Ein Glas Wasser (Sehnsucht)

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Lugh

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Das Sonnenlicht brach sich in dem mit Wasser gefüllten Glas und zauberte Lichtreflexe an die steinerne Wand. Die Wasseroberfläche kräuselte sich leicht und auch hier spielte sich das Licht damit, malte hier und dort einen hellen Punkt auf die Wasseroberfläche und ließ auch mal einen kleinen Stern aufblitzen. All das machte das Wasser noch verführerischer. An dem leicht beschlagenen Glas konnte man erkennen, dass das Wasser noch schön kühl sein musste. Gerade richtig um einem die nötige Erfrischung zu bieten. Nur ein Tropfen von diesem wunderbaren kühlen Wasser, was würde er dafür tun. Endlich wieder Flüssigkeit spüren, die seinen ausgetrockneten Mund befeuchtete und seine Kehle hinunter rann. Seit Tagen hatte er nichts mehr getrunken, selbst Spucke konnte er nicht mehr produzieren. In seinem Mund fühlte sich alles pelzig und vertrocknet an. Oh, wie verlockend erschien ihm dieses einfache Glas Wasser, viel begehrenswerter noch als die drallste Dirne in Reynard’s Freudenhaus. Nur einen Tropfen, einen Tropfen Feuchtigkeit für seinen geschundenen Körper. Er schloss die Augen und stellte sich vor wie es wäre aus dem Glas zu trinken: der kalte Schwall Wasser der sich in seine Kehle ergießen würde, Flüssigkeit für seine Lippen, seinen Gaumen, seinen Rachen. Wie wäre das herrlich einen Schluck aus diesem Glas machen zu können.

Doch als er die Augen öffnete war das Glas mit Wasser noch immer so unerreichbar wie zuvor. Selbst wenn er sich mit aller ihm verbliebenen Kraft in die Ketten warf so kam er doch nie nah genug an das Glas heran. Nur wenige Zentimeter fehlten um das Glas zu erreichen, doch auch diese wenigen Zentimeter waren zu viel. Der Wächter, den sie Ralle nannten, hatte das Glas genau so platziert, dass er es nicht erreichen konnte. Nach einigen vergeblichen Versuchen war ihm eine Kerbe im Steinboden aufgefallen. Offenbar markierte sie die Stelle, bis zu welcher ein Gefangener in Ketten kam. Er war offensichtlich nicht der erste Gefangene, mit dem sie dieses grausame Spiel trieben. In einer der dunklen Ecken lagen ein paar halb verrottete Knochen, von denen er bisher angenommen hatte, sie seien von einem Tier übrig geblieben. Inzwischen war er sich da nicht mehr so sicher.

„Verdammte Bastarde“, dachte er. Früher hätten sie es nie gewagt ihn so zu behandeln. Auf ihren dreckigen Knien waren sie vor ihm zu Staube gekrochen, hatten seine Hände geküsst. Jetzt kauerte er mit seinen aufgerissenen Knien auf dem Steinboden und seine Hände waren in Ketten. Statt feinem Tuch trug er nur noch eine schäbige Leinenhose, die durch einen Strick um seine Hüfte davon abgehalten wurde noch mehr von ihm zu entblößen. Zuerst hatte er gedacht, die Demütigung wäre das Schlimmste, dann hatte er das von den Peitschenhieben gedacht. Inzwischen war er sich sicher, dass der Durst das Schlimmste war, das ihm widerfahren könnte. Wenn er doch nur dieses Glas erreichen könnte …

