Ein Spiel

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Tabasco

Gast
Ein Spiel


Man kann es nicht alleine spielen. "Minimale Spieleranzahl: 2" stand groß auf der Verpackung.
"Schade", dachte ich mir innerlich, "dass niemand hier ist, der es mit mir ausprobiert. Ich hätte wirklich Lust, jetzt ein wenig zu spielen. Im Fernsehen kommt eh nur Müll und zum Weggehen hab ich heute keine Lust. Außerdem regnet es. Das beste Wetter um mal wieder ein gutes Spiel zu spielen."
Aber es war niemand da.

Es war ein Sonntag Nachmittag im Dezember, als ich es unter all dem Gerümpel auf dem Dachstuhl hervorkramte. Ich kannte es. "Vielleicht habe ich es als Kind oft gespielt, oder so." Und ich wusste, dass es mir damals gut gefallen haben muss. Nur errinnern, wie es funktioniert, konnte ich mich nicht. Es gab keine Anleitung. Nur einen vermoderten alten Garantieschein, der längst abgelaufen war. Generell sah der Kasten ziemlich alt aus, als hätten schon mindestens 5 Genereationen ihren Spass daran gehabt. "Verdammt ich weiss, dass ich dieses dämliche Spiel kenne!", dachte ich mir immer und immer wieder, aber es wollte mir nicht einfallen, wann ich es zum letzten Mal gesehen hatte.

Ich betrachtete die Schachtel lange und ausgiebig. Ein Gefühl von Traurigkeit, Melancholie und Wut durchströmte mich, je länger ich sie anstarrte. Ich versuchte, diese Gefühle zu deuten, zu verstehen, zu sortieren, aber es gelang mir nicht. Je mehr ich darüber nachdachte, desto extremer wurde meine Wut. Eine Wut die einfach da war. Wie aus dem nichts erschaffen und durch keine Errinnerung in meinem Kopf zu erklären.

Ich hasse das Gefühl, meine Emotionen nicht unter Kontrolle zu haben und ich hasse das Gefühl nicht zu wissen, woher diese Emotionen kommen.

Dieser Geruch, diese schreckliche nostalgische Aufmachung der Holzkiste, das zerbrochene Zinn-Abzeichen einer Sonne darauf und dieser kleine gelbe Fleck am oberen Rand des Kastens. Ich kannte das alles. Und es machte mir Angst, sie zu öffnen. Welche weiteren Merkmale des Spiels würden mir ins Auge stechen und in welche Stimmung würden sie mich versetzen?

"Wirklich schade, dass niemand hier ist, mit dem ich es spielen könnte", kam es mir wieder in den Kopf. "Aber ich muss einfach wissen, was es damit auf sich hat. Ich werde versuchen, es alleine zu spielen. Vielleicht kehren meine Errinnerungen so zurück."
Und ich öffnete die Kiste.

Ein Brett, wie üblich. 8 Figuren, mit unterschiedlicher Farbe. Ein kleiner Hund, ein Papagei, ein blaues Haus, ein Mann mit Hut, ein Plastikbaby, ein roter abgerubbelter Radiergummi in Form eines Herzens, eine kleine Ballerina und eine einfache Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Figur.
Mir war unklar, ob all diese unterschiedlichen Figuren absichtlich so in dieser Schachtel lagen und tatsächlich zum Spiel gehörten oder ob die echten Figuren einfach im Laufe der Zeit abhanden gekommen sind.

Ich nahm die Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Figur heraus und stellte sie auf das Brett, das ich auf dem Boden des Wohnzimmers entfaltete. Ich wollte diese Figur. Sie schien mir so neutral, so unbefleckt von allen Lastern und Erfahrungen. Es war ein innerliches Verlangen sie zu nehmen und es war mir so, als wäre dies schon seit jeher immer meine Figur gewesen, als hätte ich als Kind nur mit dieser einen gespielt, während die anderen Kinder sich immer die lustigsten aussuchten.

4 Würfel. Ein schwarzer, ein grüner, ein roter und ein blauer. Schöne Farben, alle vier. Man braucht alle 4 Würfel um das Spiel zu spielen, das wusste ich. Ich griff sie mir und legte sie neben das Brett.

Das Brett, welches so groß und dennoch recht einfältig zu sein schien, nahm einen Groteil des Zimmers ein. Es glich einer gewaltigen Schnecke, die von außen nach innen und am Ende wieder am äußeren Anfangspunkt anzukommen scheint, ohne dass ich es erklären kann. Ich drehte es und betrachtete es von allen Seiten, aber es wurde mir nicht klar, warum, der Weg des Spiels wieder am Ausgangspunkt ankommt. Eine optische Täuschung dachte ich mir. Ich konnte den Finger nehmen, den Pfad damit entlang gehen bis zum Ende/Anfang, aber ich konnte nicht erklären, wie ich es gemacht hab. Mal abgesehen davon, dass niemand in der Nähe war, dem ich es hätte erklären können.
In den 4 Ecken des Bretts waren jeweils 4 quadratische Umrandungen gekennzeichnet, für Karten oder so. In jedem Quadrat stand, für welche art von Karten es vorgesehen war. Oben links stand "Entscheidungen". Rechts daneben war "Erfahrungen" zu lesen und im unteren Bereich lagen "Situationen" und "Errinnerungen".
Ich wühlte in der Kiste nach den passenden Karten und fand jeweils etwa 20 für einen Stapel. "Müssen irgendwann mal mehr gewesen sein", glaubte ich zu wissen. Immer mehr errinnerte ich mich daran, wie ich damals das Spiel gespielt habe und wusste nun ziemlich genau, dass es damals viel mehr "Erfahrungskarten" gab. Und mindestens genauso sicher war ich mir auch, dass ich als Kind gerade mal 3 oder 4 "Errinnerungskarten" zur Verfügung hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr quälte es mich. Wer sollte dieses Spiel nach mir gespielt haben? Wie können plötzlich mehr Karten dabei sein? Ich konnte es mir nicht erklären. "Ein etrster Spielversuch wird mir sich Aufklärung geben", beruhigte ich mich und lies die 4 Würfel rollen, nachdem ich meine Spielfigur auf dem Startposten positioniert hatte.

