Ein Loch im Apfel

Ein Loch im Apfel​
An einem herrlichen sonnigen Julinachmittag sitzen der achtjährige Jonas und sein Opa Willi, auf dessen Veranda, hinterm Haus. Den ganzen Vormittag haben die beiden tüchtig gearbeitet und alles Fallobst in Opas großem Obstgarten aufgesammelt und sortiert. Zuletzt waren die Klaräpfel an der Reihe. Die erste Apfelernte in diesem Jahr. Alle guten Äpfel kamen in einen grünen Eimer. Die Äpfel mit den dunklen Stellen und die nicht mehr so schönen in einen roten Eimer. Und die matschigen, fauligen Äpfel in einen schwarzen Eimer.

Die Vögel zwitschern fröhlich. Der Himmel ist fast wolkenlos blau. Die beiden genießen die Erholung im kühlenden Schatten. Während Opa Willi etwas liest, beißt Jonas herzhaft in einen saftigen grünlichweißen Apfel. „Hmm schmeckt das gut!“, murmelt er mit vollem Mund, während ihm der Apfelsaft übers Kinn läuft. Opa Willi blinzelt über seine Lesebrille und schmunzelt zufrieden beim Anblick seines kleinen Enkels. Seit Emmelie, seine geliebte Frau, letztes Jahr zum Herrn gegangen ist, freut er sich über jeden Augenblick den er mit seinem Enkel verbringen kann. Das Haus ist ohne sie so still und leer geworden. In seinen großen faltigen Händen ruht die Bibel, in der er seit ein paar Tagen wieder zu lesen angefangen hat. Er macht Gott keine Vorwürfe mehr. Emmelis Zeit war gekommen und er wird ihr eines Tages folgen. Doch jetzt genießt er das Leben mit seinem Enkel und seinen erwachsenen Kindern, hier auf der Erde.

„Du, Opa?“, Jonas Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. „Wie kommen denn die Löcher in die vielen Äpfel, die wir heute aufgehoben haben?“, will sein Enkel wissen. Jonas dreht den angebissenen Apfel in seinen Händen und nimmt ihn kritisch in Augenschein. „Guck mal, in meinem Apfel ist auch eins drin.“ Jonas hält seinem Opa den Apfel hin. Opa Willi legt die Bibel zur Seite, nimmt den Apfel, klappt sein Taschenmesser auf und schneidet, ganz vorsichtig, den Apfel in zwei Hälften. Genau dort, wo sich das Loch befindet. Jonas bekommt große Augen. Vor Staunen bleibt ihm der Mund offen stehen. Als Opa Willi die beiden Apfelhälften auseinander klappt, kommt eine kleine Höhle im Apfel zum Vorschein. Vom Loch bis zum Apfelkern ist ein Tunnel gefressen und in der Mitte krabbelt eine Raupe herum.

Endlich hat Jonas seine Sprache wiedergefunden und flüstert: „Opa, wird aus der Raupe auch so ein schöner Schmetterling, wie das Tagpfauenauge?“ Erst gestern hat ihm Opa Willi gezeigt wie die Raupen aussehen, aus denen später bunte und wunderschöne Schmetterlinge werden. Doch diese Raupe hier sieht ganz anders aus. „Warum flüsterst du denn so, mein Junge?“, fragt Opa Willi, mit leicht gedämpfter Stimme. „Na damit die Raupe nicht erschrickt, wenn sie uns hört. In dem Apfel war es bestimmt ziemlich ruhig, bis du ihn aufgeschnitten hast. Das Licht stört sie bestimmt schon genug.“, antwortet Jonas leise. Opa Willi lächelt, immer wieder fasziniert von den Gedankengängen seines Enkels. „Weißt du was Jonas, wir schauen einfach mal in meinem Buch über Schmetterlinge und Insekten nach, einverstanden?“ Jonas nickt eifrig.

