Ein Imperium der Sinnlosigkeit

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onhcam

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Lazo I. saß früh am Morgen in einem Kaffeehaus in der Wiener Innenstadt und war bisher der Einzige, der den Weg hierher gefunden hatte. Es war der Bräunerhof, ein Lokal, dass er seit seiner frühesten Studienzeit aufsuchte und in dem er gerne zwei- bis dreimal in der Woche etwas Zeit verbrachte.
Er musste heute nicht arbeiten, war aber trotzdem früher aufgestanden als sonst. Eine alte Angewohnheit, die er sich nicht erklären konnte.
Um sich seinen Kaffee nicht selber machen zu müssen, beschloss er in das erwähnte Kaffeehaus zu gehen und bestellte eine Tasse Mokka.
Seine Gedanken bewegten sich an jenem grauen Morgen beschwerlich und ziellos. Trotzdem fand er es angenehm hier zu sitzen und seine Tasse langsam zu leeren. Die Gedanken zerflossen wie der Zucker in der heißen Tasse. Morgendliche Zerstreuung, die er so nötig hatte. Ein Kaffee in dem man sich verlieren konnte.
Langsam war es ihm wieder möglich klare und konzentrierte Gedanken zu fassen. Es tat gut den Moment so deutlich und ohne Ablenkung genießen zu können, jede Anspannung fiel von ihm ab.
Bei ihm an seinem kleinen Kaffeehaustisch hatte er einen Kugelschreiber und sein kleines gebundenes Notizbuch mit rotem Rand und cirka dreihundert Seiten, die er innerhalb weniger Wochen schon zu einem Viertel voll hatte. Es passte gerade noch in die Innentasche seines Mantels, nie ging er ohne fort.
Seine Gedanken waren die letzten Monate immer wieder um die Themen Gesellschaft, Glück und das Alleinsein gekreist. Besonders durch diese drei Lebensumstände befand sich fast sein ganzes bisheriges Dasein immer wieder in einem existenzbedrohenden Ungleichgewicht, dass ihn meist in tiefer Depression versinken verließ.
Freunde gewonnen, sie durchschaut und etwas dabei verloren oder doch mehr gewonnen? Autonomie oder Einsamkeit. Ist Liebe gleich Glück, bedeutet ein guter Job gleich Glück, kann man auf sich alleine gestellt, wirklich glücklich sein? Bin ich wirklich gerne alleine oder war diese Einbildung doch wieder nur da zur Mauerbildung, zum Selbstschutz? Heute ging es seinen Gedanken nicht anders. Er legte das Buch vor sich hin und notierte:

„Fragen der Einsamkeit:
Warum bin ich allein? Wer kann mir die Einsamkeit wieder rauben? Brauche ich dazu jemanden, außer mir selber? Wenn ja, wer ist es? Eine neue Liebe, ein alter Freund (längst vergessen)? Meine Eltern? Meine Nachbarn? Mein Therapeut? Meine Freunde, die ich nicht mehr sehen oder hören kann, weil ich sie durchschaut habe, Unmenschen.
Braucht es neue Menschen in meinem Leben. Gibt es überhaupt jemanden, der es „Wert“ ist.
Mit mir allein und glücklich? Nicht ganz.
Zumindest eine therapeutisch-teilende Freundschaft. Und ein paar lose Kontakte zu verschiedenen Persönlichkeiten, Menschen.
Das ist genug, das ist Glück?
Heilende, innere Auflösung der Probleme durch das Schreiben. Reden und sich frei, offen für neues Unglück und neue Probleme fühlen. Trinken um abzulenken, um sich zu betäuben, dabei in den leeren Kosmos „Leben“ starren.
Der glückliche Kosmos namens „Leben“, der erfüllte, gefühlte Kosmos. Ein Knall, Urknall zum Neuanfang. Geist und Empfindlichkeit in Einklang bringen. Verstand und Natur wie Bruder und Schwester, wie Vater und Sohn, wie Mutter und Tochter.
Gefühlsschreiben: nicht nur aufschreiben von Gefühlen, sondern gefühlt schreiben. Verharren, gleichzeitig größte Erkenntnis im Moment.“