Ich würfelte eine 21 und lies meine Figur 21 Felder weiter springen. Auf allen Feldern war etwas abgebildet. Ein Symbol. Ein Entschediungssymbol, Erfahrungssymbol, Situationssymbol oder Errinnerungssymbbol, welche auch auf den jeweiligen Karten zusehen waren. Und manche Felder waren einfach leer, schwarz, ohne jegliche Forderungen. Und auf einem solchen landete meine Figur.
Ich würfelte ein zweites mal und bekam eine 15. Und abermals trat meine Figur auf ein schwarzes Feld. Auch beim dritten mal landete ich auf einem solchen. Ebenso beim vierten Würfeln und beim fünften. Dann war das Spiel zu ende. "Das war's?", fragte ich erschüttert. "Das ist alles? Was soll das? Was hab ich falsch gemacht?" Und plötzlich kamen mir die schwarzen Felder des Spiels unendlich viel vor. Als würde es fast nur aus schwarzen Feldern bestehen, die gelgentlich von Kartenfeldern durchbrochen wurden.
Es war deprimierend. Das Spiel war nicht so, wie ich es mir erhoffte. Trotzdem spielte ich ein weiteres mal, in der Hoffnung, dass es diesmal anders verläuft. Aber auch beim zweiten Spiel, kam ich nicht dazu, eine der Karten aufzunehmen. Es war mir zu blöd, die Karten einfach so zu lesen. Damit ginge ja schließlich der Sinn des Spiels verloren, falls es jemals einen hatte. Und so packte ich es ärgerlich wieder in die Packung mit allem Zubehör und trat es unter's Sofa.

Im Laufe der Zeit vergas ich das Spiel und lebte weiter wie bisher.
Ich lebte?
Nein, ich vegetierte.
Ich ertrug die Monotonie des Alltags, zahlte meine Rechnungen und starrte Abends wie üblich, dämlich in die Glotze. Ich ging zur Arbeit. Ich kam nach Hause. Ich schlief. Ich aß. Ich trank. Und ging wieder zur Arbeit. Alles wie ein endlos schwarzes Feld auf dem Brett des Spiels. Kein Ausweg, keine Lösung, keine Abwechslung, keine überragenden Emotionen.
Monate vergingen, der Sommer strich an mir vorüber, ohne dass ich ihn bemerkte.
Der Herbst lies die Blätter von den Bäumen fallen und es wurde wieder Winter.
Dann wieder Frühling.
Gefolgt vom alljährlichen Sommer, der abermals vom Herbstwind aus der Atmosphäre getrieben wurde und die Menschen auf die Kälte des Winters vorbereitete.
Es war wieder Dezember, als ich mich dazu entschloss, diesem unerträglichen Dasein nun ein Ende zu bereiten. Ich wollte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr. Meine Träume waren längst zerbröckelt und zu einer hart verkrusteten Realität geworden, die so echt war, dass ich sie alleine nicht länger ertragen konnte. Jede Sekunde schien ewig zu dauern, die Zeit wollte nicht vergehen und ich lebte in dem ständigen Gefühl, alles wichtige dieser Erde zu verpassen. Doch selbst dieses Gefühl war fast weg, als gäbe es gar nichts, was man verpassen könnte. Alles schien so nutzlos und ich griff mir meinen Mantel und lief gequält zur großen Brücke am Stadtende hinunter. Ich durfte jetzt nicht denken. Alles was ich denke, bringt mich nur davon ab, wenigstens dieses eine Mal meine Pläne auch umzusetzen. Ich wollte nur einmal etwas richtig machen und sich zu töten kann nun wirklich nicht so schwer sein. "Das krieg selbst ich auch die Reihe", bemitleidete ich mich selbst.

16.12.2003, 2 Uhr nachts. Und ich stehe auf einer Brücke, die mich mindestens 18 Meter in die Tiefe stürtzen lassen kann, wenn ich das will.
"Ja das will ich, verdammt!"
Und ich schloss die Augen. Und ich atmete tief ein.
Keine Träne. Kein Selbstmitleid. Kein Gefühl, auch noch so klein.
Die Sekunde vor dem alles entscheidenen Sprung.
"Nein, ich werde mein Leben nicht vor meinen Augen ein letztes mal vorbei gleiten lassen. Nein, das werde ich nicht."
Und noch ein tiefer Atemzug.
Und noch ein letztes Blinzeln.
Und meine Hand lässt langsam den Metallmast los.
Meine Füße rutschen gemächlich an den äußeren Rand des Geländers.
Mein Mund ist fest zugekniffen. Ebenso auch meine Augen.
Jetzt oder nie.
Adieu.

"Was machen Sie denn da?"

"Was? Was? Wie bitte?"

"Was Sie dort machen. Das ist doch scheisse und das wissen Sie."

"Bitte was?"

"Was, was was. Na Sie woll'n sich doch umbringen oder nicht?"

"Schon. Aber ich...ich... Was zur Hölle machen Sie hier?"

"Das hier ist 'ne öffentliche Brücke. Was soll ich also hier machen. Ich bin jedenfalls nicht hierher gekommen, um Ihnen beim Sterben zuzugucken."

