Um sieben Uhr, nur ein kurzes Nickerchen nach dem bereits vertrauten Morgengebet in der Jerusalemer Altstadt machte ich mich auf den Weg. Mit Kamera und Wasser, einigen Keksen und Geld wollte ich in die gesperrte palästinensische Zone, die bis auf das Kerngebiet um Jericho geschrumpft war. Ich war froh, endlich einmal meinen „Trapperidealen“ (‘einsam durch die Öde streifen’) nachkommen zu können. Zunächst musste ich einige Kilometer motorisiert zurücklegen. Am Busbahnhof wurde mir gesagt, durch die Sperrung führe schon länger kein Linienbus mehr in die Gegend. Meine Hoffnungen die älteste Stadt der Welt zu sehen schrumpften jedoch erst radikal, als mir an den Treppen zum Damaskus Tor die Scheruttaxifahrer sagten, dass es in Jericho kein raus- noch reinkommen gab.
Trotzdem wollte ich es versuchen. Geld sollte heute keine Rolle spielen (Mira war ja nicht dabei).Endlich konnte ich einen Fahrer überzeugen mich nach Vadi Qelt, einem kleinen Naturreservat in der Nähe der alten Ruinen (ca. 6 km querfeldein), zu bringen. Nach einer guten halben Stunde nicht wenig beeindruckender Fahrt, vorbei an Schluchten und Geröllmassen, war ich dort. Der Taxifahrer verschwand in seinem alten Auto, eingehüllt in eine Staubwolke. Trotz der räumlichen Nähe zu Jerusalem war hier ein ganz anderes Klima (Jerusalem liegt auf 830 Meter über dem Meeresspiegel; Jericho im weiten Kessel des Toten Meeres bei 250 Metern unter Normalnull). Es war kein Mensch weit und breit zu sehen. Die Kasse vor dem Park war nicht besetzt, so entschloss ich mich für einen kleinen Besuch. In einem natürlichen Bassin unterhalb eines Wasserfalls fühlte ich mich wie in einer gigantischen Badewanne mit Wasserstrahlmassage. Wer noch nie in einem Wasserfall gebadet hat, wird begeistert sein (doch es gibt beeindruckendere „natürliche Whirlpools“). Mir gefiel besonders die Ruhe, die meine Nerven ebenso intensiv massierte, wie das stürzende Wasser meinen Rücken.
Nach einer zeitlosen Pause machte ich mich auf den Fußweg zum Hisham’s Place oder Khirbet al-Mafjar wie die Araber zur spätrömischen „Jagdresidenz“ aus dem 5. bis 6. Jahrhundert sagen. Ich freute mich auf die beeindruckenden Mosaiken der Jiftlik-Road-Synagogenruine und in unmittelbarer Nähe davon auf die Ruinen des alten Jericho. Mein Weg führte durch ein Vadi, vorbei an einem Aquädukt für das nahe St. George Kloster, das in den senkrechten Fels der Vadischlucht gehauen wurde.
Irgendwann in der hochstehenden Sonne traf ich in der ockertonlastigen Umgebung auf eng ausgelegten Natodraht (das ist der Stacheldraht, der statt Spitzen Rasierklingen hat). Einige Meter dahinter zog sich eine weitere Drahtrolle dem Horizont entgegen. Wie zwei riesige schlangenartige Reptilien blitzten ihre Körper in der Sonne.
Ich entschied mich für eine Richtung und hoffte, bald auf Soldaten zu treffen, die mir mehr sagen konnten. (Hier sei schon einmal angemerkt, dass ich die Situation völlig unterschätzt und „vereuropäisiert“ habe. Für mich war es nur ein knisterndes Spiel - noch.)
Nach einer Weile sah ich einen Jeep, der mit einem großen Maschinengewehr ausgestattet war zwischen den Drahtlinien stehen. Im Näherkommen konnte ich zwei gelangweilte Soldaten erkennen, die sich im Schatten des Autos lümmelten. Tatsächlich war dort ein Durchgang. Eine auf beiden Seiten nur mit Holzböcken versperrte Straße ließ mich hoffen. So wie der Sandmann den Schlaf bringt, brachte ich den Soldaten den Wachzustand wieder. Je dichter ich kam, desto reger wurden sie. Sie hängten sich ihre Uzis um und redeten miteinander. Endlich kam ich an die Holzböcke, wo mich die Beiden schon mit nicht sonderlich froher Mine erwarteten. Sie ließen einige laute Sätze auf mich niederprasseln, die ich nicht einmal im Ansatz verstand. „Hi, I am an English tourist!“ log ich, um den ersten Bann zu brechen. (Ich vermied es, mich in dieser Situation als Deutscher auszugeben, um meine Chancen auf den Besuch der Kulturstätten nicht zu erschweren. Ich versprach mir in diesem Fall einen Vorteil davon, ansonsten, schien es mir, sind die einzigen Leute in Israel, die ein Problem mit der Nazivergangenheit haben die Deutschen selber, was immer am entschuldigenden Unterton zu erkennen ist.)