Zeit verging.
Ungefähr eine halbe Stunde nachdem er erschienen war kamen in unregelmäßigen Abständen immer mehr Menschen und verteilten sich in seinem Blickfeld. Er hatte einen Platz in einer der Ecken des Lokals gewählt, damit er alles überblicken konnte, unter seiner Kontrolle wusste.
Seine erste Tasse war leer. Er bestellte eine Zweite, beobachtete die Menschen wie sie miteinander sprachen. Es waren einige junge Leute darunter, wahrscheinlich Studenten. Er erinnerte sich, dass er mit seinen Studienkollegen selbst oft vor, zwischen und nach den Vorlesungen in Cafes und Gasthäusern saß. Man tauschte sich gerne aus, debattierte, polemisierte. Nun hatte er aber niemanden dafür und das fand er auf einmal schade.
Man brachte ihm die zweite Tasse Kaffee. Er nippte ungeduldig daran, sie schmeckte weniger erfrischend als die Erste. Es machte sich ein unbehagliches und undurchdringliches Gefühl in ihm breit. Die vielen Menschen die ihm scheinbar plötzlich um sich herum aufgefallen waren, ließen ein Gefühl der Bedrängnis und Entfremdung in ihm aufsteigen.
Bis jetzt war er recht froh gewesen ungestört geblieben zu sein, jedoch fühlte er nun eine eisige, eine frostige Kälte, die er glaubte, nur direkt um sich herum zu bemerken. Er bildete sich sogar ein, dass zwischen ihm und den anderen Menschen eine Art Temperaturbarriere emotionaler Art bestand. Hin und wieder schien es ihm, als würde er warme Gefühlsströmungen, die von den Pärchen und Gruppen um ihn herum kamen, fühlen. Ohne böse zu werden, wäre er nun gerne von jemandem belästigt worden, egal von wem. Irgendjemand, der ihn aus seiner Isolation herausreißen würde und ihn ein kleines bisschen seiner wärmenden Menschlichkeit spüren lassen könnte.
Ein immer lauter werdendes Sprachgewirr erfüllte den Raum. Anfangs ein leises Säuseln, entwickelte es sich zu einem bedrohlichen Donnern.
Angst, Nervosität, Schweiß auf seiner Stirn. Unruhiges, händisches schleifen der Hose.

Angespannt und innerlich bebend, versuchte er sich wieder auf sein Notizbuch zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht. Sein Blick zuckte durch den Raum, er glaubte seinen Augen nicht, die Menge hatte sich ihm ausnahmslos zugewandt und starrte ihn an. Er lächelte gezwungen, wandte seinen Blick ab, starrte auf die Tischplatte, hob seinen Blick wieder. Man beschäftigte sich wieder mit dem Gegenüber. Unerklärlich diese Blicke, konnte das wirklich passiert sein?
Er versuchte festzustellen, ob das was er gerade erlebt zu haben schien, auch wirklich geschehen war, geschehen sein konnte. Geistesabwesend blickte er an die Decke, die Hände im Nacken verschlungen.
Es machte keinen Sinn. Er hatte doch bis jetzt in keiner Weise, schon gar nicht auf irgendeine ungewöhnliche Art, die diese Blicke rechtfertigen würden, auf sich aufmerksam gemacht, ließ nur seinen Gedanken freien Lauf. Oder waren sie ihm etwa ausgekommen und er hatte sie laut, für alle hörbar, formuliert? Unsinn.
Lazo blickte etwas aufgeschreckt wieder in die Menge, spitzte die Ohren. Hatte er gerade seinen Namen gehört? Sprach man über ihn? Seine Verwirrung wurde zu Furcht. Beklommen und nervös durch all diese Irritation beschloss er sofort zu verschwinden, stürzte auf die nächste Kellnerin zu, drückte ihr 10 Euro in die Hand und eilte aus dem Lokal.