Damit die Raupe nicht wegkrabbeln kann, nimmt Jonas sein leeres Trinkglas vom Gartentisch und lässt die Raupe reinplumpsen. Jetzt kann er sie in Ruhe durch das Glas beobachten. Er bemerkt einen rötlichen Schimmer auf dem gelblichen, prallen Raupenkörper und einen dunklen Fleck hinter dem schwarzen Raupenkopf. Inzwischen ist Opa Willi mit einem dicken Buch aus der Wohnstube zurück und beginnt darin zu blättern. „Hier, schau Jonas, ich habe sie gefunden und auch ein Bild von dem Kleinschmetterling, der aus der Raupe wird. Genau genommen ist es ein ziemlich unscheinbar aussehender Nachtfalter. Das ist ein Apfelwickler.“ sagt Opa Willi. Jonas schaut erst die Bilder dann die Raupe im Glas und schließlich seinen Opa mit fragendem Blick an. „Was überlegst du, mein Junge?“, fragt ihn sein Opa. Jonas Stirn bildet kleine Falten. Er schaut noch einmal das Foto mit dem grau-braunen Falter an und schließlich fragt er zögerlich: „Warum hat sich Gott bei dem Schmetterling so wenig Mühe gegeben?“, und fügt hinzu: „Warum hat er den so hässlich gemacht?“

Opa Willi holt tief Luft. Mit so einer ernsten und direkten Frage hat er nicht gerechnet. Er streckt seine Arme zu seinem Enkel aus und fordert ihn auf: „Komm her mein Junge, setzt dich auf meinen Schoß. Ich versuche dir alles zu erklären.“ Jonas hält das Glas mit seinem rechten Arm fest und setzt sich auf Opa Willis rechtes Bein, so dass er ihm gut in die Augen sehen kann. Er schaut ihn aufmerksam an und wartet ab was sein Opa ihm jetzt wichtiges sagen möchte.

Dieser beginnt nun etwas schwerfällig zu sprechen: „Jonas, auch als deine Oma gestorben ist, habe ich das nicht gleich verstanden. Gott tut manchmal Dinge, die wir mit unserem menschlichen Verstand nicht begreifen können. Aber weißt du was. Dafür hat er uns die Bibel gegeben. Darin stehen viele Dinge, die uns helfen Gott besser zu verstehen und kennen zu lernen.“ Während er spricht, greift Opa Willi nach seiner Lieblingsbibel, die mit dem braunen abgenutzten Lederumschlag. „Ich habe da erst gestern etwas im ersten Buch der Bibel gelesen, dass könnte uns beiden jetzt eine Antwort geben. Lass mich mal sehen.“ Mit der rechten Hand Jonas festhaltend, mit der linken Hand in der Bibel blätternd, geht es nicht so schnell wie gewünscht. Jonas bemerkt das und hält mit seiner freien linken Hand Opas Bibel fest, so dass dieser leichter darin blättern kann. Ein bewegender Augenblick.

„Hier, im 1. Buch Mose, warte mal, ich hab´s gleich gefunden – da, Kapitel 1, Vers 25. Gott schuf alle Arten von Vieh, wilden Tieren und Kriechtieren. Auch daran freute er sich, denn es war gut.“, mit diesen Worten klappt Opa Willi die Bibel wieder zu. „Jonas, Gott hat sich bei allem was er geschaffen hat viel Mühe gegeben und sich dabei etwas gedacht. Zum Beispiel muss dieser Nachtfalter besonders unscheinbar aussehen, damit er sich tagsüber vor seinen Fressfeinden gut verstecken kann. Und du musst doch selbst zugeben, mit diesen Farben ist die Tarnung einfach perfekt, oder?“ fragt Opa Willi mit einem Augenzwinkern. Jonas nickt zustimmend. Mit strahlenden Augen stellt er fest: „Ich verstehe. Nachts wenn wir schlafen, da können wir diesen Apfelwickelfalter sowieso nicht bewundern, also muss er auch nicht so bunt sein. Aber wenn wir wach sind fliegt das Tagpfauenauge durch deinen Garten. Und den Schmetterling hat Gott wirklich wunderschön bunt gemacht – einfach um uns eine Freude zu machen, stimmt´s Opa?“, strahlt Jonas.

Opa Willi nimmt umständlich seinen Lesebrille ab und sagt: „Jonas, vermutlich hast du recht.“ Mit diesen Worten nimmt er seinen Enkel in den Arm und drückt ihn sanft an sich. So kann Jonas nicht sehen, dass ihm Tränen in den Augen stehen. Er ist einfach nur überglücklich in diesem Moment. Ergriffen schließt er die Augen. Während ihm die Tränen über seine faltigen Wangen kullern, streichelt er liebevoll über Jonas Kopf und flüstert ganz leise: „Danke!“
 



 
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