"Dann...dann geh'n Sie doch einfach weiter und lassen Sie mich in Ruhe."

"Kann ich nicht. Damit mach ich mich strafbar. Das ist das Beihilfe zum Mord oder so."

"Dann tun Sie doch einfach so als hätten Sie nichts gesehen. Bitte. Gehen Sie weg."

"Gut, das dürfte genügen."

"Wie bitte? Was dürfte genügen?"

"Nichts, schon gut. Wirste schon selbst merken."

"Was werde ich selbst merken? Was?"

"Du springst jetzt eh nicht mehr. Ein Gespräch und man ist raus aus der Motivation es zu tun. Glaub mir ich kenn das und du tötest dich heute sicher nicht nicht mehr."

"Ha! Und wie ich springen werde. Ich warte nur, dass Sie endlich verschwunden sind."

"Wie du meinst. Viel Spass dann noch."

Sie ging wieder.
So kurz vor dem Sprung. Warum nur? Ein Zeichen? Will Gott nicht, dass ich jetzt schon abtrete oder doch nur ein dummer Zufall?
Ich blickte die Strasse hinunter und sah sie mit gesenktem Kopf davon schlendern.
Ich versuchte mich wieder aufs Wesentliche zu konzentrieren.
Ein Atemzug. Ein letzter Blick in die Ferne.
Dann die Augen verschließen.
Noch ein Atemzug.
Freiheit.
Langsam den Mast loslassen...
und dann...

Wer zur Hölle war diese Frau?
Was sollte das? Hätte sie nicht einfach weiter gehen können? Die erste Person mit der ich länger als 10 Sekunden geredet habe, seit einem halben Jahr. Und das ausgerechnet 2 Sekunden vor meinem Tod.
Sie war schön. Wunderschön. Hat sie sich Sorgen um mich gemacht? Wollte sie mir helfen? Wenn ja, warum ist sie dann so eilig verschwunden?
Sollte ich ihr nachgehen? Ist dieser Tod überhaupt sinnvoll? Ist soeben ein neuer Mensch, ein Vertrauter, in mein Leben getreten? Ergibt dieser geplante Selbstmordversuch einen Sinn der darin besteht, mich nur hierher zu begeben, um sie zu treffen?
Fragen über Fragen schossen durch meinen Kopf. Unkontrollierbar und schnell. Eine Schutzreaktion meines Gehirns, kurz vor dem Sprung, oder doch vielmehr als das?
Ich musste es herausfinden.
Schnell stieg ich vom Geländer herunter und rannte die Brücke hinunter, in ihre Richtung. "Wenn ich Glück habe, sehe ich sie noch am Ende der Strasse", hoffte ich innerlich. Ich rannte zum Brückenende bis zur Landstrasse. Es war sehr düster und nichts zu sehen. "Wieso läuft eine schöne Frau wie diese nachts im eiskalten Winter eine Landstrasse hinunter?", fragte ich mich. Ich sah mich um, doch sie war nicht da.
Dann stach mir der Geruch einer glimmenden Zigarette in die Nase. Von Links. Nein Rechts. Von überall. Ich drehte mich um. In alle Richtungen. Und im Dunkeln des Strassenrandes, sah ich einen kleinen glühenden Fleck, der sich in der nacht bewegte.

"Ich hab doch gesagt, du machst es nicht."

"Hallo? Wer ist das bitte?",rief ich zur Seite hinüber.

"Frag noch so. Was glaubst du denn, wie viele Menschen nachts am Brückenende stehen, bei der Kälte und 'ne Zigarette quarzen?"

"Sie...Sie sind das also. Ich...ich bin nicht gesprungen."

"Sonst wärst du jetzt wohl auch nicht hier. War klar dass du's nicht tun würdest."

"Wie können sie da so sicher sein? Immerhin war ich kurz davor."

Ich näherete mich langsam dem Strassenrand um sie besser zu sehen.

"Weil ich selbst ungefähr 20 Nächte auf dieser beschissenen Brücke verbracht habe, mit der festen Absicht mich hinuter zu stürzen."

Jetzt konnte ich sie erkennen. Ich stand direkt vor ihr, doch immernoch in sicherer Distanz.

"Warum will eine Frau wie Sie sich umbringen? Ich meine, sie sehen nicht so aus, als müssten Sie sich umbringen."

"Du bist mir lustig. Du siehst auch nicht gerade so aus als ob du's nötig hättest, so unehrenhaft abzukratzen."

"Oh doch das tue ich. Sie ahnen ja gar nicht wie schrecklich die letzten Tage, Monate, Jahre für mich waren", sprach ich leidend und sehr theatralisch.

"Ja ja. Das übliche eben. Du kannst überigens Lisa sagen."

"Sie haben mich an meinem Plan gehindert, so dass ich jetzt das Gefühl habe nicht mal das richtig machen zu können und jetzt wollen Sie dass ich Sie Lisa nenne?"

"Dacht ich mir so. Pass ma auf, in 2 bis 3 Tagen wirst du mir dankbar dafür sein."

"Das stimmt vielleicht sogar, aber darum geht es hier nicht! Ich wollte mich jetzt umbringen und nicht in 2 oder 3 Tagen! Irgendwann setzt zweifelslos die Monotonie wieder ein!"

Ich war sehr aufgebracht.

"Ja", sagte sie.

Zum ersten Mal schien sie nicht überheblich sondern eher einsichtig, selbst leidend und verwundbar zu sein.

