Ein Brief an Lady Applebite

Pat Bateman

Mitglied
Sehr geehrte Lady Steven Applebite,

ich hoffe sehr, der Brief findet Sie in einem Zustand der Gesundheit und des Wohlbefindens vor. Der Anlaß dieser Zeilen ist leider ein trauriger. Sie sind, ebenso wie ich, ein großer Freund der klassischen Musik, weshalb ich mich verpflichtet fühle, Ihnen diese tragische Geschichte, die sich gestern ereignete, mitzuteilen. Ich werde versuchen, meine starken Emotionen ein wenig zu zügeln, auf daß die nun folgende Begebenheit Ihnen nicht allzu pathetisch erscheinen mag. Doch lassen Sie mich beginnen: Vor wenigen Tagen traf es sich, daß ich von der uns beiden bekannten Mrs. Veronica Thinkwise zur hiesigen Oper geladen wurde, wo das Caspar Da Salo Quartett, unter der Leitung des großen Maestro Mariàn Pivka, mit dem Streichquartett in d-moll von dem wundervollen deutschen Komponisten Franz Schubert gastierte. Mrs. Thinkwise? Gatte war leider Tags zuvor an einem Pfirsich erstickt und somit unabkömmlich. Gott sei seiner Seele gnädig. Aber, verehrte Lady Applebite, wer hätte gedacht, daß dieser Mann aufgrund eines solch lapidaren Vorfalls verscheiden würde? Schließlich wußten wir alle um seine Trunksucht, die ihn noch früh genug darnieder gestreckt hätte. Wie dem auch sei, Mrs. Thinkwise hatte eine Karte zuviel, und sie bat mich, an diesem Abend ihr Begleiter zu sein. Ich fühlte mich geschmeichelt und sagte zu. Jedoch war es kein leichter Schritt, wissen Sie.
Am Tage der Vorstellung holte ich sie von ihrer Wohnung ab, vor der die Flagge immer noch auf Halbmast baumelte. Sie sah, trotz ihres tiefen Kummers, blendend aus und ich bescheinigte ihr, daß ihrer Person das Schwarz reizend zu Gesichte stünde. Sie wurde etwas verlegen, doch ich flüsterte ihr zu, daß sie wirklich keinen Grund hätte, zu erröten, worauf sich ihre Gesichtsfarbe noch mehr verdunkelte. Um sie abzulenken und gleichzeitig zu erheitern, bat ich sie im Scherze, sich nicht auf einer Tomatenplantage zu verstecken, da ich sie dort nie und nimmer finden würde. Damit hatte ich das Eis gebrochen, und wir gingen mit eingehakten Armen die Straßen zum Opernhaus entlang. Unterwegs witzelten wir ein wenig herum, ohne zu wissen, daß der Abend für uns beide als regelrechte Katastrophe enden sollte.á
Endlich saßen wir im Auditorium, das Licht wurde gedämpft, und wir sahen uns noch einmal kurz in die Augen. Sie lächelte mir schüchtern zu, und ich klopfte ihr freundschaftlich auf die Schultern, worauf sie einen Hustenanfall bekam, der, Gott sei es gelobt, verschwand, als sich der Vorhang erhob und den Blick auf vier Leute freigab, die auf ebensovielen Stühlen platzgenommen hatten. Es waren drei Männer mit Violinen und eine Frau mit einem Cello, das keck zwischen ihren Beinen plaziert war, was mich zu einem leisen Kichern zwang. Als die Musiker mit dem Stimmen ihrer Instrumente begannen, mußte ich lauthals lachen. Sie erzeugten durch das Verändern der Saitenstraffe dermaßen komische Laute, daß ich mir den Bauch halten mußte! Mrs. Thinkwise sah mich von der Seite an und ich zwinkerte ihr unter Tränen verschwörerisch zu, worauf sie ihren Blick schnell wieder nach vorne wandte. Arme schüchterne Veronica! Ach, liebe Lady Applebite, ich wünschte, Sie wären dabei gewesen. Im nächsten Augenblick war Stille im Saal. Der Konzertmeister nickte und das Quartett spielte auf. Doch bereits beim Allegro, welches einfach wundervoll ist, bemerkte ich ein seltsames Geräusch, das aus meiner näheren Umgebung herzurühren schien. Ich sah mich aufmerksam um, doch konnte ich seinen Ursprung nicht ausmachen. So lauschte ich weiter den mich schlummern machenden Klängen. Es war faszinierend, wie filigran die Cellistin mit ihrem Bogen über die Saiten streichelte. Doch auch diese Offenbarung konnte mich nicht darüber wegtäuschen, daß irgendetwas die Akustik empfindlich störte. Beim Andante Con Moto wurde aus dem bisher leisen, für mich undefinierbaren Geräusch, eine Art Wimmern oder Winseln, das in ein Schluchzen ausuferte. Ich bat laut um Silenzium, als ich von Mrs. Veronica Thinkwise mit dem Ellbogen leicht angestoßen wurde. Um ihr meine Loyalität zu beweisen stieß ich etwas fester zurück, und während sie zu Boden ging bemerkte ich, daß ihr Gesicht feucht war. Auf meine Frage, was denn los sei, antwortete sie, daß sie das Stück an ihren Mann erinnere. Der Applaus um mich herum erinnerte mich daran, daß nun das Scherzo - Allegro motto folgte, und ich blickte schnell wieder nach vorne. Das Schluchzen währendessen hatte zur allgemeinen Befriedigung aufgehört. So konnte ich diesen Teil des Streichquartetts in Ruhe genießen und mich auf das Presto freuen, das mir schon immer am besten gefiel. Das Presto. So dunkel, so tiefsinnig. So unendlich traurig, aber gerade dadurch ungehemmt befreiend. Die Antizipation, beim Allegro lediglich fade angedeutet, wird hier in seiner vollkommenen Schönheit und Göttlichkeit entfaltet. Doch wie wurde mir? Bereits nach wenigen Minuten, es mögen etwa drei oder vier gewesen sein, stand die anbetungswürdige Cellistin auf, ließ ihr Instrument vornüber fallen (es schwankte kurz, als könnte es sich nicht entscheiden in welche Richtung es sich zu bewegen habe) und folgte ihm dann auf dem selbigen Wege. Ich schrie, es möge nur ein böser Traum sein, doch ein Arzt, der zufällig im Publikum weilte, bescheinigte der unfreiwilligen Attraktion ihren eigenen Tod. Sie hatte sich scheinbar in spielerischer Extase einen Herzinfarkt zugezogen, der ihrem jungen Leben ein jähes Ende bereitet hatte! Ihren Enthusiasmus in Ehren, aber sie hatte damit das Stück ebenso zerstört wie ihr eigene Vitalität. Wie Sie sich vorstellen können, verehrte Lady Applebite, war der Abend für mich gestorben. Zu allem Überfluß konnte ich in dem Menschengewirr auch nicht mehr meine Begleiterin, die arme Victoria Thinkwise, ausmachen, so daß ich mich alleine auf den Heimweg machen mußte.
Können Sie sich meinen Kummer vorstellen? Verzeihen Sie, aber ich hatte das dringende Bedürfnis, jemandem dieses traurige Ereignis mitzuteilen. Und Sie sind die Einzige, die mich verstehen wird. Und wenn es jemals etwas gibt, das ich Ihnen nicht wünsche, so ist es eine Begebenheit mitzuerleben wie die jenige.

Hochachtungsvoll,

Ihr Harriet Blueye

P.S.: Das mir von Ihnen kürzlich zugesandte Stück Donauwelle war vorzüglich!
 



 
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