Ein Massaker nördlich von der Gürtellinie

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Ein Massaker nördlich von der Gürtellinie


Blut im Mund ist ein Geschmack, den man nur schwer vergisst.

*

Tom war zehn und ich sechs Jahre alt, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Viele Leute sagen ja, dass der erste Eindruck entscheidend ist, und wenn das stimmen sollte, muss ich mich sehr ungeschickt angestellt haben, damals, als wir uns zum ersten Mal gegenüber standen. Es war der Tag meiner Einschulung und der Auftakt von Toms vermutlich letztem Jahr an der Grundschule in der Annastraße. Meine Mutter hielt meine Hand, und wer mich kannte, wusste ganz genau, dass sie Angst hatte, ich würde mich verlaufen oder in Gedanken vor ein Auto rennen. Die Menschen bezeichneten mich als Träumer, als ausgewiesenen Fantasten, als einen Menschen, der nur sehr schwer zwischen Realität und Fiktion unterscheiden konnte. In meiner Freizeit las ich die Bücher von Astrid Lindgren und Tim Wolff; gerade „ Die Brüder Löwenherz“ von Frau Lindgren hatte es mir angetan; aber letztlich las ich jedes Kinderbuch, dass mir in die Hände fiel, falls meine Mutter es mir nicht wegen nicht-kindgerechten Inhalten verboten hatte. Zwar sorgte sie sich, weil ich kaum mit anderen Kindern spielte, andererseits erfreute es sie aber, wie interessiert ich mich in meine Bücherwelt stürzte, während meine Altersgenossen Räuber und Gendarm spielten. Gerne verdrängte sie ein Ereignis aus meinem letzten Kindergartenjahr: Ich hatte ihr unter Tränen von einem Streit mit einem Jungen aus der Nachbarschaft erzählt, in dessen Verlauf ich ihm einen schweren Stein an den Kopf geschmissen hatte. Meine Mutter bestrafte mich mit einer Woche Stubenarrest, obwohl sie ansonsten eher ein gnädiges Lasser – faire praktizierte. Ich verbrachte die nächsten Tage in meinem Zimmer, weinend und lesend. Nach zwei Tagen traf meine Mutter die des Jungen, die auf die entschuldigenden Worte meiner Mutter nur irritiert den Kopf schüttelte. Meinem Nachbarn ging es gut: es hatte alles nur in meinem Kopf stattgefunden.

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Es passierte an meinem dritten Schultag. Frau Rack, eine schlanke Frau mit langem, leicht ergrauten Haar und einer Hornbrille auf der Nase demonstrierte uns die Verwendung von Zahlen zwischen eins und zehn. Während die anderen Kinder schwiegen und den Worten unserer Lehrerein lauschten, rutschte ich ungeduldig auf meinem Holzstuhl von einer Seite zur anderen; als Frau Rack schließlich eine Frage an die Klasse stellte, sprang ich mit erhobenem Zeigefinger auf und gab die richtige Antwort. Ich setzte mich wieder und konzentrierte mich auf Frau Racks Worte, als mein Tischnachbar mir einen Zettel zuschob. Er war in der Mitte halbiert, also klappte ich ihn auf und las; die Buchstaben auf dem Papierfetzen saugten wie ein Schwamm die Farbe aus meinem Gesicht. Als ich mich in der Klasse umblickte, prallte mein Blick auf den von Toms kleinem Bruder Jim. Er sah mich ohne jeden Ausdruck an, doch seine Lippen formten das Wort Streber, Silbe für Silbe.
„Sam, hier vorne spielt die Musik!“ Frau Rack forderte meine Aufmerksamkeit, indem sie mit dem gut einen Meter langen Zeigestock gegen die Tafel klopfte.
Sie erklärte uns die Grundzüge der Addition, doch ihre Worte verklangen unverstanden in meinem Gehörgang, während meine Augen immer wieder über den Papierfetzen glitten, auf dem in großen Druckbuchstaben TOT! geschrieben stand.