"Es ist so! Und es wird immer wieder so sein! Dieser verdammte Sprung wäre mein Ticket in die Freiheit gewesen! Aber ich werde es wieder tun! Immer und immer wieder! Bis es irgendwann klappt!"

"Ja und bis es soweit ist, mache ich dir einen Vorschlag. Wir geh'n 'nen Kaffee trinken. In der Stadt, ok?", fragte sie versöhnlich.

"Einen Kaffee trinken?"

"Ja Kaffee. Dieses schwarze Gesöff, meist heiss serviert, koffeinhaltig. Man trinkt ihn gewöhnlich mit Zucker, Milch oder mit ohne alles. Du musst dich daran errinnern. Du hast das Zeug damals jeden Morgen getrunken. Du kannst gar nicht ohne."

Ich musste schmunzeln.
"Ja ich errinnere mich. Ich hasse Kaffee, aber ich gehe trotzdem mit."

Wir gingen in die Stadt. Es gibt nicht viele Bars die um 4 Uhr nachts offen haben, zumal ich mich in der Stadt nun wirklich nicht auskenne. Das letzte mal war ich vor 2 Jahren in einem Restarant gewesen, aber wir fanden einen 24h-Pub. Sie wusste genau wo wir hin gehen. Sie ist jede Nacht dort, um zu schreiben und nachzudenken. Und zugegebener Maßen muss ich sagen, die Atmosphäre dort war durchaus angenehm.

Und wir tranken einen Kafee. Und noch einen. Und noch einen. Irgendwann war ich so mit Koffein vollgepumt, dass die Worte nur so aus mir herausschossen. Nie zuvor hatte ich ich mich so intensiv, so ehrlich und gerne unterhalten. Wir plauerten die ganze Nacht. Ein Kaffe kam. ein Kaffe leerte sich. Und ein neuer Kaffe nahm den Platz der leeren Tasse ein. Ich erzählte ihr vom Ablauf meines Lebens, von der Unerträglichkeit meines Seins, von der Ausweglosigkeit des Alltags und von der inneren Qual, nich zu wissen wo man hin soll und wer man ist. Und je tiefer ich in in meinen Monolog einstieg, desto mehr schöne Dinge, die ich erlebt habe, erkannte ich. Errinnerungen an schöne Tage, an vergessene Freunde, an unglaubliche Glücksgefühle und unvergessliche Augenblicke schossen aus meinem Gehirn, durch meinen Mund direkt in ihr Ohr. Und sie hörte mir zu.
Hörte mir zu!
Hörte mir so zu, wie mir nie vorher jemand zugehört hatte. Ich spührte etwas in mir, dass ich selbst seit Jahren nicht mehr gespührt hatte. Es war, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Ich denke sie fühlte das gleiche.

Es war der 23. Dezember des selben Jahres, als Lisa mich fragte, ob ich Lust hätte Weihnachten mit ihr zu verbringen. Wir hatten seit der besagten Nacht, jeden Tag miteinander verbracht, geredet und gelacht. Gelacht.
Selbstverständlich sagte ich ja.

Ich wollte, dass es zu dem schönsten Weihnachtsfest wird, dass ich je erlebt habe. Ich putzte, räumte auf wie nie zuvor, rückte die Möbel um und schmiss all meinen alten Scheiss weg.
Und dann fand ich es.
Das Spiel unter dem Sofa. Dieses dämliche Spiel ohne Sinn und Verstand. Am liebsten hätte ich es mit samt all dem anderen Kram weggeschmissen aber irgendwas hinderte mich daran.
Ich sah mich als Kind, wie ich mit meinem Vater da saß und es spielte. Er war der Mann mit dem Hut und ich die Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Figur. Ich sah mich und 2 wichtige Freunde aus Kindertagen, die bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben kamen, wie wir im Garten sitzen und das Spiel spielen. Tom ist der kleine Hund und Sebstian der Papagei. Ich bin wie immer die Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Figur. Ich sehe mich mit meiner Mutter, kurz nach Vaters Tod, wie ich ihr einen nagelneuen roten Herzform-Radiergummi in die Hand drücke und sage:

"Hier Mami. Den hab ich gefunden. Ich schenk ihn dir."

"Leg in ihn dein Spiel mein Schatz. Wenn wir dann spielen, wie ich es dir versprochen habe, dann ist das meine Figur. Die ist dann für mich reserviert.", sagte sie gutmütig, aber traurig.

Wir sind nie dazu gekommen, es zusammen zu spielen. Nach ihrem Tod blieb das Gummi-Herz einfach in der Kiste liegen.

Ich sah das blaue Haus und wie Papa sagte:

"So ein haus werden wir irgendwann auch mal haben. Dann kannst du da so viel Krach machen wie du willst mein Sohn. Und keiner wird sich beschweren."

Und ich packte das Haus zu den anderen wichtigen Figuren im Spiel. Jede dieser Figuren hat ihre Bedeutung. Jede der Figuren hat eine ganz besondere Vergangenheit. Und ich war nicht länger traurig, beim Betrachten des Spiels. Im Gegenteil. Es schien mir plötzlich so wichtig wie alles und jeder und ich fühlte, dass es noch einen Zweck zu erfüllen hat, wenn die Zeit reif ist.

Ich legte es auf den Schrank und putze weiter.

24.12.2003. 19 Uhr 30. Es klingelt und Lisa steht vor der Tür. Herausgeputzt in einem wirklich tollen Kleid und mit einem Lächeln auf den Lippen, das mich mehr als alles andere in Weihnachtsstimmung versetzt.

"Hi"

"Hi auch dir", sagte ich fast lachend. "Komm rein. Ich bin gerde in der Küche beschäftigt. Ich weiss wir wollten zusammen kochen, aber ich konnt's nicht abwarten."

