Eigendynamik

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Eigendynamik

„Gruppen entwickeln eine Eigendynamik.“ „Entwickeln“ benutzte er immer in diesem Zusammenhang. Er sprach nicht von „Entfalten“, da dieses Wort für ihn einen viel zu positiven Beiklang hatte. Entwicklung sei nach ihm nur die Phase, nach der die kleinen Kinder nicht mehr gewickelt werden. Gruppen sah er sowieso schlecht an. Es gibt natürlich auch eine positive Eigendynamik. Auf dem Prinzip baut sogar die Marktwirtschaft auf: Eigennutz führt zu einem Gemeinwohl. Auch Gastfreundschaft und vielleicht auch Neid können Positives bewirken.
Aber er meinte meist die Brutalität, die sich in Gruppen gegenüber Außenseitern entwickelt.
Eine Brutalität, vor der der Einzelne alleine zurückschrecken würde.
Und so dachten wir natürlich sofort, dass wieder solch ein Beispiel käme.
„Stellen Sie sich eine Gruppe vor, meine Damen und Herren!“
Er war stets höflich distanziert. Wahrscheinlich bekam er mit, dass wir hinter seinem Rücken über ihn und seine Art tuschelten.
„In einer Reihe. Hintereinander. Auf einem Fließband. An erster Stelle der Anführer, so ein Alpha-Tier.“
Früher hatte er uns anvertraut, dass sich ihm einmal jemand als Alpha-Tier vorgestellt hatte. Als er ihm damals darauf entgegnete, dass er sich als Mensch keinem Tier unterordnen würde, hat der ihn das später öfters fühlen lassen.
„Hinter unserem Anführer in abnehmender Rangfolge die anderen Gruppenmitglieder.
Stellen Sie sich das vor, meine Damen und Herren.
Und jetzt stoppt das Fließband abrupt. Der erste fällt, der zweite auf ihn, der dritte auf den zweiten u. s. w.. Und ganz obendrauf der letzte, der ewige Mitläufer. Dann ist der mal oben.“
Da prustete er vor Lachen los. Er konnte gar nicht mehr aufhören, so schallend laut lachte er.
Wir schauten betreten weg und fragten uns nur, wie sehr er unter seinen Mitmenschen gelitten hatte, dass er nun so unerträglich lachte und gar nicht mehr aufhören wollte.
 



 
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