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Es war zwölf Uhr, als die Schulglocke das Ende des Schultages einläutete; mit lautem Jubelgeschrei stürmten die Kinder meiner Klasse an mir vorbei und drängten sich durch den Ausgang; ich zögerte, wartete, bis das Geschrei der Kinder verklungen war – erst dann ging ich los. Frau Rack war mein Verhalten nicht entgangen.
„Alles in Ordnung, Sam?“ fragte sie mich und lächelte versonnen.
Ich nickte stumm und verließ den Raum.
Das Klassenzimmer lag im 1. Stock; ein bebilderter Gang führte zu den anderen Klassenräumen im Osttrakt der Schule; über eine massive Treppe gelangten die Schüler unserer Klasse morgens hoch zu unserem Klassenraum und am Ende des Schultages hinaus in die Freiheit. Direkt vor der Schule – einem vor rund zweihundert Jahren aus roten Backsteinen gebauten Gebäude – erstreckte sich ein Pausenhof von der Größe des Parkplatzes eines Kaufhauses; links neben dem Eingang unterteilte eine kleine Unterführung den Hof in zwei Teile; in der Unterführung selber führte eine kleine Tür aus Holz auf die kindgerechten Toiletten. Im westlichen Teil des Hofes stand ein Klettergerüst und auf den Fußboden hatte man mit weißer Farbe Kästchen für Hüpfspiele gemalt; im östlichen Teil hingegen fand sich ein kleiner Sandkasten für die Erstklässler.
Ich ging die Treppe hinunter, an großen, antiken Säulen vorbei auf den Ausgang zu und sah mich dabei aufmerksam um; es war still im Gebäude; rechts und links erstreckten sich die Flure, die zu den Klassenräumen im Erdgeschoss führten. Niemand war da, anders als ich es nach dem Ereignis im Unterricht vermutet hatte, und so atmete ich auf und ging durch die bogenförmige Schultüre.
Mit einem Ruck stolperte ich rückwärts, als mich jemand mit großer Kraft nach hinten zog.
„Du willst doch wohl nicht etwa schon nach Hause zu deiner Mami?“ Tom stand rechts neben dem Eingang; mit einer Hand hielt er mich am Griff meiner Schultasche fest und grinste boshaft, wobei er eine Reihe schiefer Zähne entblößte. Links vom Eingang stand sein Bruder und starrte mich an. Tom wirbelte mich herum und drückte mich mit seinen Händen an meinem Kragen gegen die Wand. Ich roch seinen fauligen Atem, als er sein Gesicht direkt vor meines schob.
„Wir wollen nämlich jetzt mit dir spielen.“

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Sand vermischte sich in meinem Mund mit Speichel und Blut. Sterbe ich? Ich will nicht sterben! Mami, hilf mir!
Tom saß mit einem debilen Fletschen seiner kariösen Zähne auf meiner Brust, drückte mich in den feuchten Sandkasten und rührte mit einem Ast wie mit einem Kochlöffel in meinem Mund, während Jim den Sand in mein Gesicht schaufelte; er körnte in meine Augen, verstopfte meine Atemwege, raubte mir die Luft; ich sah die Welt von unten, einen staubigen Schleier vor jedem Bild, dass sich mir heute noch in stillen Momenten auf meiner inneren Leinwand zeigt.
„Ein Wort zu deiner Mutter, und du bist tot!“ zischte Tom.
Tot? Mami, ich will nicht sterben! Stirbt es sich so? Mami!In meinen Augen festigten meine Tränen den Sand hart wie Zement. Als sie nach einer Ewigkeit, wie es mir schien, von mir abließen, hatte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben aufgegeben

*

Im grellen Sonnenlicht glitten die staubigen Felder am Seitenfenster meines Mittelklassewagens vorbei; mein Blick war auf die Straße gerichtet; beinahe täglich las ich in der Zeitung Meldungen wie: Jugendliche auf dem Weg von Disco tödlich verunglückt –; nicht ohne Grund war ich seit geraumer Zeit unfallfrei, und so sollte es auch bleiben.
Ich langte mit meiner rechten Hand auf den Beifahrersitz und suchte zwischen Schnapsflaschen und Paketen von McDonalds nach Zigaretten; schließlich bekam ich eine Schachtel Gauloises zu packen; ich entzündete eine Zigarette, inhalierte tief und warf einen Blick in den Spiegel des Sonnenschutzes oberhalb des Lenkrades: auf meinem Kopf glänzte in einem halbrunden Ausschnitt die Haut, umringt von einem Kranz aus fettigen, verfilzten Haaren; verfärbte Zähne bildeten ein asymmetrisches Muster in entzündetem Zahnfleisch; mein Vollbart hatte inzwischen einen gelblichen Stich angenommen und unter meinen Augen bildeten dunkle Ringe und Krähenfüsse ein hässliches Bild; rasch wandte ich meinen Blick von meinem Spiegelbild ab und konzentrierte mich wieder auf die Strasse.
Soweit ich wusste, hatte Tom seit zwei Jahren einen kleinen Lebensmittelladen am Rande von Aachen; seit der Grundschulzeit waren wir uns nicht mehr über den Weg gelaufen.
Doch heute würde ich ihm einen kleinen Besuch abstatten.

