Ein Apfelbaum sucht ein zu Hause

eira

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Ein Apfelbaum sucht ein zu Hause


Inmitten eines kleinen Gartens, direkt am Waldrand, stand seit vielen, vielen Jahren ein alter Apfelbaum. Großvater hatte ihn gepflanzt, als er noch jung war und ihn gehegt und gepflegt. Jahr für Jahr trug er saftige Äpfel und es war immer eine reiche Ernte gewesen. An einem seiner starken Äste hatte der Großvater eine Schaukel angebracht und die Kinder jauchzten vor Vergnügen, wenn sie sich hoch in die Lüfte schwangen.
Im Geäst hatten sich die kleinen Vögel ihre Nester gebaut. Es war ein Zwitschern und Trillern den ganzen Tag. Seine große, dichte Laubkrone spendete Schatten, wer sich auch immer auf die blaue Bank zu seinen Füßen setzte und die Blätter flüsterten dann die schönsten Geschichten aus seinem langen Baum-Leben.
Jetzt aber war es still in dem kleinen Garten geworden. Die Kinder kamen nicht mehr, sie waren längst erwachsen und fortgezogen. Die Schaukel baumelte lustlos im Wind und der Apfelbaum begann sich zu langweilen. Er beklagte sich bei den Vögeln und Schmetterlingen:
"Seit die Kinder nicht mehr da sind, ist es hier gar nicht mehr schön. Nichts Aufregendes passiert mehr. Wozu noch immer die schweren Äpfel tragen. Ich mag das nicht mehr tun! Das ist alles so langweilig hier. Immer muss ich am selben Platz bleiben. Ihr könnt ja hier und da hinfliegen und euch die Welt ansehen, euch macht das nichts aus!"
Eine kleine Meise sprach zu ihm: "Sei doch nicht so unzufrieden, lieber Freund. Glaub mir, du hast den schönste Platz in der ganzen Gegend. Viele deiner Brüder und Schwestern würden dich darum beneiden."
Aber der Apfelbaum grollte und zog sich mürrisch zurück, und so blieb es den ganzen Sommer über.

Eines Abends saßen der Großvater und die Großmutter auf der blauen Bank unter dem alten Baum und sie wunderten sich. Dieses Jahr trug er nur vier Äpfel und einen davon hatte er sogar abgeworfen! Was war denn nur los mit ihm? Vielleicht war der Baum schon zu alt und zu müde? Im Frühjahr sollte man ihn vielleicht fällen und ein junges Bäumchen pflanzen, meinte der Großvater. Sie pflückten die Äpfel und machten sich nachdenklich auf den Heimweg.
Der alte Baum aber erschrak sehr und er konnte es kaum erwarten, bis es Morgen wurde und die Vögel erwachten. Ihnen schüttete er sein Herz aus und er war sehr aufgeregt dabei.
"Jetzt soll ich sogar sterben, weil man meint, ich wäre zu alt!
Nein, hier bleibe ich nicht. Ich werde mir einen besseres zu Hause suchen!" sprach er und war entschlossen zu gehen. Niemand konnte ihn davon abhalten und schweren Herzens verabschiedeten ihn seine Freunde und wünschten ihm viel Glück auf seinem Weg.
Der Apfelbaum riss mühsam seine tiefen Wurzeln aus dem Erdreich und verletzte sie dabei ziemlich schlimm. Aber das war ihm egal. Er war fest entschlossen, sein Glück zu suchen. Die Wunden würden schon wieder heilen.

