Ein Stück weit Stückwerk

chinaski

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Nur anders werden, das war es, was ich immer schon wollte. Nicht dieser langweiligen und sinnlosen Welt angehören, ein Ziel, das in mir verwurzelt ist, seit ich denken kann.
Als kleiner Junge, schüchtern und, wie andere immer wieder sagten, komisch, sah ich die Menschen und die Dinge, die sie für wichtig hielten, schon damals als für mein Leben unbedeutend. Was sollte daran erfüllend sein, einem Beruf nachzugehen, der einem Zeit stahl, um sich seinen wirklichen Interessen zu widmen? Nehmen wir meinen Vater, ihm blieb nicht einmal Zeit, sich ab und an mit seiner Familie auseinander zu setzen. Er war Produktionshelfer in einem Unternehmen, das Stossstangen herstellte. Oft sagte er zu mir, dass seine Arbeit unsere Zukunft sichere. Die Vorstellung, eine Stossstangenfabrik garantiert mein weiteres Leben, ließ in meinem Kopf ein Bild entstehen, das mich in gewisser Weise demütigte. Ansonsten war mein Vater für mich nur noch als Stuhlbesetzer beim Abendessen wahrzunehmen – er kam von der Arbeit, setzte sich auf seinen braunen Holzstuhl und schlang das Essen in sich hinein. Danach wurde er unsichtbar.
Meine Mutter hingegen war stets in greifbarer Nähe; sie lebte für unseren Haushalt und für die Erziehung ihrer drei Kinder. Es tat mir im Innersten weh, sie jeden Tag so zu sehen, da sie nicht glücklich war, mit dem, was ihr zum Lebensinhalt gemacht wurde. Ich habe sie in all den Jahren nur selten Lachen sehen, jene wenigen Momente, in denen sie mal frei von aller Last und Bedrückung war, haben sich tief in mir festgesetzt. – Es erschien mir, als wenn sie plötzlich ein anderer Mensch wäre. Sie sagte dann manchmal Dinge, die eine spürbare Lebenskraft hatten, wie „Junge, die Welt ist nicht immer einfach, aber wir haben es in der Hand, uns das Leben zu verschönern!“ Diese Augenblicke ihrer wirklichen Stärke zeigten mir, dass das Fügen in Dinge, die wir nicht hundertprozentig wollen, uns auf Dauer schwächen. Trotz der Deutlichkeit ihrer Unzufriedenheit mit ihrem Leben, äußerte sie immer wieder in Gesprächen mit Nachbarn, Verwandten und auch uns, sie empfinde eine Zufriedenheit und Dankbarkeit, die sie nicht missen wollte. Da fragte ich mich, was einen Menschen wohl zu einer solchen Selbstlüge treiben konnte. Jeder sah doch, was sie empfand, das jedenfalls dachte ich damals, bis ich eines Tages feststellte, dass ich der einzige war, der es erkannte.
Mir wurde schlagartig klar, ich lebte in einer Welt voll Blinder, die nur sehen, was sie sehen möchten. Mein Bruder und meine Schwester verfolgten das Ziel, möglichst früh auf eigenen Beinen stehen zu können, um sich eine Wohnung fern ab vom Elternhaus nehmen zu können. Mein Bruder arbeitete zwecks diesem Streben als Briefträger bei der Post und meine Schwester als Kassiererin in einem Supermarkt.
Sie sagten mir mal, dass sie glauben, unsere Eltern seien schon zufrieden, vielleicht nicht glücklich, aber wer sei das schon. Als ich ihnen sagte, dass ich das bezweifle, belächelten sie mich und sagten, dass ich eben noch jung und naiv sei. Das wäre auch gut so, aber die Realität sähe eben anders aus, was ich jedoch noch früh genug erfahren würde. Diese Art der Unterhaltung mit meinen Geschwistern waren mir zuwider, da sie dann so taten, als wenn ihnen durch die paar Jahre Altersunterschied der Bart der Weisheit gewachsen war. Ich blieb die meiste Zeit stumm nach außen, doch innerlich wuchs die Vorstellung von einem völlig anderen Leben, das nichts, aber auch gar nichts, mit der Welt, wie ich sie kannte, zu tun haben sollte. – Fünf lange Jahre spielte ich noch im Ensemble der Familie meinen unglücklichen Part des leidenden Erkennenden, ehe ich mich entschloss die Vorbereitungen für den endgültigen Abschied zu treffen.

Mir war bewusst, dass ich dazu etwas opfern musste, den Wunsch, niemals einer Arbeit nachgehen zu wollen, die mich nicht zufrieden stellt. Ich begann damit eine Arbeitstelle zu suchen; ich blätterte tagelang die Zeitungen durch, hielt auch ansonsten überall Ausschau. Doch der erste Schritt in Richtung Neue Welt entpuppte sich als schwieriges Unterfangen. Erst nach drei Wochen intensivster Bemühungen gelang es mir, einen Job als Hilfsarbeiter in einer Friedhofsgärtnerei zu finden.
