Ein Requiem

Isola

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Ein Requiem

All my life’s buried here,
heap earth upon it. (O. Wilde)


In meiner Hand hielt ich ihre Rose, ich klammerte mich fest an sie und spürte, wie sich die Dornen in meine Handflächen bohrten und mir das Blut die Handgelenke hinunter lief.
Ich knipste niemals die Dornen an einer Rose ab – das hatte sie mich gelehrt – nimm einer Rose nie ihre Waffen, sie ist doch so zart und kann sich sonst nicht wehren.
Diese Worte schwirrten mir durch den Kopf, als ich am Grab meiner Seelenverwandten stand. Ja, sie war auch so zart gewesen, wie eine Rose.

Die ganze Familie war angetanzt, obwohl ich abgewehrt hatte, ich bräuchte keine Hilfe und wolle in Ruhe von meiner Freundin Abschied nehmen. Und zwar alleine.
Aber nein, sie mussten ja alle kommen, mit ihren Kuchen, den höflichen Beileidsbekundungen und ihrer schwarzen Eleganz, die dem Tode Hohn sprach.

Ich stand im Regen am Grab meiner Freundin und nahm Abschied; die Familie hatte sich aufgeregt, dass ich nicht schwarz trug, doch sie hätte es nicht gewollt. Schwarz stand mir nicht wirklich und sie hätte auch nicht gewollt, dass ich eine Schau spielte.
Auch ich hasste die verstaubten Ansichten, man müsse seine Trauer nach außen hin tragen und ein Schauspiel abgeben.
Was sollte das denn? Sah man mir meine Trauer denn nicht auch so schon an?
Meine Augen waren rot geschwollen von der ganzen Weinerei die letzten Tage. Ich war blass, nur noch ein Schatten meiner selbst und mir war ständig übel.
Ich fühlte mich wirklich so, als sei ein Teil von mir mit ihr gestorben – und zwar ein guter Teil, vielleicht sogar der beste Teil an mir. Ich wusste es nicht und als ich darüber nachdachte, stieg wieder Übelkeit in mir hoch und ich presste ein Taschentusch vor meinen Mund, um das Gefühl zu ersticken. Es schlich sich immer wieder hoch und bedrängte mich unheimlich.
Am Morgen noch hatte ich eine halbe Stunde länger als sonst im Badezimmer gebraucht, nur, weil mir übel geworden war. Nachdem ich dann geschlagene fünfzehn Minuten am Klo gehangen hatte, zog ich mich für die Beerdigung an – eine dunkle Jeans, ein weißes Hemd, das sie immer so gerne an mir gesehen hatte und Stiefel.
Jetzt kam ich mir etwas albern und kindisch vor, weil ich auf diese Art gegen die Traditionen rebelliert hatte, aber ich war auch stolz auf mich, dass ich einen ihrer letzten Wünsche erfüllen konnte. Sie hatte es so gewollt und ich tat es deswegen auch.
Schließlich tut man doch alles für einen geliebten Menschen, nicht wahr?
Selbst wenn er schon tot und nicht mehr bei uns ist . . .
Der Regen wurde immer stärker, doch ich stand noch da, regungslos und achtete nicht auf die Worte des Pfarrers, die man sowieso nur noch verschwommen hörte.
Das Blut tropfte auf den Boden, weil ich den Stiel der Rose immer krampfhafter umschloss und die Dornen tiefer und tiefer drangen. Aber ich spürte es nicht, ich wollte es nicht spüren.
Tränen liefen mir die Wangen hinunter, doch man hörte keinen Laut von mir.
Traurig starrte ich auf ihren Grabstein. Ihr Name war da eingemeißelt, in schönem Marmor standen dort ihre Lebensdaten und der Spruch, den sie sich gewünscht hatte.
Alles erinnerte mich schmerzlich an die letzten Stunden im Krankenhaus mit ihr, als sie am Beatmungsgerät angeschlossen und schon vollkommen weggetreten war.
Leise hatte ich mit ihr gesprochen, hatte nicht geglaubt, dass sie mich verstehen könne.
Geweint hatte ich, während man sie wegschob und dem Bestatter übergab. Still geweint über meine beste Freundin, die einzige, die ich je gehabt hatte.
Ich vermisste sie ja so!
Jeden Tag wachte ich in meinem Bett auf, ging ins Badezimmer, das mich an sie erinnerte, schaute im Wohnzimmer fern, das mich an sie erinnerte. Zusammen gewohnt hatten wir, das war schon seit der vierten Klasse beschlossene Sache gewesen.
Blutsbruderschaft hatten wir uns schon im Kindergarten geschworen und die Pubertät gemeinsam durchgestanden. Nie hätte uns irgendein Kerl auseinander bringen können, wir bedeuteten uns die Welt und starben, wenn wir die Andere nicht um uns hatten.
In unserem Leben – wir kannten uns schon unser gesamtes Leben – hatten wir uns vielleicht drei Wochen nicht gesehen, wir hingen aneinander, als seien wir zusammengewachsen.

Und jetzt war sie tot und auch ich war tot, weil sie nicht mehr da war.
Sie war in meinem Herzen, ja, aber ich empfand nur tiefe Trauer, in dem Moment, als ich an ihrem Grab stand und Erde auf ihren Sarg warf, die Rose hinterher.
Sie war tot, der Welt entschwunden.



@ V.L., November 2003
 



 
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