Eichhörnchen Floo

Als die Tage länger wurden, wachte das Eichhörnchen Floo aus der Winterruhe auf. Erstaunt betrachtete es sein neues Fell, in dem ganze Büschel Haare fehlten. Weil sich auch die Zähne gelockert hatten, spürte Floo, dass der Herbst des Lebens gekommen war.
Floo wieselte den Stamm hinunter und eilte zu seinem Vorratslager. Mit geschickten Händen griff er nach einer Haselnuss, schnüffelte daran und wollte die Frucht aufbrechen. Da passierte das Unglück. Zwei Zähne brachen ab und blieben in der harten Schale stecken.
Nun muss ein Eichhörnchen nicht gleich verhungern, wenn es keine Nüsse, Eicheln oder Bucheckern mehr fressen kann, denn in Notzeiten begnügt es sich auch mit Insekten, Pilzen und Pflanzentrieben. Doch das ist nur unzureichende Nahrung für den flinken Waldbewohner.
Floo musterte hungrig die Haselnüsse, die da verlockend bereit lagen. Sie waren nun wertlos für ihn.
Der Herrgott aber hatte ein Einsehen mit dem Tierchen. Er vergaß nicht, dass seine Vorfahren in der Antike heilige Wesen waren. Darum führte er das Eichhörnchen zu einem Haus, in dem ein tierliebendes Ehepaar eingezogen war. Der alte Herr streute jeden Morgen Futter für die Vögel aus und die Meisen, Rotkehlchen, Buchfinken und Spatzen nahmen das Angebot dankend an. Der reich gedeckte Tisch lockte auch Floo. Er wagte sich in die Nähe der Menschen, weil er bald erkannt hatte, dass von ihnen keine Gefahr drohte. Und da seine Rasse von Natur aus sehr zutraulich ist, fiel ihm das nicht sonderlich schwer.
Der alte Herr freute sich über den Besuch, kaufte Nüsse und legte sie auf der Terrasse aus. Dann sah er, dass Floo die Schale nicht aufbrechen konnte und erledigte auch diese Arbeit. Dafür wurde er von dem possierlichen Kobold durch immer größer werdendes Vertrauen belohnt. Wenn morgens kein Futter bereit lag, wartete Floo vor der Tür und nahm die Leckerbissen gleich aus der Hand des Mannes an.
Doch dann kam der Tag, an dem alles anders wurde.
In der Nacht hatte Floo unruhig geschlafen. Im Traum lebte er wieder mit fünf Geschwistern in der Kinderstube. Dunkel war es, neun Tage lang, doch als sich dann seine Augen öffneten, lag er in einem Kobel, der sorgsam mit Moos und Blättern ausgepolstert war. Das Kuppeldach über dem Nest schützte die Familie vor Sonne und Regen.
Die Mutter verwöhnte ihn mit zärtlicher Liebe, musste die Fürsorge aber bald teilen, weil noch im gleichen Sommer die Kinderschar größer wurde. Dennoch war diese Zeit unvergesslich schön. Die Jungen beider Würfe jagten durch den Wald, balgten sich übermütig in der Sonne und trieben verwegen ihr munteres Spiel.
Im folgenden Jahr wurden die Sitten rauher. Die nun geschlechtsreifen Männchen fochten blutige Kämpfe untereinander aus, und nur dem Sieger schenke das umworbene Weibchen seine Gunst. Floo lachte das Glück, groß war seine Nachkommenschaft, und kerngesund dazu.
Das neue Familienleben endete jäh. Im Traum erlebte er noch einmal den Tod seiner Gefährtin. Bei der Nahrungssuche war sie einen Augenblick unachtsam gewesen und hatte den am Himmel kreisenden Habicht übersehen. Floo erkannte die Gefahr. Er stieß den Warnruf tjuck, tjuck, tjuck aus, doch da trug der Raubvogel das Weibchen schon davon. Der Eichkater versorgte die Kleinen, bis sie ihre Nahrung selbst suchen konnten. Dann zog er fort aus dem Wald und baute sein Nest in einem ruhigen Park.
Als Floo aus dem Traum erwachte, fühlte er eine seltsame Müdigkeit in den Gliedern. Er wollte im Kobel bleiben, aber ein undeutbares Verlangen drängte ihn, noch einmal den alten Herrn zu besuchen und auf seine Art zu danken für die vielen Wochen, in denen er sein Futter bekommen hatte. Floo brauchte lange Zeit, um Kraft zu tanken. Dann stieg er bedächtig den Stamm hinunter, ruhte eine Weile aus und lief hin zu dem vertrauten Ort. Dort saß der alte Mann und wärmte sich in der Nachmittagssonne. Das Eichhörnchen hüpfte zum Futterplatz, wo ein Apfelstückchen auf ihn warteten. Es nahm nur einen Bissen von der Frucht und schaute dann auf die Hand, die sich lockend ihm entgegen streckte. Floo überwand den letzten Rest seiner Scheu, kam zutraulich näher, schmiegte sich an das Bein des Mannes und verharrte dort fast eine halbe Stunde.
Als die Sonne tiefer sank und die Schatten länger wurden, trat das Eichhörnchen zögernd den Heimweg an. Mühsam kletterte es hoch in den Kobel und machte das Lager zurecht für einen langen Schlaf. Und irgendwann um die Mitternachtsstunde dämmerte es friedlich hinüber in eine andere Welt.
 



 
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