Das frühe Aufstehen, die harte Arbeit und die einfachen Menschen behagten mir nicht, aber ich hielt mich fest an dem Gedanken, dass es nur für kurze Zeit war. Es hielt mich über Wasser und ich arbeitete vier Monate, ehe ich meinen Eltern mitteilte, dass ich nun ausziehen würde. – Meine Mutter lachte und schien glücklich, mein Vater war nicht da.
Ich zog in einen Stadtteil, der äußerlich keine Ähnlichkeit mit der elterlichen Wohngegend hatte. Das bezahlte ich auch teuer mit der Hälfte meines Lohns, jedoch war es mir das wert, da ich jegliche Erinnerung an das bisherige Leben abstoßen wollte. Ich fühlte mich befreit, als ich am ersten Abend in meiner fast leeren Wohnung saß, denn für die Einrichtung hatte ich noch nicht genug Geld. Lediglich eine Spüle, Kühlschrank, Herd und das alte Bett von zu Hause standen dort. Dennoch wähnte ich mich der alten Lebensweise und Gewohnheiten entkommen. – So vergingen sechs, acht und zehn Wochen, bis ich eines Abends auf meinem Bett lag und das Gefühl verspürte, nun müsse es doch weiter gehen. Denn in dieser ganzen Zeit arbeitete ich von Montags bis Samstags und schlief Sonntags . Geradezu göttlich war mein Schaffen, nur das ich nicht das tat, was ich tun wollte. Schon seit ich mich erinnern kann, war ich am glücklichsten, wenn ich mit dem Pinsel oder einem Stift im Einklang war. Ich hatte in meinem Schrank mehr Bilder von mir als Kleidung und ich konnte einfach nicht damit aufhören. Doch seit ich Anfing zu arbeiten, war es kaum noch möglich gewesen dieser Leidenschaft nachzugehen. Ich überlegte mir, was nun der nächste Schritt in meinem Plan, ein anderes Leben zu führen, sein musste. Ich kam nach einigem hin und her zu dem Ergebnis, dass ich mir anderntags eine komplette Ausrüstung zulegen würde, die ich mir immer wünschte, jedoch nie leisten konnte.
Von meinem Willen beseelt, mein neues Leben zu erschaffen, ging ich von 6:30 Uhr bis 17 Uhr auf dem Friedhof arbeiten, um dann zu Hause nach einer kurzen Dusche und einem mageren Essen, mich an die Stafette zu setzen und mit der letzten Energie zu malen. Meine bevorzugten Motive waren im Anfang mein Kühlschrank, mein Bett und das wenige, was in meiner Wohnung zu finden war.
Ab und an versuchte ich auch etwas aus meiner Erinnerung zu malen, doch bemerkte ich dabei ein mich abstoßendes Gefühl, da es mich an mein altes Leben erinnerte. Und in meinem neuen Leben gab es noch nicht so viele Erinnerungen. – Es waren lediglich die an meinen Arbeitsort, dem Friedhof, dessen Bilder ich im Kopf hatte. Also dachte ich mir, dass ich eben zur Übung meiner künstlerischen Fähigkeiten ganz einfach diese Bilder verwenden würde, auch wenn sie nicht meiner Vorstellung von einem idealen Motiv entsprachen. Merkwürdigerweise stieß mich das Malen von Gräbern weniger ab als die Motive aus meinem alten Leben. Selbst meine Mutter war ich außer Stande zu malen, ohne dabei ein gewisses Unbehagen zu spüren. So malte ich eine ganze Zeit lang jeden Zentimeter des Friedhofs, auf dem ich Tag für Tag arbeitete.

Nach ungefähr drei Monaten hatte sich eine stolze Sammlung gemalter Bilder angehäuft, von denen allerdings rund die Hälfte schon durch meine Zensur fielen. Ich lebte nun schon 6 Monate nicht mehr zu Hause und es kam der Tag, an dem ich ein erstes Resümee zog. Ich fragte mich, ob mein Leben nun so sei, wie ich es mir vorstellte und ich musste es verneinen. Immer noch arbeitete ich in der Gärtnerei, an die ich mich nicht wirklich gewöhnen konnte. – Sicher, der Friedhof gefiel mir, weil er mir Motive in tausendfacher Weise lieferte. Ganz besondere Motive, wie ich immer mehr feststellen konnte. Die Grabsteine erzählten Geschichten von Menschen aus sehr verschiedenen Zeiten, die Besucher zeigten Trauer oder lächelten an Gräbern in Erinnerung versunken und die Pflanzen wuchsen in schönsten Farben. – Ja, man kann sagen, der Ort des Vergangenen wuchs mir ans Herz, jedoch nicht die Arbeit, die ich zu verrichten hatte.