Draußen und ein wenig benommen, torkelte er ein paar Meter umher.
Ein tiefer Atemzug, die Augen geschlossen. Ein beruhigendes und befreiendes Gefühl. Die Sonne stach in wieder offene Augen. Es war ein warmer Tag. Blauer Himmel, ein paar Quellwolken.
Draußen hieß nun, auf einer belebten Einkaufsstraße zu stehen. Lazo überlegte welche Richtung die richtige sei und trat intuitiv nach links. Unsicher über seine erlebten Empfindungen, bewegte er sich am äußersten Rand der Straße – seines Verstandes - , wollte nicht in die dumpfe Masse, die kopflos von Auslage zu Auslage marschierte, eingesogen werden.
Schritte. Vorwärts.
Er versuchte sich klar zu werden, woher seine plötzliche Panik kam. Die Gedanken kreisten um die kalte Ignoranz, die Einsamkeit, das fürchterliche Desinteresse an ihm, das er glaubte in dem Kaffeehaus verspürt zu haben. War es das was ihn so beunruhigte, oder war es umgekehrt, und es war die scheinbar bedrohliche Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, nach der er nie gefragt hatte und die ihm jetzt nur noch als reine Sinnestäuschung erschien. War er überhaupt dort gewesen, oder war nur er dort gewesen, und sonst niemand. Eine tiefe Beklemmung sonderbarer Art. Das Alleinsein machte ihn unvernünftig. Blick auf die Uhr. Erst ein paar Minuten vergangen. Seine Erinnerung schon lückenhaft.
Verflixt, nicht darüber nachdenken. Einfach weitergehen, die Wärme genießen.
Bewusst darüber, dass er durch sein kalkuliertes, tiefes in sich gehen nach außen hin fast apathisch wirken musste, versuchte er Kontakt zu den Leuten herzustellen, die sich mit ihm die Straße teilten.
Ein Augenaufschlag, ein sympathisches Lächeln. Nur Ablehnung, man ignorierte ihn. Beobachtete ihn offensichtlich nur, wenn er nicht hinsah. Er blieb stehen, drehte sich im Kreis, versuchte einen der Blicke einzufangen und scheiterte. Warum schon wieder diese Ablehnung, wieso wollte man ihn nicht dazu gehören lassen? Unbeholfen ging er weiter gerade aus.
Er dachte wieder über die Zeilen nach, die er ihm Bräunerhof verfasst hatte. Schon lange, eigentlich seit seiner späten Jugend, beschäftigten ihn seine gewonnenen und wieder verlorenen Bindungen zu den Menschen in seinem Leben und um dieses herum. Bei manchen seiner Bekanntschaften war schon nach 2 Minuten alles gesagt und man verlor das weitere Interesse. Bei anderen dauerte es Jahre, bis sie ihren Reiz verloren und man sein Leben genau so unbehelligt weiter leben wollte wie zuvor. Oft gab es Personen, meist männliche, bei denen er davon ausging, sie könnten zu so etwas wie seinen Lebensmenschen werden, doch er hatte sich immer geirrt. Nie hielt er es länger als 4-5 Jahre in einem gewissen Kreis von Freunden aus, nie schienen sie ihn länger als für eine kurze Periode seines Daseins zu interessieren. Waren es Freunde aus der Schulzeit, Menschen am Anfang der Adoleszenz, die ersten Fortgehfreunde oder Kollegen während seiner Studienzeit, die er nie als Freunde bezeichnet hätte, immer fand es nach relativ kurzer Zeit ein Ende. Dies ging auch jedes Mal von ihm aus. Er war es immer, der sich scheinbar aus den Beziehungen zurück zog. Zumindest empfanden es die anderen so.

Zur Zeit waren es nur lose Kontakte denen er unregelmäßig pflegte nachzugehen. Irgendwie interessierte er sich nicht mehr für die Welt.
Seine Gedanken streiften umher. Minuten verstrichen, dann plötzlich eine Erkenntnis:

„Es ist mir heute aufgefallen, dass ich keine Freunde mehr habe. Zuerst dachte ich, dass sollte mich beunruhigen, aber ich bemerkte schnell, wie erleichtert ich eigentlich war. Keine Verpflichtungen mehr zu haben, befreit einen. Ich habe erkannt, dass ich anscheinend nie Freunde haben wollte. Meine Freundschaften ergaben sich wohl eher aus einem gesellschaftlichem Zwang heraus, als aus einem tief sitzenden, inneren Verlangen. Früher sah ich sie vielleicht als Zeitvertreib oder Mittel gegen die Einsamkeit. Heute erkenne ich, wie zufrieden ich mit mir selber bin. Alleine, auf mich gestellt. Ohne Bindungen, die einen zurückhalten. Natürlich erhalte ich weiter meine sozialen Kontakte. Aus einem großen Bekanntenkreis zu schöpfen ist nicht ganz ohne Wert, falls man sich selber einmal wieder langweilig wird oder in eine Situation kommt, aus der man sich nicht selber helfen kann. Doch mit der Suche, nach dem anderen Ich, scheint es vorbei. Ich bin Ich und brauche niemanden sonst.“

Kurz war er stehen geblieben. Nun bewegte er sich weiter vorwärts, war noch immer auf der selben endlosen Einkaufsstraße unterwegs, die einem immer wieder neue Verlockungen aufzuzwingen versucht. Leuchtreklamen, Prozente, Jetzt kaufen, später zahlen!, einen neuen MP3-Player, bitte sehr, ein paar neue Schuhe, danke sehr, ein neues Leben, eine andere Identität. Nicht mehr Ich sein. Kein Problem.
Abgestoßen war er von diesen aggressiven Aufforderungen zur Selbstaufgabe. Als wären die Menschen nicht schon genug von ihren eigenen Leben irritiert, versuchte sie die Werbemaschinerie noch mehr in ein Gefühlschaos zwischen Konsumrausch und Verwertungsabgrund, in eine Art bulimischen Zustand, zu stürzen. Eine ewige Spirale, die niemanden loslässt, nicht diejenigen, die sie ausnützt und auch nicht diejenigen, die sie glauben zu beherrschen. Niemand beherrscht sie. Sie beherrscht den Menschen, nicht umgekehrt. Das gesamte Wirtschaftsgeflecht als Todesmaschinerie und das Ersatzteil, dass in der größten Quantität vorhanden ist, ist der Mensch. Das menschliche Handeln als Antimaterie zur Fleischlichkeit des eigenen Körpers.
So leid ihm die Menschen taten, so sehr war er auch von ihnen angewidert. Warum konnten sie sich nicht einfach dies allem widersetzen und endlich danach fragen, das fordern, nachdem es sie in ihrem Leben wirklich drängt. Es will doch nicht wirklich jeder aus seinem tiefsten Innern heraus, jedes Monat ein paar neue Schuhe, jedes dritte Jahr ein neues Auto oder auf ewig jugendliches Aussehen, wenn es einem nicht immer diktiert werden würde. Die Schwäche der Menschen, nicht für sich leben zu können ohne dabei auf andere zu vergessen, hält sie doch nur davon ab endlich wirklich Mensch zu sein. Er konnte dies schon lange nicht mehr verstehen. In seinen Zwanzigern entschied er sich dazu, zwar noch weiter mit den Anderen in dieser Gesellschaft zu leben, sich aber weitestgehend nicht mehr daran zu beteiligen. Für ihn war es das einzig Vernünftige, die einzige Chance, zu überleben.
Er begann wieder zu grübeln. Minuten verstrichen, dann eine neue Erkenntnis:

„Anscheinend geht mein Empfinden noch tiefer. Vielleicht habe Ich es mit meiner Unabhängigkeit übertrieben. Ich fühle mich wie abgesondert von der Welt. Als würde ich in einem Meer der Einsamkeit schwimmen, umhüllt von einer Luftblase und würde euch bei euren täglichen Geschäften zusehen, obwohl ihr mich eigentlich gar nicht interessiert. Genau so wenig interessiert ihr euch für mich. Wir leben in zwei Welten. Ich ganz allein in meiner, ohne einsam zu sein. Ihr gemeinsam in eurer, mit vielen einsamen Gesichtern. Mein Blick auf eure Welt ist verzerrt und nicht immer bekomme ich alles mit. Ihr scheint nur zu vegetieren, Ich lebe dahin. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt. Mag sein, dass niemand richtig lebt. Meine Empfindungen was eure Welt betrifft sind abgestumpft. Kälte und Wärme haben an Kraft verloren. Ich fühle mich nur selten zu euch zurückversetzt. Heute hat mich zum Beispiel jemand am Arm gestreift, da spürte ich euch wieder. Ein anderes Mal standen zwei Personen neben mir und unterhielten sich lautstark, da bemerkte ich wieder, dass ihr da seid. Es wirkt zu Irreal, als das es wahr sein könnte, nur das es sich jeden Tag so anfühlt. Als würde ich als einziger ohne Zwang leben können. Man macht sich plötzlich keine Sorgen mehr um das Aussehen (nur noch aus ganz persönlicher Eitelkeit) oder über das eigene Handeln. Ich muss nicht mehr für euch jemand sein, nur noch der, der Ich sein will. Alles was ich sage, prallt von der Hülle die mich umgibt wieder ab, sodass ich mich besser verstehe, als euch. Ich bin nur Tourist. Wenigstens muss ich jetzt nicht mehr nach euren Erwartungen leben.“

Jetzt ging er schneller. Musste weg. Wollte sich hier nicht selber verlieren.
Kreuzte viele kleine Gassen, traute sich aber nicht hinein. Wollte nicht alleine sein. Er brauchte die Menschen, um sich selber noch als solcher zu erkennen. Selbst wenn die, die mit ihm waren, ihm wie lebende Tote vorkamen. Gleichzeitig wieder Panik.
Immer größere und schnellere Schritte. Plötzlich das Ende in Sicht. Die Straße verjüngte sich, das Tempo ging zurück. Keine überdimensionalen Werbeplakate und Leuchtreklamen mehr. Ein paar wenige Menschen, keine Hektik mehr. In etwa 50 Metern Entfernung ein Park, aus dem Kindergelächter kam. „Da muss ich hin“.

Er setzte sich auf eine Bank aus Holz und beobachtete die spielenden und herum tollenden Kinder. Sie kletterten und liefen und rutschen herum. Spielten Fangen, kicherten und waren frei. Ein wunderbarer Anblick. Die Erleichterung in ihm war unbeschreiblich. Ein Gefühl von federhafter Leichtigkeit. Sich wieder als Kind fühlen, die Endlosigkeit des Moments genießen. Das kam seiner selbst am nächsten. Die Gedanken wurden wieder klarer, der Atem, zuerst noch heftig keuchend, verlangsamte sich, stand fast still. Ein Trance-ähnlicher Zustand betäubte seinen Verstand. Er begann zu träumen:

„Der Mann der nicht mehr wissen wollte, welchen Namen er einst trug, ging mit schnellem Schritt die Straße hinab. Unbekleidet war er gerade aus dem brennenden Haus gekommen, das einst als sein Eigen bezeichnet wurde und das er selbst in Brand gesetzt hatte. Nichts nahm er mit sich, alles was einmal seinem alten Ich gehört hatte, übergab er dem Feuer. Kein Stück Stoff, kein Foto aus früheren Zeiten, nicht seinen Fernseher oder seine Bücher, nichts nahm er mit sich. Die Erinnerung an sich ausgelöscht, in ein Nichts verwandelt. Niemand, nicht einmal er selbst, konnte nun mehr behaupten er sei der, der er früher war. Er war nun eben Er, der der er immer sein wollte und das machte ihn glücklich. Es störte ihn nicht, dass nur noch er sich erkennen würde, er brauchte jetzt auch niemanden mehr als sich selbst. In sich geschlossen, nahe der Perfektion, so empfand er sich nun.
Vorwärts, vorwärts, immer vorwärts schreitet er im Leben. Kein festhalten mehr an Altem und an Neuem. Ist es verbraucht, ist es zu Ende. Man wirft es weg, streift es ab, ohne Sorge. Was verliert man schon, wenn man sich nicht mehr durch Banalitäten zurückhalten lässt. Man kann nur gewinnen. Ehre, Stolz, Ruhm, eine erfolgreiche Karriere, das Schulterklopfen anderer, das hat doch nichts mit Ihm zu tun. Sein Leben hat nichts mit eurem zu tun, wie zwei parallele Kosmen.
Die Straße hinunter, auf des Lebens Flügeln. Unbedrängt und ungehindert. Mit breitem Flügelschlag durch die weite Welt. Gebunden nur noch an sich selbst und das eigene Glück.
Er braucht niemanden über sich. Er ist sich selbst so viel wert. Du brauchst niemanden über dir, die einzige Autorität, die du zu akzeptieren hast, bist du selbst. Du bist es selbst wert über dich zu bestimmen. Du musst an dir selbst festhalten.“