"Halb so wild. Ich werd sowieso viel lieber bekocht, als selbst kochen zu müssen."

"Hoffentlich bereust du das nicht, wenn du meine Kochkünste kosten musst."

"ja hoffentlich", lachte sie. "Kann ich ein bisschen Musik anmachen?"

"Klar. Die CD's sind dort drüben."

Musik hat schon immer einen ganz bersonderen Platz in meinem Leben eingenommen und ich denke auch in Lisas. Ich hatte mir sogar die Mühe gemacht, all die CD's die sich im Laufe der Jahre bei mir angesammelt haben zu sortieren und habe dabei welche entdeckt, die ich seit Jahren nicht mehr gehört habe und welche von denen ich nicht mal mehr wusste, dass ich sie überhaupt besitze.

Lisa schmiss die Smashing Pumpkins in den CD-Player. Wie lange ich diese Klänge nicht mehr genossen und wie sehr ich sie vermisst hab. Genau das richtige. Die Boxen dröhnten die tiefen kraftvollen Bässe heraus und die Melodie wurde von ungeheurer Eindringlichkeit geprägt. Eindringlicher als jedes andere mal, wenn ich die Pumpkins gehört hatte.
Alles war schon fast perfekt.

"Was ist das hier?"

"Was denn?", rief ich aus der Küche.

"Der Kasten hier auf dem Schrank."

"Oh das. Das ist ein altes Spiel aus meiner Kindheit. Es hängt viel Errinnerung daran."

"Hmm...sieht sehr alt aus. Macht es Spass?"

"Letztes mal als ich es gespielt habe, hat es mich sehr geärgert. Aber man muss es eigentlich auch zu zweit spielen, steht auf der Packung."

"Na das trifft sich doch gut. Wollen wir?"

"Ich weiss nicht genau. Meinst du das ist das Richtige?"

"Klar warum nicht."

"Na gut. Von mir aus. Wollen wir erst essen oder danach?"

"Essen wir erst."

Wir aßen. Und im Hintergrund jauchsten die Pumpkins. Ich denke, dass mir das Kochen sogar ganz gut gelungen war und ein Schauder durchfuhr mich, als ich das bemerkte. Es war tatsächlich etwas, das mir gelungen ist. Wieder ein Gefühl, dass ich seit Jahren nicht empfunden habe. Alles kehrt zurück. Oder entsteht jetzt erst? Nach all der Zeit?
Gefühle zu deuten ist so ziemlich das schwierigste und quälendste, womit sich das Hirn beschäftigen kann. Man darf es nicht übertreiben, sonst rutscht man ab.

21 Uhr. Ich stelle das Spiel auf dem Wohnzimmertisch auf und fragte mich zur gleichen Zeit, warum diese wundervolle Frau, die mir da gegenüber sitzt, an einem so besonderen Abend wie diesem hier, bei mir in meinem Wohnzimmer sitzt und mit mir Spiele spielt. Wie ihr so etwas überhaupt Freude machen kann und ob sie nur hier ist um mir einen Gefallen zu tun. Ein Blick in ihre Augen und ich wusste, dass es mehr Gründe gibt, sie heute hier bei mir zu haben. Ich festigte mich wieder.

Ich holte das Brett heraus und legte es auf den Tisch. Ich holte die Karten aus der Packung, so 120 für jeden Stapel, und legte sie auf die vorgebenen Flächen. Ich nahm die 3 Würfel die in der Kiste waren und drückte sie Lisa in die Hand. Dann fragte ich sie, welche Figur sie gerne hätte. Sie hatte die Auswahl zwischen 6 Figuren und entschied sich für die Ballerina. Ich nahm mir wieder meine Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Puppe und zitterte dabei am ganzen Leib.

"Was hast du denn? Stimmt was nicht?"

"Doch doch, alles bestens. Nur als ich das Spiel zum letzen Mal gespielt habe, das war vor 2 Jahren oder so, da war es völlig anders."

"Anders? Wie meinst du das?"

"Naja, das ist schwer zu erklären. Da waren beispielsweise 4 Würfel drin und nicht drei."

"Dann ist halt einer abhanden gekommen. Wo ist das Problem?"

"Da ist noch mehr. Ich hatte 8 Figuren. Jetzt sind es nur noch 6. Es fehlen ein Mann mit einem Hut und ein rotes Radiergummiherz. Tja und dann diese Karten da. Letztes Mal hatte ich für jeden Stapel nur ungefähr 20 Karten. Jetzt sind es über Hundert für jeden. Es können doch nicht einfach so mehr Karten werden."

"Ach, da hast du dich verzählt oder so. Denk nicht so viel drüber nach. Lass uns einfach anfangen."

"Aber da ist nochwas. Und das geht wirklich nicht. Es waren letzes Mal lauter schwarze Felder auf dem Brett. Nun sind weniger als die Hälfte noch schwarz. Ich kann das nicht erklären."

"Musst du auch nicht. Ich fang jetzt einfach an"

Lisa würfelte, aber ich war in Gedanken. War ich wahnsinnig? Ich hatte doch eindeutig gesehen, was in diesem Spiel war und was nicht und nun plötzlich.... merkwürdig. Ich starrte auf die Fläche des Brettes. Ich starrte auf die große gewaltige Schnecke ohne Sinn. Und dann überkam es mich. Is sah plötzlich die Logik in dem schneckenartigen Gebilde. Ich sah wie sie sich in sich zusammen drehte und auf einem anderen Pfad wieder zum Ursprung zurückkehrte, wie ein Strudel. Sie wirkte fast drei-demensional. Ich kann es nicht erklären, aber ich hatte die Lösung gefunden. Keine optische Täuschung, nur eine klare Sicht der Dinge. Und ich dachte wieder an die beiden verschwundenen Figuren. Der Mann mit Hut und das Radiergummi-Herz. Mutter und Vaters Figuren. Und innerlich dachte ich mir:

"Danke, Mutter und Vater. Ich werde euch jetzt nicht mehr stören. Ich bin nun endlich erwachsen. Danke für alles."

