Ein Brief an die Menschen

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Jarolep

Mitglied
Wir sind alt. Wir werden schon alt geboren. Unsere Kinder schauen in diese Welt mit ihren großen grauen Augen, doch keine fröhliche Ungeduld auf das beginnende Leben ist darin. Eine Traurigkeit, eine Sehnsucht, eine unendliche Weisheit in diesen Kinderaugen lassen die Stimmen verstummen und Menschen von der Wiege unserer Kinder zurückweichen. So bleiben sie allein. Die Kinder mit alten Augen.
Wir sind Einzelgänger. Wir kommen überall hin, wir sitzen auf allen Festen und bleiben allein. Wir gehen allein.
Wir sind begabt, wir können und wissen alles, weil wir so alt sind. Wir malen für Euch Bilder, wir schreiben für Euch Romane, wir reisen für Euch und erzählen Euch alles, was wir gesehen haben. Denn es ist nicht Euer Blut, wonach wir trachten. Es ist das Feuer in Euren Augen, denn unser ist erloschen.
Wir haben feine Haut und zarte Glieder. Wir mögen die Sonne, aber sie wärmt uns nicht. Wir mögen das Licht, aber es durchdringt nicht die Dunkelheit, in der wir leben. Wir wirken zerbrechlich, aber in Wirklichkeit haben wir große Kraft. Das ist die Kraft unseres Geistes.
Kraft und Macht. Wir haben die Macht über Euch, wir haben sie nicht gewollt. Wir ziehen Euch an und stoßen gleichzeitig ab. Wir sind ein altes Volk. Ihr sucht unsere Weisheit, ihr müsst es tun, wir suchen Eure Seele.
Wir können nicht weinen, es gibt nichts, was uns so stark bewegt. Wir haben schon alles gesehen. Aber wir können lachen. Böse und bitter. Wir sind gebildet und klug, wir können Euch zum Lachen und Weinen bringen, denn das, wonach wir trachten, ist das Feuer in Euren Augen.
Ihr habt Angst vor uns. Von dieser Angst leben wir, denn auch sie kann man sehen. Ihr zögert, uns die Hand zu geben. Bleibt unbesorgt! Wir brauchen Eure Hand nicht. Ihr zündet Kerzen an und flüstert Zaubersprüche, die uns fernhalten sollen. Das Kerzenlicht ist schön. Es verwischt die Farben und Formen dieser Welt und verwandelt sie in einen leisen Traum ohne Emotionen. Die Welt im Kerzenlicht ist nicht Eure. Eure Zauberwörter? Eure Zauberwörter sind unsere Sprache:„Ateh, Malkuth, Vegeburra…“. Wir fürchten uns vor diesen Wörtern nicht, das ist unser Lied. Es erzählt von unserer Hoffnung, das Gefühl vom Zuhause erleben zu dürfen. Wir fühlen nichts. Wir hören Euch aufmerksam zu, wenn Ihr über Eure Familien redet. Wir versuchen, uns vorzustellen, wie das ist, glücklich zu sein, und schauen Euch dabei in die Augen und suchen nach dem Feuer darin. Denn das ist es, wonach wir trachten.
Manche denken, das Kreuz kann sie beschützen. Wir selbst suchen das Kreuz auf, fahren mit unseren dünnen Händen darüber und reden mit ihm. Denn im Kreuz treffen sich Himmel und Erde, das Menschliche und das Göttliche. Irgendwo auf diesem Weg liegt unser Ursprung. Nicht das Pentagramm ist unser Zeichen, wie Ihr denkt. Denn der fünfte Strahl des Pentagramms steht für die Seele, und die besitzen wir nicht.
Sind wir gefallene Engel, sind wir Kinder der Hölle? Das wissen wir nicht. Wir leben zu lange unter Euch.
Noch wissen wir, was Liebe ist. Wir lieben unsere Kinder. Wir lieben diese Welt. Wir leben gierig, ekstatisch, und können nicht aufhören, aus der Quelle des Lebens zu trinken. Wir strecken unsere Hände zum Himmel, wir tanzen mit dem Wind, wir hören dem endlosen Flüstern des Meeres zu. Wir mögen nicht, wenn Ihr uns dabei zuseht. Wir ziehen uns zurück, wir schämen uns. Denn unsere Art der Liebe ist nicht die Eure. Das ist nicht das Geben, das ist das Nehmen.
Wir heiraten Eure Frauen und Männer, wir zeugen Kinder mit Euch. Diesen Kindern schauen wir in die Augen: sind sie unendlich und kalt, gehört das Kind uns, sind sie erleuchtet, gehört es der Menschheit. Wir freuen uns darüber. Wir hoffen, dass wir so aus dem Kreis der Verdammnis kommen. Aber bisher hat sich das Gleichgewicht gehalten, und die Hälfte der nächsten Generation wird unseren Weg gehen.
Wir sind nicht unsterblich. Wir können nur nicht sterben, weil wir schon tot sind.
Wir sind, was wir sind. Bitte, verzeiht uns!
 
G

Gelöschtes Mitglied 5196

Gast
hallo

eine wirklich gute idee.. hat mir gefallen, weil es mal was anderes war.

lieben gruß

mye
 
M

Minds Eye

Gast
Das ist großartig. Gefällt mir wirklich sehr.
Zwei kleinere Anmerkungen:
ekstatisch (!)
Märchen des Meeres (Weiß nicht, ob das Absicht ist, aber die Wörter ähneln sich beim lauten Lesen doch sehr. Flüstern o.ä. fänd ich persönlich besser.)
Nichtsdestotrotz eine spontane Höchstwertung meinerseits.
Grüße,
ME.
 

Jarolep

Mitglied
Minds Eye

Hallo, Minds Eye,

Danke für die Bewertung. Sorry für die Fehler. Die Geschichte ist auch spontan entstanden, daher an manchen Stellen - na ja, nicht ganz so 100-prozentig.
"Märchen" oder "Flüstern"? Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen.

Vielen Dank!

jarolep
 
Hi Jarolep,
schöner Dialog, der Möglichkeiten aufwirft. Bin ein wenig beim Zeugen der Kinder mit den Menschen hängen geblieben. Da ich nicht versuchen möchte, deinen Text zu interpretieren, bleibt mir nur, das Bild zu sehen, daß du zeichnest: eine in gewisser Weise integrierte Gesellschaft von Toten in eine Welt der Lebenden. Der soziale Aspekt, hier allein schon durch den Dialog, dann durch die gemeinsamen Handlungen, gibt diesem "brief" eine gewisse Modernität, Toleranz etc.

Schön gemacht, Gruss Marcus
 



 
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