieder der süße Duft käme! Edna dreht die Fühler in alle Richtungen. Vielleicht, bestimmt, ganz sicher, sie muß wieder nach oben auf den Stein. Wenn die Seele freigewischt ist, man gut gegessen hat, und vielleicht die Liebe winkt, macht sich auch eine kleine Schnecke auf den be-schwerlichen Weg nach oben, auf den großen Stein hinauf.

So ein Stein, den du mit dem Fuß wegstoßen kannst, ist keine große Anstrengung? Und eine Spur von Duft ist es nicht wert? Meinst du das wirklich? Sieh mal, Edna ist nicht einmal daumengroß. Wie groß muß ein Berg sein, den du erklimmen würdest, weil du hoffst, dort oben wartet die Liebe?

Edna jedenfalls kriecht unbeirrt aufwärts. Sie kann das Sonnenplateau schon sehen. So weit oben bläst der Wind kräftiger. Eine Gewitterwolke wirft ihren Schatten. Im Schatten, das weiß sie, lauern Kälte und Gefahr. Sie versucht, sich im Haus zu verstecken und gleichzeitig am Stein festzuklammern. Der Wind bläst, Tropfen fallen. Ein Wolkenbruch spült die Schnecke ins Gras. Edna ist verzweifelt. Selbst wenn der Regen irgendwann aufhört, noch einmal kann sie den Stein nicht hinaufklettern. Dazu reichen ihre Kräfte nicht aus.

Das Wasser treibt sie über die Wiese. Sie kann sich nirgendwo festhalten. Weint sie? Ist das nicht egal bei solchem Unglück? Vielleicht war die süße Spur oben auf dem Stein ganz nah, vielleicht wird sie nun nie die Liebe im Frühsommer kennenlernen.

Das Wasser bildet große Pfützen und läßt ab und zu ein Hügelchen frei. Edna klettert mühsam hinauf. Sie muß ausruhen. Ihr Haus ist beschädigt, ihr Fuß schmerzt. Sie will nur noch einmal ausschlafen. Und dann wird sie sich in eine Pfütze stürzen und den Schneckentod sterben. Ihren letzten Gedanken will sie dem süßen Duft widmen und noch einmal das Herzklopfen spüren.

So wie jetzt. Wie jetzt? Jetzt? Den Duft? Der Duft! Das Herzklopfen. Da, vorn, Edna streckt die Fühler aus. Wenn es eine Täuschung ist? Eine Schnecke, genauso müde wie Edna, genauso zerzaust und sterbenstraurig. „Halt! Warte!“ ruft Edna. Du hast recht, Schnecken können nicht rufen. Aber das ist unwichtig. Die andere Schnecke jedenfalls hat es gehört. So schnell sie können, und das ist nicht sehr schnell nach diesen Anstrengungen und auf so einem nassen Sandhügel zwischen den Pfützen, so schnell sie können kriechen sie zueinander. Vorsichtig stützen sie einander mit den zerbrochenen Häusern und sinken erst einmal in einen tiefen Schlaf.
 

Abalone

Mitglied
*lach* ich werde schnecken zukünftig mit anderen augen sehen! eine niedliche geschichte, gefällt mir erstaunlicherweise (solcherlei geschichten sind mir meist ein greuel ;-) ).
 

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Schön!

Ich finde die Geschichte deshalb so schön, weil sie mit so viel Einfühlungsvermögen geschrieben ist, mit so viel Liebe zum Detail. Außerdem ist sie ja eine schöne Parabel, so daß sie dem aufmerksamen Leser einen Blick in den Spiegel der menschlichen Emotionen bietet.
Danke sehr!
 



 
Oben Unten