Durch die Gitterstäbe drang das laute, dumpfe Lachen eines der Wachleute. Wahrscheinlich saßen sie dort draußen und erzählten sich gegenseitig ordinäre Witze. Oh, wie er sie verabscheute. Früher hatte er sie als das behandelt was sie auch waren: Nichts. Jämmerliche Würmer am Hof des Kahns. Kleine Insekten, welche die ihnen aufgetragenen Aufgaben mehr schlecht als recht erfüllten und dafür noch entlohnt wurden. Doch kaum hatten sie ihm die Ketten angelegt hielten sie sich selbst für Götter. Götter die mit ihm ihr grausames Spiel trieben. Aller Macht beraubt war er hier unten nicht mehr Wert als ein Gassenjunge. Das ließen sie ihn bei jeder Gelegenheit spüren. In seine letzten Mahlzeiten, bevor sie ihm selbst das verwährten, hatten sie vor seinen Augen reingespuckt. Wer weiß, was sie hinter seinen Augen damit gemacht hatten. Beim ersten Mal hatte er das Essen noch verweigert, doch später war der Hunger zu groß geworden. Inzwischen bereute er die Nahrung nicht zu sich genommen zu haben.

Umständlich verlagerte er sein Gewicht von der linken auf die rechte Seite um seinen steifen Gelenken etwas Erholung zu bieten. Schon diese einfache Bewegung schmerzte an tausend Stellen und doch war es nichts im Vergleich zu dem Durst den er verspürte. Vor ein paar Wochen hatte er noch feinsten Wein aus Médoc getrunken, nun würde er alles für ein einfaches Glas Wasser aus dem Hofbrunnen geben. Dieses Glas, das dorthin gestellt wurde, nicht um ihm seinen Durst zu lindern sondern um ihn zu verhöhnen.

Wut flammte wieder in ihm auf. Aber diesmal war es keine Wut auf die Wachmänner dort draußen, die ihn so quälten. Nein, vielmehr Hass auf den Mann, der dafür verantwortlich war, dass er nun hier saß: René. Dieser Verräter war Schuld, dass ein einfaches Glas Wasser ihm fast den Verstand raubte. Er hätte ihn töten sollen, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Ein kleiner Schubs an der Klippe und weg wäre er gewesen. Ein langer Schrei, ein leises Platsch - und ein Problem weniger. Verflucht, hätte er nur den Mut dazu gehabt. Aber so eine Aktion wäre selbst in seiner Position riskant gewesen. René hatte da offensichtlich weniger Skrupel, wie er nun leidlich feststellen musste. Natürlich machte er sich nicht selber die Finger schmutzig. Stattdessen ließ er ihn hier unten elendig verdursten. Arschloch.

Kurzfristig verlagerte das Bedürfnis René ins Gesicht zu schlagen sogar das Verlangen etwas zu trinken. Aber nur ganz kurz. Er würde diese Gelegenheit nicht bekommen. Er bekam ja nicht einmal ein Glas Wasser. Erschöpft ließ er sich in seine Ketten fallen und schloss die Augen.

Als er die Augen wieder öffnete war es dunkel geworden. Er war wohl eingeschlafen. Trotzdem fühlte er sich nicht erholter. Durch das kleine Fenster seines Kerkers konnte er nun die Lichter der Stadt erkennen. Der Hof, in dem er gefangen war, befand sich nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt auf einer kleinen Anhöhe. Er konnte die gelblichen Lichter der Straßenbeleuchtung und den neonbunten Schein der Reklametafeln sehen. Vom Norden der Stadt stiegen hohe Rauchwolken von der Raffinerie auf.

René hatte viel zu spät die Bedeutung der Raffinerie erkannt. Die Raffinerie und das Öl waren schon immer die Machtbasis für seine Familie gewesen, heute noch mehr als im Jahr 2050. Er hatte das früh erkannt und die notwendigen Schritte eingeleitet. Das Recht des Mächtigeren obsiegte über das Recht des Erstgeborenen. Und dann ließ ihn dieser Verräter in eine Zelle werfen. Ein feiner Bruder war das. Und Richárd, diese falsche Schlange, hatte ihm auch noch geholfen. Es war ein Fehler gewesen ihm das Kommando über die Garde zu geben. Seine Mutter hatte ihn noch gewarnt, sie kannte sich schließlich aus mit Verrat. Immerhin hatte sie seinen Vater vergiftet. Er hatte ihr das nie übel genommen. Sein Vater war ein Tyrann gewesen, viel schlimmer als er es hätte sein können. Doch vermutlich nicht so schlimm wie René es sein würde.