Und ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte meinen Körper. Ich hatte mit etwas abgeschlossen, mit dem ich schon vor langer Zeit hätte abschließen sollen.

"Du bist dran."

"Wie?"

"Wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken. Du bist dran hab ich gesagt. Ich hatte eine 12 und hab eine Errinnerungskarte gezogen."

"Und was stand drauf?"

"Dass ich mich daran errinnern soll, ob ich dieses Spiel schon mal gespielt habe."

"Und hast du?"

"Ja."

"Ja?"

"Ich spiele es jeden Tag. Manchmal quält es, manchmal macht es Spass."

Ich wusste genau was sie meint und lächelte ohne ein Wort darüber zu verlieren. Ich musste nichts dazu sagen.
Ich würfelte ebenfalls. Eine 14. "Erfahrungskarte"

>>Wie stellst du dir einen Moment, absoluten Glücks vor? Hattest du schon einen solchen Moment? Und wenn ja, ist dieser jetzt nicht ein solcher? Werde dir dessen bewusst!<<

Die Karte war wie für mich geschrieben. Ja, es war ein solcher Moment. Und was für einer. Es war das Fest der Liebe und die Ballerina meines Spiels hatte endlich ihren Spieler gefunden. Ich zeigte Lisa die Karte und umarmte sie. Noch vor 2 Wochen hätte ich mir nie im Leben einen solchen Moment der Zweisamkeit vorstellen können und nun war er da.

Situationskarte: >>Morgen geht ihr beide ins Kino und werdet danach essen gehen. Beim Essen werdet ihr 2 Menschen kennen lernen, die euch im Laufe der Zeit sehr wichtig und mit den Jahren zum festen Bestandteil eures Lebens werden.<<

"Donnerwetter. Dieses Spiel weiss aber eine Menge", lachte Lisa als sie diese karte zog.

"Tja, sagte ich, wer weiss. Wir könnten wirklich ins Kino gehen wenn du willst."

"Können wir. Läuft was Gutes?"

"Ich weiss nicht genau. Ich hoffe doch. Ich werd nachher mal in der Zeitung nachgucken."

"Ok. Wir könnten allerdings auch ins Pub gehen oder hier bleiben, zu zweit, wenn nichts im Kino kommt. Aber egal. Lass uns erstmal weiter spielen."

Ich zog die "Entscheidungsfrage".

>>Sicher werdet ihr morgen ins Kino gehen. Es ist nicht wichtig was man guckt, sondern mit wem man es guckt. Und glaubt mir, was immer ihr gucken werdet, dieser Film wird immer in eurem Gedächnis bleiben. Weil ihr zusammen dort wart.<<

Ich wusste, was das Spiel wollte. Ich verstand es nun. Ich gab Lisa die Karte. Sie überlegte kurz, dann lachte sie und legte sie zurück unter den Stapel.

"Na dann gehen wir halt ins Kino. Egal was kommt."

"Das tun wir."

Wir spielten und spielten. Viel zu schnell war das Spiel zu Ende. Wir hätten ewig weiter spielen können. Es schien plötzlich so leicht. So einfach. Es war nicht länger mein, sondern unser Spiel. Oder nein, wir beide waren viel mehr Bestandteil des Spiels. Wir hatten unser Schiksal gefunden und das Spiel würde es lenken. All das klang weder abstrakt noch unlogisch. Auch nicht mystisch. Es war einfach nur logisch. Logischer als alles andere. Und so einfach.

Am nächsten Tag besuchten wir das Kino und gingen danach richtig chic essen, im Saré-Restaurant. Da keine Plätze mehr frei waren, wurden wir an einen bereits zum Teil belegten Tisch gesetzt und lernten dort Steffi und Mario kennen. Die beiden waren schon seit Ewigkeiten ein Paar und immernoch glücklich miteinander. Beide strahlten einen solchen Optimismus aus, dass man sich ihnen einfach nicht entziehen konnte. Sie redeten und redeten, über belangloses Zeug größten Teils und dennoch war jedes einzelne Wort interessant und warm. Es war nicht das was sie sagten, sondern die Art, wie sie es sagten. Man hätte ihnen eine Ewigkeit lang zuhören können.

Und wir wurden beste Freunde. Von nun an gingen Lisa und ich immer zusammen mit den beiden weg und wir hatten jede Menge Spass, waren überall und sahen vieles. Das alles schien mir wie ein Traum, ein Traum vom besseren Leben, aus dem man irgendwann erwacht und feststellt, dass es nie Realität war. Es kam mir sogar in den Kopf, damals doch von der Brücke gesprungen und nun tot zu sein. Dass alles schien mir einfach zu perfekt, um der Wahheit zu entsprechen. "Vielleicht ist dies das Paradies und ich bin eine der vielen Seelen, die bis in alle Ewigkeit träumen dürfen", überlegte ich still.