*

Ich parkte den Wagen am Straßenrand und betrat Toms Laden; es war niemand zu sehen, und so hatte ich etwas Zeit, mich im Geschäft umzuschauen. Die Lebensmittel waren auf zwei Gänge verteilt; links war ein Regal mit Zeitschriften; rechts fanden Toms Kunden Kleinigkeiten und Zubehör wie Batterien und Kondome; Süßigkeiten für Kinder und jung gebliebene Erwachsene frohlockten direkt an der Kasse; am Ende des Gangs standen zwei Kühlschränke – einer enthielt alkoholische Getränke, der andere Softdrinks. Ich stellte mich an die Kasse und wartete. In einem durch einen Vorhang aus Kordel vom Verkaufsraum getrennten Flur führte eine Treppe in das Lager.
Nach einiger Zeit fühlte ich mich wie die Protagonisten in Samuel Becketts „Warten auf Godot“, und so schlug ich mit der flachen Hand auf den Tresen. Aus dem Keller ertönte das Geräusch von zu Boden fallenden Getränkekisten, gefolgt von unter der Last eines Menschen stöhnenden Treppenstufen – Tom kam mit einem Karton in der Hand die Treppe hoch, ging ohne aufzusehen hinter die Theke, öffnete den Karton und wühlte darin. „Einen Moment, bitte“, sagte er.
Tom trug schwarze Lederschuhe, Jeans und ein kariertes Hemd, unter dessen Ärmeln kreisrunde Schweißflecken zu sehen waren. Auf seinem Kopf drängten Geheimratzecken das kurze, dunkelbraune Haar zurück und in seinem Gesicht dominierte ein gezwirbelter Schnauzbart.
„Was kann ich für sie tun?“ fragte er, stellte den Karton in die Ecke und wandte sich mir zu.
Dann verschwand die Welt für einen Moment.
Ich nehme die Flasche Bier wie einen Baseballschläger in die rechte Hand. Toms Augen weiten sich als er die Flasche wie ein Geschoss auf sich zukommen sieht; mit einem Knirschen trifft die Flasche seinen Haaransatz und zerbricht. Tom schreit auf wie eine Kuh auf der Schlachtbank; Blut quillt durch die offene Wunde, vermischt sich mit der alkoholhaltigen Flüssigkeit, läuft über die Stirn und tropft auf die Theke. In meiner Hand halte ich den Flaschenhals, an dessen blutigem Ende die Glassplitter abstehen, den Zacken einer Krone gleich. Ehe Tom begriffen hat, was passiert ist, schlage ich den Glasstumpen frontal in sein Gesicht. Die Scherbe bohrt sich unterhalb der Nase tief in sein Fleisch – es klingt, als ob aus einem Vakuumbehälter die Luft entweichen würde, als das Blut aus dem Loch in seinem Gesicht spritzt; ich trete einen Schritt zurück, um mich nicht schmutzig zu machen. Tom bricht mit einem gurgelnden Stöhnen zusammen und wälzt sich auf dem Boden, die Hände auf der Stelle, an der einmal seine Lippen waren. Ich beuge mich über den Tresen – die Augen meines blutverschmierten Opfers sind immer noch weit aufgerissen, und ich...ich
"Sam?"
Die Welt in meinem Kopf setzte sich wie ein Puzzle wieder zusammen - Stück für Stück.
„ Sam? Bist Dus? Hey Junge? Klar bist Dus! Immer noch der alte Tagträumer, wie? Tom starrte mich an und in seinen Augen lag die alte Verachtung. „Wenn du was erreichen willst, musst du aufhören zu träumen und endlich mal machen. Hat dir dass noch nie jemand gesagt?“ Er schüttelte den Kopf.
Ich dachte kurz über seine Worte nach.
„Du hast Recht.“
“Immer. Also, was kann ich für dich tun?“ fragte Tom ungeduldig.
„Ich nehme eine Flasche Bier“, sagte ich und schenkte ihm mein sonnigstes Lächeln.
 



 
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