Schon als kleines Kind konnte er sich nie beherrschen. Er zerstörte sein Spielzeug, ärgerte die Kindermädchen, schrie und brüllte wie es ihm gefiel und war kaum zu bändigen. Bereits als René 16 war musste ihr Vater einen Beamten befördern und zwei Zeugen verschwinden lassen um zu vertuschen, dass René ein Mädchen vergewaltigt hatte. Mit 18 Jahren übernahm René die Beseitigung bereits von selbst. Verdammt, was sollte das überhaupt? Er hätte sich ein Dutzend Frauen einfach kaufen können, aber er musste immer eine nehmen die nicht wollte. So hatten sich früh alle Hoffnungen auf ihn konzentriert, den zweiten Sohn des Kahns. Das war nicht ganz ungewöhnlich. Bereits sein Großvater, der 2. Kahn, hatte es durch einen geschickten Schachzug auf den Thron geschafft. Noch mehr als der erste Kahn hatte er es geschafft, das Chaos nach dem dritten Weltkrieg zu seinen Gunsten zu nutzen und seine Macht zu festigen. Ein Umstand von dem er heute noch profitierte – oder profitieren würde, wenn er nicht in diesem Kerker säße. Leider war seine Muter nicht mehr am Leben um einzuschreiten. Sie war die einzige gewesen, die René hatte bändigen können.

Aber nun war alles egal. Er hing in Ketten und niemand stand René nun noch im Weg. Auf in eine neue Ära, die noch dunkler werden würde als die vorherige. Juchhu. Vielleicht war es ohnehin besser wenn er hier sterben würde. Wenn er nur bald sterben würde. Der Durst war wirklich unerträglich. Mit halb geschlossenen Augen begann er wieder zu dösen.

Plötzlich nahm sein Bewusstsein ein ungewohntes Geräusch war. Er schüttelte kurz den Kopf und öffnete die Augen. Jemand war an der Zellentür und öffnete das Schloss. Gespannt beobachtete er die Tür, wie sie mit einen lauten Knarren nach außen aufschwang. Herein trat eine dunkel gekleidete Gestalt mit schweren Stiefeln und einem Degen an der Seite. Langsam kam die Gestalt näher und blieb bei dem Glas Wasser stehen. Mit der Spitze des rechten Stiefels stieß er das Glas um und der kostbare Inhalt ergoss sich über den Steinboden. Es verschwand sofort in den Rissen und in den Spalten zwischen den einzelnen Steinen. Nicht ein Tropfen blieb für den Gefangenen zurück. Die dunkle Gestalt grinste.

„Komm doch ruhig ein bisschen näher René, damit ich dich mit meinen Ketten erwürgen kann. Du würdest uns allen einen großen Gefallen damit tun.“ Das Sprechen fiel ihm schwer und seine Stimme kam nur dünn hervor. Es klang nicht annähernd so stark wie er es sich gewünscht hätte, aber es genügte um René soweit zu provozieren, dass er ihm mit der behandschuhten Hand ins Gesicht schlug.

Sein Kopf flog nach hinten gegen die harte Steinmauer und aus seinem Mund floss Blut. Er hatte sich zwar Flüssigkeit gewünscht, aber dies war nicht woran er gedacht hatte. Er spuckte das Blut aus und bemühte sich, Renés Stiefel zu erwischen, traf aber nicht.