Eines Abends dann saßen wir 4 bei mir zu Hause. Es war im Frühling und ich wollte, dass auch Steffi und Mario das Spiel kennenlernen. Wir setzten uns ins Wohnzimmer und ich packte die Kiste aus. Ich kramte und kramte. Und wieder fehlten 2 Figuren. Der Papagei und der kleine Hund waren wie vom Erdboden verschluckt. Da waren meine "Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Puppe", Lisa's Ballerina, das blaue Haus und das kleine Plastikbaby. Aus irgendeinem Grund wollte mein Innerstes das Haus und das Baby nicht zum Spielen zur Verfügung stellen. Und deshalb tat ich es auch nicht. Ich versteckte diese beiden Spielfiguren rasch in meiner rechten hinteren Hosentasche und sagte, wir hätten nicht genügend Figuren zum Spielen.

Ich denke mir war auch damals schon klar, wo Hund und Papagei geblieben sind und ich dachte zu mir selbst:
"Danke Tom und Sebastian. Auch ihr könnt jetzt gehen. Ich brauche euch nicht mehr." Und wieder schloss sich eine knarrende Tür voller Schmerz in meinem Herzen.

Verschmitzt lächelte ich, legte das Spiel beiseite und holte eine Flasche Wein, die ich in einer Bar mitgehen lassen habe, damit wir diese köpfen konnten. Und so tranken, lachten und faselten wir zu Viert auch an diesem Abend bis in die frühen Morgenstunden. Es schien, als würde unser Gesprächsstoff bis zur Unendlichkeit reichen. Jeder von uns hatte immer irgendwas zu erzählen, was die anderen noch nicht wussten. Und auch wenn nicht alles, von dem was gesagt wurde, immer der wahrheit entsprach, so waren es dennoch Geschichten, die gar nicht wahr sein mussten, um einfach nur toll zu sein.

Und nebenbei bemerkt war dieser Abend so entscheidend wie kein anderer.
Als Steffi und Mario sich dann auf den Heimweg gemacht hatten, waren Lisa und ich allein. Wir beide hatten nie so recht darüber gesprochen ob wir nun eigentlich ein Paar seien oder nicht. Für alle anderen sah das sicher so aus, war aber im Grunde nicht der Fall. Wir liebten uns, soviel stand fest aber mehr als umarmt hatten wir und bisher nie. Das war auch eigentlich kein Problem für mich. Ich liebte diese Frau so abgöttisch, dass allein ihre Gegenwart ausreichte um mich auf Wolke 7 zu katapultieren. Ich wollte immer nur, dass sie einfach da ist. Egal was wir machen, sie musste nur da sein. Dann ging es mir gut. Und sie war immer da. Mehr als das, sie war immer für mich da. Egal wann. Egal wo. Und dieser besagte Abend schweisste uns endgültig zusammen.

Am nächsten Morgen schnappte ich mir das Spiel, welches immernoch offen auf dem Boden in der Ecke lag und räumte es zusammen. Die Ballerina war verschwunden. Auch sie hatte nun endgültig ihren Platz in meiner Realität gefunden. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten musste ich vor Glück weinen. Ich weiss nicht mal, ob ich bis zu diesem Zeitpunkt jemals vor Glück geweint habe. Und das beste war, ich fühlte mich nicht schlecht deswegen. Ich schämte mich nicht. Ich war stolz darauf, jetzt zu weinen
und ich genoss es.

Das Spiel legte ich wieder auf den Schrank, dann ging ich zum Bett, küsste Lisa und sagte: "Dieses Spiel müssen wir nun nie wieder spielen"

"Ich weiss", antwortete sie verschlafen und dennoch hellwach.

Nun endlich wusste ich, was es heisst zu leben.
Und alles entwickelte sich zum Positiven.
Ich schmiss meinen Job und fing an zu schreiben. Ich schrieb wie ein Wilder die Nächte durch. Ich schrieb und schrieb. In einer Woche hatte ich meinen ersten Roman a la 560 Seiten fertiggestellt. Er hiess "Vom Leben danach" und handelte von der Bewältigung seiner eigenen Vergangenheit und von den Konsequenzen mit welchen das Leben zu tragen ist. Ich schrieb viel über das Leben, über den Tod, über Gewalt und Zärtlichkeit über Intrigen und Freiheit, über Verlangen, Sucht, Abscheu und über Angst, Verzweiflung, Erlösung, Geborgenheit und Wärme. Ich schrieb über alles was mir in den Sinn kam. Auf diese Weise verarbeitete ich all die Schönheit, die mein Leben so plötzlich erfahren "musste". Ich bemerkte, dass nicht nur die grausamen Schiksale des Seins und schmerzvolle Errinnerungen eine Verarbeitung verlangen, sondern auch all das Glück und die Freude, wenn sie so stark, vielleicht zu stark, und ganz plötzlich auftritt, verarbeitet werden muss. Und es war gut, dass ich das getan habe. Dieser Meinung waren auch circa 2 Millionen andere Menschen, die gleich meinen ersten Roman mit einer solchen Leidenschaft zu verschlingen schienen, dass Lisa und ich innerhalb kürzester Zeit genug Geld verdient hatten, um uns endlich das Haus unserer Träume kaufen zu können.

Und so steht ein weiters Datum in meinem Leben, dass immer eines der besondersten bleiben wird.
Der 16. April 2005.
Wir haben unser Traumhaus gefunden und sind bereits in Begriff einzuziehen. Ich bin jeden Tag am Streichen und Tapezieren und (wie soll es anders sein) Lisa sucht die Möbel und die Tapete aus.

Und an diesem Tag dann eben, kommt sie mit Tränen in den Augen angerannt. Ruft meinen Namen, schon draussen. Immer und Immer wieder. Ich laufe ihr entgegen, sorge mich und bemerke dann aber auch relativ schnell, was für eine Art von Tränen da, wie Wasserfälle aus ihren Augen strömen. Dies waren keineswegs Schmerztänen oder Unglückstränen. Dies waren eindeutig Freudentränen. Ich kenne Freudentränen und das waren welche.