Minuten mussten vergangen sein, vielleicht Tage. Das linke Lid begann leicht zu zucken, dann das rechte. Die Augen blinzelten, die Finger klopften am Holz. Seelische Unruhe.
Man beobachtete ihn wieder. Die Eltern waren gekommen, zeigten mit den Fingern auf ihn, redeten vor vorgehaltener Hand. Warum wollte man ihm nicht mehr Zeit mit seinen Brüdern und Schwestern lassen? Er spürte die deutlichen Blicke, das aggressive Deuten. Bohrende Nadelstiche auf seiner Haut.
Sein Verstand sagte „Weg, schnell“, sein Herz war schwer wie Blei. Der Verstand behielt die Oberhand.
Er stand auf, wandte sich von den Blicken ab und verließ den Park.

Straße, taumeln. Nichts.

Einige Zeit später. Er versuchte zu erkennen, wo er war. Anscheinend war er richtig gegangen, er war daheim.
Ein paar Gassen weiter war das Haus in dem er lebte, das Apartment, in dem sein Leben still stand.
Griff in die Hose, raus aus der Enge, den richtigen Schlüssel in dem Gewirr finden. Er sperrte auf, trat ein und schaute die sich windende Schneckenhaus-förmige Treppe hinauf. Licht am Ende durch Glas. Endlosigkeit.
Einen Stock nach dem Anderen quälte er sich, wusste gerade nichts besseres zu tun. Von draußen wurde er verjagt, man wollte ihn nicht.
Vor der Tür, wieder Schlüssel suchen, rattern im Schlüsselloch. Er trat ein, ein kühler Luftstoß aus dem Wohnzimmer, jemand hatte das Fenster offen gelassen. Er war allein, wollte aber nicht alleine sein. Durchsuchte die Zimmer, niemand. Ging in das Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch lagen Briefe.
Der Erste „An Hr. Lazo I.“, der Zweite „Zu Handen: Hr. Dr. Lazo I.“. Der Dritte „An Fam. Iljitsch“. Schock.
Familie? Welche Familie? War er nicht alleine, verlassen, ohne der Möglichkeit, sich an einer verwandten Seele anzuschmiegen?
Heftiges, schnelles, angestrengtes Atmen. Der Hemdkragen wurde eng, die Luft dünn. Das Fenster noch immer offen. Licht.
Vor dem Fenster, zog die Schuhe und Socken aus. Nahm die Vorhangschnur, band sie sich um den Hals, verknüpfte sie. Saß auf dem Fensterbrett, lachte den blauen Himmel an, ließ die nackten Füße baumeln; glatter, harter Beton in einiger Entfernung. Loslassen.

Stopp. Ich will nicht wie alle anderen sein. Leben.

Er ging wieder zurück in die Stadt.
 
A

aksapo

Gast
Grandios geschrieben, die Spannung bis zuletzt gehalten, ein nach Innen-Schauen und Reflektieren.
Möchte noch viele solche Geschichten lesen
Danke,
Lg Aksapo
 
Hallo onhcam,

ein herzlichen Willkommen in der Leselupe.

Deine Geschichte hat mich von Anfang bis Ende in den Bann gezogen.
Er brauchte die Menschen, um sich selber noch als solcher zu erkennen.
Die gewählte Einsamkeit des Protagonisten, wiederum das Verlangen nach Nähe, Berührung. Sehr eindrucksvoll hast du die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich beschrieben.

Lieben Gruß,
Estrella
 



 
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