„Du schlägst immer noch zu wie ein Mädchen.“

Für diese Bemerkung bekam er einen Fußtritt in den Magen. Er krümmte sich, soweit dies in Ketten möglich war. Er musste ein paar Mal nach Luft schnappen bevor er sagen konnte: „Entschuldige. Ich meinte natürlich wie ein kleines Mädchen.“

Der nächste Tritt traf linke Niere. Diesmal brauchte er etwas länger um sich zu erholen. In der Zwischenzeit begann René zu reden: „Man sollte glauben, zumindest hier unten würdest du lernen deinen Mund zu halten. Aber nein, du machst dein Maul immer noch viel zu weit auf. Sieh dir doch mal an, wohin dich das gebracht hat.“

„Das einzige, was mich hierher gebracht hat, bis du. Nur weil du unbedingt den kleinen, machthungrigen Despoten spielen musst sitze ich hier.“

„Falsch. Weil du mich um mein Recht auf den Thron bringen wolltest. Deshalb bist du hier.“

„Du weißt genau, dass diese Entscheidung nicht von mir alleine getroffen wurde. Mutter war genauso der Meinung, dass es das Beste wäre, mir den Thron zu überlassen.“

René stieß einen zornigen Schrei aus und trat nach dem Glas, das noch auf dem Boden lag. Wuchtig schlug es gegen die Wand und die Splitter flogen in alle Richtungen. Ein paar davon trafen auch den Gefangenen. Er bemerkte den Schmerz kaum. Er wollte nur, dass René noch etwas näher kam.

„Mutter! Mutter war eine Verräterin. Sie hat Vater getötet um selbst regieren zu können. Und du warst schon immer ihr Liebling. Du warst immer der Bessere, der Klügere, der Stärkere. Und was war mit mir? Mich hat sie nur geduldet. Weißt du was sie mir eine Woche vor ihrem Tot gesagt hat? Sie hatte gesagt, ich sei verrückt. Verrückt, weil ich unserem Clan zu neuem Glanz verhelfen wollte.“

„Offensichtlich lag sie damit ja nicht ganz falsch. Ich kenne doch deine Pläne. Die bringen nur Tod und Verderben. Sieh dir doch mal an, was nach dem letzten Krieg aus uns geworden ist!“

„Ich sehe genau, was nach dem letzten Krieg gekommen ist: Unsere Familie ist aus diesem Krieg hervorgegangen. Mächtiger als jeder andere Clan auf diesem Kontinent. Und warum sollten wir uns diesen Kontinent nicht zu Untertan machen, so wie es der erste Kahn prophezeit hat?“

„Verdammt, weil der erste Kahn ein Junkie war! Der hatte nach 2063 doch keinen lichten Augenblick mehr.“

„Oh Bruder, du bist so beschränkt und kurzsichtig. Du siehst die glorreiche Zukunft nicht, die vor uns liegt. Diese Zukunft, die ich uns bringen werde.“ René kam näher zu ihm hin, um ihm in die Augen zu sehen. Ja, noch ein wenig näher. „Ich werde das Werk des ersten Kahn vollenden. Unter mir wird unser Clan den ganzen Kontinent beherrschen – und später die ganze Welt! Unter meiner Regentschaft werden wir zu alter Größe zurückfinden und wieder die Herren dieser Erde. Und niemand wird mich davon abhalten, schon gar nicht du.“

Ihm entkam ein leichtes Lächeln. Er streckte den Kopf nach vorne um näher an René heran zu kommen. Mit leiser Stimme sprach er: „Weißt du, was mir Mutter am Sterbebett verraten hat? Sie sagte: ‚Es stirbt sich viel leichter, wenn man rechtzeitig Rache geübt hat.’ Bei dir wäre ich fast zu spät gekommen, aber nun ist es doch noch so weit.“

René sah in verdattert an. Mit einen letzten Lächeln biss der Gefangene mit einer speziellen Technik seine Backenzähne zusammen. Dadurch wurde der Zünder ausgelöst, der die versteckte Sprengladung in seinen Backenzähnen zum Detonieren brachte. Als ihm der Sprengstoff damals eingebettet wurde, konnte man ihm nicht genau sagen, wie stark die Explosion werden würde. Man rechnete damit, dass alles in einem Umkreis von einem Meter zerstört würde. Man hatte die Sprengkraft definitiv unterschätzt.
 



 
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