Ein Fall

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goetzkluge

Mitglied
Wieder einmal war ein Wolkenkratzer gebaut worden, der höher war als das zuvor höchste Gebäude der Welt. Es war mein Werk. Ein großartiges Werk, das die Menschheit einige Jahre lang an mich erinnern sollte. Es kratzt sogar Wolken, die über Wolken entlangjagen.

Ich spüre den scharfen Wind, der diese Wolken vor sich her treibt. Es war keine große List nötig, hierher zu gelangen, an eine unbewachte Kante des Daches meiner Meisterleistung. Denn als Architekt dieses großartigen Gebäudes hatte ich es natürlich leichter als sonst jemand, alleine und ohne Belästigung durch irgendwelche Sicherheitsleute auf seine Spitze zu gelangen.

Ein bisschen Furcht spüre ich schon. Die Furcht vor dem Fallen ist in die Menschen eingebaut. Du kennst das ja, wenn, bevor dich der ganze Schlaf umfängt, zuerst der Gleichgewichtssinn einschläft, der Rest aber noch wach ist. Dann spürst du plötzlich die Schwerkraft nicht mehr und fällst auf deinem Bett liegend in eine gähnende Tiefe, die es garnicht gibt. Dann zuckst Du erschrocken zusammen und bist wieder hellwach.

Solche kleinen Probleme werde ich nun hinter mir lassen. Im Sprechfunk der Sicherheitsleute höre ich die ersten Fragen nach meinem Verbleib. Es gibt bereits Überlegungen, notfalls ohne mich anzufangen. Aber ich werde kommen!

Da eine gute Überraschung auch ein gutes Timing braucht und ich mir für die Falldauer schon einige Sekunden ausgerechnet habe, muss ich den Moment abwarten, in dem der Vorredner den Wichtigtuer aufruft, der mich für meine Schöpfung nur mit ein paar lächerlichen Almosen abgespeist hat und nun auch noch den ganzen Ruhm für sich selbst ernten will. Er will mein Denkmal zu seinem machen. Aber wenn er seinen Weg zum Rednerpult beginnen wird, wird auch mein Weg zum Rednerpult beginnen. Wir werden dort etwa gleichzeitig eintreffen.

Ich höre aufmerksam auf den Funkverkehr unter den Wolken. Es dauert nicht lange, dann ist es soweit. Ich mache mich auf den Weg und stürze in die Wolken unter mir. Auf solch einem Weg, sagt man, ziehen nicht nur die Stockwerke blitzschnell am Stürzenden vorbei, sondern sein ganzes Leben durch seinen Kopf.

Nun aber muss ich plötzlich feststellen, dass das ein Gerücht ist, und zwar nicht nur wegen der schlechten Sichtverhältnisse im Nebel. Denn plötzlich falle ich gar nicht mehr, sondern ich stehe ganz still. Die unterste Wolkenschicht rast jedoch nun auf mich zu, immer schneller und schneller. Der Sturm bläst mich von unten an. Und unter den letzten Wolken beschleunigt sich wohl auch die Erdoberfäche mit all den Partygästen in meine Richtung. Sie drückt auf die Füße der auf ihr Stehenden und auf die Ärsche der auf ihr Sitzenden, aber diese Wichtigtuer meinen, sie selbst hätten Gewicht und drückten die Erde platt. Da wird mir plötzlich klar: In wenigen Sekunden werde nicht ich zu ihnen kommen, sondern sie zu mir!

Bevor ich meinen letzten Weg antrat, hatte mich ja die Spitze meines hunderte Meter hohen Erdenphallus vom Erdmittelpunkt sicher weggedrängt, immer und immer schneller. Ich konnte den Druck nach oben ins Weltall unter mir spüren. Nichts hatte mich auf die Dachkante gedrückt, sondern dieser auf der Erde stehende Stab schob mich mit konstanter Beschleunigung immer weiter in den Raum. Und dabei spannt sich die Erdenhaut überhaupt nicht, denn sie wächst mit, so wie Du und ich und die Wolken und auch sonst Alles, was diesen ständig immer schneller anschwellenden Globus bevölkert.

Die Verhältnisse bleiben gleich. Darum merkt kaum Einer etwas von der zunehmenden Ausdehnung, bis jetzt, bis auf eine Ausnahme. Und die bin ich.

Inzwischen unter der untersten Wolkenschicht angelangt, kommt die kräftig anschwellende Partygesellschaft, das kalte Buffet auf der Wiese und das kleine Zelt mit der Bühne darunter in mein Blickfeld. Natürlich, ganz natürlich, wird Alles immer größer auf dem Weg zu mir. Da mich mein architektonisches Meisterwerk aber nicht mehr mit seinem Dach auf Abstand zur Oberfläche des dauerexplodierenden Erdballs hält, sondern das Dach des Zeltes auf dem sich ausdehnenden Globus nun rasend und rasender auf mich zuschießt, werde ich meine letzte bedeutende Entdeckung für mich behalten müssen. Denn die Erde wird mit mir kollidieren.

Zu dumm, dass mir diese Erkenntnis jetzt so spät einfällt. Nicht den verdienten Architekturpreis haben sie mir verweigert, sondern den Nobelpreis habe ich verpasst! Andere werden für eine Entdeckung gerühmt werden, die ich schon vor ihnen hatte: Es gibt überhaupt keine Gravita...
 
K

KaGeb

Gast
Hallo goetzkluge,

guter Einstandstext!

Herzlich Willkommen auf der LeLu, dem Forum zwischen Genie und Wahnsinn =)

LG kageb
 



 
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