Ich dachte darüber nach, ob ich meinem Ziel denn überhaupt näher gekommen war. Ich senkte den Kopf und grübelte angestrengt.
Ich sah mit einem Mal, dass ich gar nichts erreicht hatte. Ich war wie mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester und all die anderen normalen Menschen; ein Arbeiter, der Abends seinem Steckenpferd nachging. Für meinen Vater war es der Fernseher, für meinen Bruder die Kumpels, für meine Mutter das Lesen, für meine Schwester das Probleme wälzen und für mich eben das Malen. Ich verfiel in eine traurige Stimmung, sah auf und erblickte meine Bilder und die Stafette. Langsam kam Zorn in mir auf und ich spürte eine Angst, doch unvermeidbar so werden zu müssen wie alle anderen. Ich sprang auf und trat die Stafette um. Ich wollte raus, die frische Luft einatmen und einfach nur rennen. Ich rannte die Strasse hinunter bis zur Kreuzung und lief immer weiter, ohne nachzudenken, wo ich hin will. Nach einer viertel Stunde musste ich außer Atem stehen bleiben und beugte mich nach Vorne, die Arme auf die Knie gestützt. Als ich aufschaute, erkannte ich, dass ich in einem anderen Stadtteil angelangt war; in dem, wo ich aufgewachsen bin. Ich konnte nur wenige hundert Meter von meinem einstigen zu Hause entfernt sein. Ich richtete mich auf und schaute mich weiter um. Was ich sah, bedrückte mich, da ich mich wieder am Ausgangspunkt stehen sah. >>Bin ich überhaupt jemals vorwärts gekommen?<< , schoss es mir in durch den Kopf Durcheinander drehte ich mich um und lief zurück. Ich weiß nicht, ob es derselbe Weg war, welcher mich hier her geführt hatte, doch erblickte ich jetzt einem Trödelmarkt. Flüchtig schaute ich auf die Sachen, die angeboten wurden. An einem Stand blieb ich stehen und verharrte in meinem Blick auf etwas, das mich wieder hoffen ließ. Ich betrachtete ein altes Bild, das einen Hirsch in einer Waldlichtung zeigte. In mir wuchs eine Idee, die mich schnell nach Hause trieb.
Trödelmärkte waren keine Seltenheit, konnte ich während meiner Recherche feststellen, aber da ich nur Sonntags Zeit hatte, suchte ich nur nach solchen, die an diesem Tag stattfanden. Ich fuhr dorthin, um meine Bilder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Überlegt arrangiert stellte ich meine Bilder auf, vor allem die vom Friedhof, da sie mir am gelungensten erschienen. Den Preis hielt ich gering, da es mir darauf ankam zu sehen, ob meine Werke den Menschen gefallen würden. Aber nach zwei Monaten erkannte ich, dass der Trödelmarkt nicht unbedingt der Ort war, an denen sich Freunde der Malerei aufhielten. Nur wenige schienen sich für diese Kunst wirklich zu interessieren, weswegen ich nur zwei oder drei Mal in den Genuss kam, mich über meine Bilder fachlich zu unterhalten. Ich verkaufte dabei auch einige Bilder. Trotzdem war der Aufwand im Vergleich zum Ergebnis untragbar. Nach tagelangem Nachdenken gab ich die Sache mit dem Trödelmarkt auf und begrub mich in Resignation. Ich ging weiter arbeiten, malte aber Abends keinen Strich mehr. Einige Wochen verstrichen und es wurde mir in meiner nun freien Zeit langweilig. Ich entschloss mich einen Fernseher zu kaufen und ging sogar ab und an in Kneipen, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich hatte nicht viel Gefallen daran, aber ich tat es. Eines Abends lernte ich so auch Nadja kennen. Wir gingen ein paar Mal aus und verbrachten immer mehr Zeit miteinander. Bis sie mich fragte, ob wir nicht zusammen ziehen sollten. Ich bejahte dies und sie zog bei mir ein. Alles in meiner Wohnung veränderte sich rasch. Während ich arbeiten ging, richtete sie die Wohnung ein. Sie hatte Zeit, da sie gerade gekündigt wurde, und war glücklich eine solche Aufgabe zu haben. Ich ging arbeiten und kam nach Hause, setzte mich an den Tisch, aß und schaute zusammen mit Nadja Fernsehen. Ich fühlte mich leer, da mir bewusst war, dass ich nun vollends so lebte, wie die meisten anderen auch. – >>Nein, es war nicht alles schlecht an meinem Leben<<, sagte ich zu mir und fühlte mich an meine Mutter erinnert. Belog ich mich gerade selbst? Ich weiß es nicht, aber ich wusste, dass mir meine Träume fehlten.
