Ein Junitag anno 98

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gareth

Mitglied
Ernst wühlte einst in selbst gemachtem Schrott
der liebe Gott. Der Gott der Liebe.
Gott

Er wühlte ohne Ziel, er dachte nicht,
er wusste, wie es ihm seit je entspricht

Doch fühlen tat er wohl, dass etwas fehle.
In jener Menge Schrott aus Stahl und Blut
erspürte er statistisch einen Mangel

Da war der Strang zu mächtig von der Strasse
und von der Schiene jener schien zu fehlen.
Dem half er ab, Gerechtigkeit zu üben
von Ewigkeit zu Ewigkeiten. Amen

'Der erste Schritt, ihr Engel, ist das Sparen
an Sicherheit mit starken Argumenten.
Das sei gesegnet heut´ in meinem Knechte,
der vom Papier gewechselt auf die Schiene,
desweiteren..'

'Herr, es ist Zeit.
Der Ring des Rads gelockert,
die Kinder, Mütter, Väter ohne Arg'

'Ich will sie schonen noch auf freier Strecke,
doch bald, gar bald, für die ich mich entscheide,
lasst sie versammelt sein in meinen Reichen'

'Nun, Herr?'

'Wer fragt? Wo noch die Strecke frei,
nach meinem Plan und Willen?
Nein, dort gescheh´s! An jener, meiner Brücke.
Dort sei das letzte Wort gesagt in dieser Sache
Dort, Hier, das letzte Wort gesprochen:

Jetzt!'


Ernst wühlt, im Kreis der ewig stillen Seelen,
von Ewigkeit zu Ewigkeit
ein Gott

Es wühlt und wühlt und wühlt im selbst gemachten Schrott,
der liebe Gott.
Der Gott der Liebe.

Gott



"Oder geschieht ein Unglück in der Stadt, und der HERR hätte es nicht bewirkt?" (Amos 3:6)
 
L

Lotte Werther

Gast
„Es ist jetzt 12.06 Uhr." So endeten die Nachrichten am 3. Juni 1998. Kurz zuvor war die Meldung vom schrecklichen Zugunglück in Eschede über den Äther gegangen. Was war geschehen? Um 10.59 Uhr entgleisten am Westrand der Ortschaft Eschede alle Waggons eines ICE, der von München nach Hamburg mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h unterwegs war...

Oh gareth, was stürzt du mich mit deinen Worten in Abgründe, Erinnerungen, die nur mittelbar.
Saß ich doch nicht in jenem Zuge, und bin nicht Gottes Lieblingskind. Noch läßt er mich hier unbeachtet kommentieren.

Wo ich viel lieber schweigen wollte, getroffen tief von deinem Text.

Er ist ein Meisterstück, und kein Gedicht. Szenario einer Ohnmacht, damals auch und jetzt.

Zusammenreissen will ich mich, um deinem Zorn gerecht zu werden. Zu würdigen die Mittel, die du angewandt, um nicht nur anzurühren, nein, auch mit dir zürnen läßt du jeden Leser.

Zürnen, zweifeln, zynisch gar?
Beschwörungsformeln lese ich Am Anfang und am Ende.

Ernst wühlte einst in selbst gemachtem Schrott
der liebe Gott. Der Gott der Liebe.
Gott


Am Ende noch verstärkt durch Wiederholung:

Es wühlt und wühlt und wühlt im selbst gemachten Schrott,

Und so sehe ich ihn, hart, mit kalter Geste

er dachte nicht,
er wusste, wie es ihm seit je entspricht


das Schicksal vieler Sünder in der Hand,
das Zeichen geben an die Knechte...

Jetzt!

Und schon ist es vollbracht.
Was kümmert ihn, was die da unten nun an Jammern und an Tränen lassen...

Er wendet sich kalt wieder ab. Gott.

Ich wollte stumm sein, gareth, und hab nun doch viel geschrieben.

Aber mit diesem Text hast du mich nicht nur tief getroffen,
sondern schreibend dich selbst übertroffen.

Lotte Werther
 

gareth

Mitglied
Liebe Lotte Werther,

ich danke Dir für die ausführliche Beschäftigung mit diesem Text. Er ist das Ergebnis einer langen Zeit der Auseinandersetzung mit der Frage nach Gott, und auch einer langen Zeit der Textgestaltung. Es geht dabei "nur" um die Frage nach einem personifizierten, allmächtigen *) Gott. Ich habe mich hier einfach in die Reihe derer gestellt, die den Beweis zu erbringen suchen, dass ein solcher Gott undenkbar und vor allem unwünschbar ist. Es bleiben einem derartigen Gott aus meiner Sicht nämlich nur drei Handlungsmöglichkeiten: entweder aktiv zu steuern, passiv zu dulden, oder nicht wahrzunehmen. Die beiden letzteren scheiden definitionsgemäß aus und die verbleibende erste ist dargestellt. Ich habe diese "Beweisführung" an Hand des 03.06.98 geführt; es gäbe tausende anderer Möglichkeiten.

Ein schwieriges, leidvolles Thema, zugegeben und ich danke Dir, dass Du Dich darauf eingelassen hast.

*) Die Frage nach der Allmacht ist in uralten jüdischen Anekdoten bereits schlüssig beantwortet worden. Ein allmächtiger Gott muss nämlich in der Lage sein, einen Stein zu schaffen, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht mehr aufheben kann :eek:)

Liebe Grüße
gareth
 
K

Kasoma

Gast
Hi, Gareth,

ja, das ging doch schon mal besser, viel, viel besser! Danke, Lotte für den Link, hätte dieses tolle Werk wohl sonst nicht gefunden!

Lieber Gruß von Kasoma
 



 
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