Doch welche Richtung sollte er nun einschlagen? Am liebsten würde er zu seinen Brüdern und Schwestern gehen, von denen die kleine Meise gesprochen hatte. Der Wald hinter dem Garten? Nein, das war ihm zu nah. Jetzt wollte er in die weite Welt hinaus!
Nach vielen Tagen einsamer Wanderschaft kam er in einen tiefen Wald. Hier wollte er bleiben, zusammen mit den anderem Bäumen. Sie sahen anders aus als er, hatten alle ein Nadelkleid. Der Apfelbaum begann sich zu schämen. Er stand ganz nackt vor ihnen, denn die Herbststürme hatten ihm schon alle seine Blätter entrissen. Am liebsten wäre er gleich weiter gegangen. Doch er war so müde und so begann er sich niederzulassen.
Es wurde ein sehr kalter Winter und in dieser Gegend war es besonders frostig. Jeder Ast, jeder Zweig war mit dicken, glitzernden Eiskristallen besetzt. Der Apfelbaum war solche Temperaturen gar nicht gewöhnt und er fror fürchterlich. Auch die Tiere litten unter der eisigen Kälte und fanden nichts zu fressen.
Rehe und Hirsche zogen durch den Wald und entdeckten plötzlich den Apfelbaum! Oh, das war ein Glück für sie, denn seine Rinde war zart und sehr schmackhaft. Der Baum ließ seine Äste furchterregend knacken und krachen, aber die Rehe und Hirsche vertrieb er damit nicht. Ihr Hunger war zu groß. Da weinte der Baum bitterlich, als die vielen, hungrigen Mäuler an seinem Stamm nagten und hässliche kahle Stellen hinterließen.
Des Nachts fiel eine Horde Wildschweine über ihn her, wühlte nach seinen zarten Wurzeln und der arme Apfelbaum konnte sich gegen sie genau so wenig wehren, wie gegen die Rehe und Hirsche zuvor. Wie sehr wünschte er sich jetzt zurück in den kleinen Garten, zu Großmutter und Großvater. Da gab es einen Zaun, der ihn schützte und so kalt war es auch nicht. Aber dort sollte er ja der Axt zum Opfer fallen. Nein, zurück konnte er nicht!
In dieser grauenvollen Nacht beschloss er, weiter zu ziehen, schließlich wollte er sich nicht auffressen lassen!. Der Wald war nicht gut für einen Apfelbaum. Es musste einen besseren Platz für ihn geben!

Mehrere Wochen ging er so durch Wälder und versuchte, die schrecklichen Erlebnisse zu vergessen, bis er in eine Stadt kam. Oh ja, hier war es interessant! Die vielen großen und kleinen Leute, die bunten Autos - das würde nicht langweilig werden und Wildschweine, Rehe und Hirsche kamen nicht in die Stadt. Er stellte sich in eine Pappel-Allee und beobachtete das bunte Treiben um sich. Nach einiger Zeit bemerkte er allerdings, dass weder die Pappeln noch er, von den Menschen beachtet wurden. Niemand freute sich über die Bäume, keiner machte Rast in ihren Schatten. Alle hasteten die Allee entlang, ohne sich auch nur umzusehen. Die Stadtmenschen hätten nie Zeit und Ruhe würden sie sich auch nicht gönnen, erzählten ihm seine neuen Freunde. Das fand der Apfelbaum sehr merkwürdig und er dachte an Großvater und Großmutter. Von den beiden Alten ist er immer bewundert worden und man hatte sich um ihn gesorgt. Er erinnerte sich an lange Sommerabende, als die beiden bei ihm auf der Bank saßen und seinen wispernden Ge
schichten lauschten... und der Baum wurde traurig.
Am nächsten Tag, in aller Frühe, kamen plötzlich Bagger und ein Kran die Allee hinauf gefahren. Die Pappeln rechts und links neben ihm, begannen zu zittern. Das taten sie sowieso recht häufig und wurden deshalb Zitterpappeln genannt. Aber dieses mal hatten sie allen Grund dazu. Sie hätten es gewusst, jammerten sie. Eines Tages müsse jeder Baum diese Stadt verlassen, den Platz räumen, für noch mehr Häuser. Jetzt würde man Kaminholz aus ihnen machen...
Dem Apfelbaum fuhr der Schreck in die Glieder und so schnell er konnte, suchte er das Weite. Nein, sein Leben war ihm lieb, als Kaminholz wollte er nicht enden und gefallen hätte es ihm auf Dauer in der Stadt sowieso nicht, wo er nicht beachtet würde.
Er lief weiter und weiter, immer noch auf der Suche nach einem neuen zu Hause. Seine Wurzelfüße waren vom vielen Laufen schon ganz wund, denn dafür waren sie ja gar nicht geschaffen. So langsam meldeten sich leise Zweifel. Ob er, als er den Garten verließ, nicht vielleicht doch einen Fehler gemacht hatte? Aber nein, beruhigte er sich, so langweilig wollte er einfach nicht leben!