Eines Abends saß ich auf meinem Sofa, das mich an mich selbst erinnerte, da es ebenso farblos war und wartete auf Nadja, um gleich fern zu sehen. Was konnte ich sagen? Ich war zufrieden und gleichzeitig unglücklich über die Dinge, wie sie verlaufen waren. Das sollte von nun an mein Leben sein?
Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken - >>Tommi??!<<
>>Ja, Schatz?<<
>>Telefon für dich. Ein Herr Beger.<<
Beger??! – Der Name sagte mir rein gar nichts. Ich hoffte, dass es nicht wieder einer dieser Banker war, der mir eine günstige Geldanlage aufschwätzen wollte.
>>Ich komme.<<
Ich lief zum Telefon und nahm den Hörer auf.
>>Ja, Hallo?<<
>>Beger, mein Name. Entschuldigen Sie die Störung. Aber ich hätte was mit Ihnen zu besprechen. Es wird Sie interessieren!“>>Oh nein!<<, dachte ich mir. Ich hatte recht gehabt.
>>Hören Sie Herr Beger, ich hab gerade kein Interesse.<<
>>Sie wissen doch noch gar nicht, was ich ihnen anbieten möchte?!<<
>>Gut, sagen Sie es mir.<<
>>Ich habe vor gut 7 Monaten ein Bild von Ihnen auf dem Trödelmarkt gekauft. Wir hatten uns ein wenig unterhalten. Erinnern Sie sich?<<
>>Nun ja. Das ist lange her. Stimmt was nicht?<<
>>Doch, doch! Ich bin Inhaber einer Galerie und mir haben Ihre Motive gefallen. Der Friedhof, die Gräber, der Ausdruck der Menschen. Ich wollte Sie fragen, ob Sie im Besitz mehrerer Bilder dieser Art sind.<<
>>Wie bitte?!?
>>Ich fragte, ob sie..<<
>>Jaja, das habe ich verstanden. Aber wieso wollen Sie das wissen?<<
>>Es gibt einige Interessenten, die Bilder von Ihnen erwerben wollen. Und dies nahm ich nun, da ein Teil meiner Galerie noch ohne eine neue Ausstellung ist, als Anlass Sie einmal anzurufen. Können Sie mir noch einige Bilder zur Verfügung stellen?<<
Mein Innerstes war längst in einem Chaos versunken, während mein Verstand die Bedeutung dieses Gesprächs noch gar nicht verstehen konnte.
>>Sicher, ich habe noch rund 30 Bilder dieser Art und ich könnte noch me...<<
>> 30 Bilder sollten vorerst reichen, da nur ein kleiner Teil meiner Galerie zur Zeit frei ist.<<
>>Selbstverständlich. Wollen Sie die Bilder vorher sehen? Ich bringe sie Ihnen gleich Morgen vorbei.<<
>> Bringen?!? Nein, nein, ich lasse sie in den nächsten Tagen von jemanden abholen. Wir müssten uns nur wegen der Formalitäten in der nächsten Woche einmal treffen.<<
>>In Ordnung, Herr Beger. Ich freue mich.., wirklich, also.. das ist das Verrückteste..<<
>> Kann ich mir vorstellen. Nehmen Sie es nicht so schwer.<<, lachte er in den Hörer und verabschiedete sich dann von mir.
Ich legte bedächtig den Hörer auf und ging zum Sofa zurück. Nadja verfolgte bereits eine Quizshow. Ich nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.
>>Was ist passiert? Du bist kreidebleich. Doch nichts Schlimmes?<<
Ich schaute sie an, schüttelte den Kopf und sagte:
>>Nein, nichts Schlimmes.<<
In dieser Nacht lag ich lange wach; ich hatte das Bewusstsein neben der schönsten Frau zu liegen und das wunderbarste Leben vor mir zu haben, so wie ich es mir immer schon ausgemalt hatte. Das Empfinden, das in mir war, ließ plötzlich das Gute um mich herum für mich sichtbar werden. Ich war erfüllt von Dingen, die ich nur aus meiner Fantasie kannte. Ich überlegte, wie merkwürdig es doch ist, dass alles nun so anders war, besser, obwohl sich doch nicht so viel verändert hatte. - Es wurden doch nur ein paar Bilder von mir ausgestellt. - Mir wurde klar, wie unbedeutsam es schien und wie bedeutsam es doch für mich war. Ich schloss die Augen und schlief mit dem Wissen ein, das Morgen der erste Tag eines anderen Lebens anbrechen würde.
 



 
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