Lisa war beim Arzt.
Muss ich mehr sagen?
Ich denke nicht.

9 Monate später, am 16. Dezember 2005 kommt Brad zur Welt. Unser Sohn.
Und ich bin sterbenskrank
vor Glück.

Ich sterbe jeden Tag.
Vor Glück.

Und erwache jeden morgen neu.
Voll Glück.

Ich kann mir nicht vorstellen, mal der gewesen zu sein, der ich war.
Und dennoch werde ich nie vergessen wer ich war und im Innersten immernoch bin.

Ich bin ein belieber Mensch. Ein beliebiges Stück Fleisch, das einen Bruchteil der Zeit, die der großen Weltenuhr zur Verfügung steht, mit anderen beliebigen erlebt. Ein beliebiges Individuum, das sich, wie alle anderen beliebigen Individuen, auf der permanenten Suche nach dem Zweck befindet. Ein beliebiger Mensch, der irgendwann einfach im Nichts verschwindet, unabhängig von seiner Suche oder seinem ganz persönlichem Nutzen und nur einen Hauch von Errinnerung für die nachkommenden Generationen über den Planeten schweben lässt.
Und doch bin ich viel mehr als das. Vielleicht sogar der glücklickste beliebige Mensch aller beliebiger Menschen, wohlmöglich nicht mal beliebig, sondern geplant. Ein Wunschkind Gottes.
Und diesen wundervollen Gedanken halte ich fest.
Den kann mir keiner nehmen.
Nicht mehr.
Nie mehr.

Am 30. Dezember 2005 habe ich das Spiel zum letzten Mal in meinen Händen gehalten. Ich saß draussen auf der Veranda, als ich es öffnete.
Und ich lachte, aus voller Seele.
Ich breitete das Brett aus und es waren keine schwarzen Flecken mehr darauf. Ich wühlte in der Kiste und fand nur einen Würfel, den roten. Von jetzt an konnte man nur noch maximal 6 Schritte pro Zug gehen und erwischt bei jedem Zug eine neue Karte, die einem das Leben weist.

Und nur meine Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Figur war noch darin zu finden. Des Plastikbay und das blaue Haus waren wie all die anderen Figuren wie vom Erdboden verschluckt. Alle Figuren haben ihren Platz in meiner Realität gefunden, sind fester Bestandteil meines Lebens geworden. Manche davon konnte ich einfach loslassen, manche habe ich ersetzt und andere habe ich mir selbst erschaffen.
Alles hat einen Sinn.

Ich stellte meine Figur auf die Startposition und würfelte. Eine eins. "Entscheidungen"
Ich nahm eine Entscheidungskarte und las.

>> Schmeiss mich weg! Du brauchst mich jetzt nicht mehr. Du hast all deine Figuren zum Teil deiner selbst gemacht, nun sei auch du, du selbst. Schmeiss mich weg und lebe! <<

Und ich ging zur großen Brücke am Rande der Stadt, mit dem Spiel unterm Arm und meiner Figur in der linken Hand.

Ich stellte mich auf das Geländer.
Ich atmete tief ein.
Ich schloss die Augen.
dann atmete ich noch einmal.
Meine Hand lies langsam den großen Kasten los.
Ich hielt ihn noch mit 2 Fingern.
Dann lies ich ihn fallen.
Ich öffnete die Augen und blickte meine Figur an.

"Ich bin nun nicht länger Teil dieses Spieles. Ich lasse nicht mehr mit mir spielen. Ich spiele nicht für andere. Ich werde nicht gespielt. Ich gehe jetzt und spiele endlich mich selber. Ich spiele mich, in meiner Welt. Ohne Entscheidungskarten, Errinnerungskarten, Erfahrungskarten oder Situationskarten. Ab jetzt mische ich meine Karten selber und entscheide, erfahre, errinnere und erlebe für mich und mit mir. Ich bin kein Teil von irgendwas. Alles ist ein Teil von mir. Ich habe kein Schiksal, dem ich folgen muss. Ich kann bestimmen, was passiert. Nur ich!
Ich bin frei! Ich bin voller Glück! Ich bin Ich!
Adieu!"

Mit diesen Worten verabschiedete ich mich von meiner Figur und warf sie raus in die Leere.
Und weg war sie. Ich schaute ihr noch hinterher, als ich hinter mir eine Stimme hörte.

"Sagen Sie bloß, sie wollen sich umbringen?"

"Nicht heute..."

"So?...Naja, bis es soweit ist, mache ich dir einen Vorschlag. Wir geh'n 'nen Kaffee trinken. In der Stadt, ok?"

"Einen Kafee trinken?"

"Ja Kaffee. Dieses schwarze Gesöff, meist heiss serviert, koffeinhaltig. Man trinkt ihn gewöhnlich mit Zucker, Milch oder mit ohne alles. Du musst dich daran errinnern. Du hast das Zeug damals jeden Morgen getrunken. Du kannst gar nicht ohne."

"Ja, ich errinnere mich. Ich hasse Kaffee, aber ich gehe trotzdem mit."

Ich stieg vom Geländer, nahm Lisa in den Arm und schlenderte mit ihr in Richtung Stadt, um im besten Pub der Welt, den besten Kaffee der Welt zu trinken und dabei die besten Gespräche der Welt mit der besten Frau der Welt zu führen.




Ich bin ich.



Ende


Tabasco 2002
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
eine

wirklich sehr schöne geschichte ist dir da gelungen. mit 10 punkten bedacht und in meine sammlung aufgenommen. ganz lieb grüßt
 



 
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