Unser Apfelbaum schleppte sich mühsam weiter. Nirgends wollte es ihm so recht gefallen. Eines Tages führte ihn sein Weg zur Autobahn. Viele Fahrzeuge flitzten an ihm vorbei! Das war aber spannend! Er stellte sich neben eine kleine Birke und begann ein Gespräch:
"Ich muss schon sagen, du hast dir ein sehr interessantes Plätzchen ausgesucht. Hier gefällt es mir auch, hier werde ich bleiben,"
"Ohje, ich glaube, dass wirst du dir sicher noch mal überlegen. Du kennst das Leben hier doch gar nicht. Interessant mag es für den ersten Augenblick sein, aber daran gewöhnt man sich und morgen ist das alles schon nicht mehr neu. Dann stört der Lärm gewaltig. Tag und Nacht brummen und knattern die Wagen an dir vorbei, kein Auge kannst du zu machen. Der Staub lässt dein Blätterkleid hässlich und grau werden, du drohst zu ersticken! Und immer die Angst, es könnte dich vielleicht ein Auto umfahren... Ich habe es mir wahrlich nicht ausgesucht, hier am Straßenrand zu stehen. Bin als Samen vom Wind hier her geweht worden und angewachsen. Die Gegend gefällt mir keineswegs, aber nun bin ich fest verwurzelt und so bleibe ich auch an diesem Ort.
Aber sag, wo kommst du denn her! Einen Apfelbaum an der Autobahn habe ich noch nie gesehen."
Da seufzte der Apfelbaum und begann seine Geschichte zu erzählen. Und als er so den kleinen Garten mit der grünen Wiese und den bunten Blumen beschrieb, bemerkte er, wie schön er in seiner Erinnerung war. Er sprach von den lustigen Vögeln, die in seinem Blätterhaus gewohnt hatten und Lieder für ihn sangen. Wie sehr vermisste er sie. Doch als er von Großvater und Großmutter erzählte, konnte er die Tränen nicht zurückhalten. Er hatte solche Sehnsucht!
Mit großen, glänzenden Augen hatte die kleine Birke dem Apfelbaum staunend zugehört und sprach:
"Dein Garten muss der schönste Platz auf der ganzen Welt sein! Ich wünschte, dort leben zu können. Geh' zurück dort hin, es ist dein zu Hause! Trag würdig deine Äpfel, üppig wie jedes Jahr und freue dich an den schönen Dingen. Um das Fällen würde ich mir keine allzu großen Sorgen machen, die beiden Alten hängen doch an Dir. Sie haben ihr halbes Leben mit dir verbracht und es täte ihnen sicher weh, sich von dir zu trennen."
Gerührt umarmte der alte Baum die junge Birke. Sie hatte ihm aus dem Herzen gesprochen. So fühlte er eigentlich schon eine geraume Zeit. Mit seinem Dickkopf aber, hatte es sich das nicht eingestehen wollen. Jetzt wusste er, was zu tun war. Er verabschiedete sich von der Birke und bedankte sich für den klugen Rat. Nach Hause, in seinen Garten, dahin würde er nun gehen!


Nie zuvor sah man den alten Apfelbaum so glücklich inmitten des Gartens stehen. Und langweilig fand er sein Leben überhaupt nicht mehr. In seinem Geäst tummelten sich wieder die Vögel, er sah den Schmetterlingen zu, wie sie von Blüte zu Blüte flatterten, unterhielt sich mit den Gräsern und Blumen über das Leben und wusste, was er doch eigentlich für ein Glück hatte, in diesem Garten wohnen zu dürfen.
Im Frühling blühte er aus voller Kraft, so dass sich Großmutter und Großvater sehr wunderten! Dieses Jahr würde er für die reichste Apfelernte sorgen, die es je gegeben hatte.


Er war noch nicht zu alt und das würde er beweisen.
 

Monika M.

Mitglied
Da kann ich mich nur anschließen, eine wunderbare Geschichte, besinnlich, aber kein allzu erhobener Zeigefinger. Viele Grüße
Deine Monika
 



 
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