Schweres Misstrauen ließ sie einige Momente schweigen. In dem nun aufkommenden Gespräch entwickelte sich eine gewisse gegenseitige Sympathie. Wir scherzten und lachten. Sie redeten über Israel und ich über meinen Wunsch. Nach einer kurzen Besprechung gaben sie mir ihr o.k. für eine dreistündige Exkursion. Ich sollte nicht in die Stadt gehen, was ohnehin ein großer Umweg gewesen wäre (zumal es dort nicht viel zu sehen gibt) und sollte Kontakt zu anderen vermeiden, mich aber auch nicht verstecken. So gelangte ich in das gesperrte Gebiet und fühlte mich wie der „Adventurekönig“. Ich kramte meinen Marschkompass hervor und peilte meine grobe Richtung an. Über die Kimme suchte ich mir einen Fixpunkt am Horizont und stiefelte los. (Natürlich hätte ich keinen Kompass gebraucht, das gehört aber einfach dazu!)
Nach etwa einer Stunde war ich schon am Ziel. Im Schnelldurchlauf schritt ich durch die Zeiten zurück, bis ich im biblischen Jericho angelangt war. Hier wurden die Trompeten geblasen, die die Stadtmauer einstürzen ließen. Hier war die älteste Stadt der Welt und ich war mitten in ihr. (Mich als Archäologen bewegt so was!) Nach einigen andächtigen Minuten tiefster „In-mich-Gekehrtheit“ trat ich meinen Rückweg an. (Wie viel mehr von der Aura kann man spüren, wenn man alleine solche großen Orte aufsucht? Die eigene Schwingung kann sich ganz mit der Energie der Umgebung verbinden, ein echtes Gefühl der Größe.)
Die Sonne hatte schon längst Süden überschritten und warf mich als Schatten auf das Geröll. Irgendwann kam ich an den Natodrahtzaun und folgte ihm - dieses mal auf der anderen Seite in die andere Richtung. Der Jeep tauchte am Horizont auf und wurde mit jedem Schritt größer. Mir schwirrte der Satz von Einstein (oder war es Gauß?) durch den Kopf, der auf einer Bahnreise den Schaffer fragte, wann Bern an ihnen vorbei käme. Wieder standen die Soldaten auf, als ich mich auf etwa dreihundert Meter genähert hatte. Wieder hängten sie sich ihre Uzis um. Diesmal gingen sie mir ein Stück entgegen. Von weitem hörte ich sie rufen, ich winkte ihnen zu. Der eine Soldat nahm seine Uzi ab, fummelte am Gewehr herum und schoss in die Luft. Ich blieb erschreckt stehen. Der Schuss hallte in den Schluchten wider. Ein einziger Schuss. Was hatte der zu bedeuten? Ein Spaß? Ein Versehen? Oder was war eigentlich los?
Ich beschloss weiter in die Richtung der Soldaten zu gehen. Erst zögerlich, dann etwas fester. Ihr nächstes Rufen hörte sich nicht freundlich an, ich ging wieder etwas langsamer. Es waren immer noch hundertfünfzig Meter zwischen uns. Die Gesichter blieben unklar.
Dann nahm der eine seine Waffe in die Taille und gab einen weiteren Schuss ab. Die Kugel pfiff ein paar Meter an mir vorbei, erst einen verzögerten Moment später hörte ich den Schuss. Wieder blieb ich stehen, diesmal erstarrt. Dafür flossen meine Gedanken umso schneller. Was war jetzt das? Ein israelischer, derber Scherz? Oder wollten die Soldaten irgendeine Macht demonstrieren?
In diesem Moment pfiffen weitere Projektile dicht an mir vorbei, eingeholt von einer donnernden Salve aus der Uzi. Auch wenn ich etliche „Coolnispunkte“ verlieren würde, schien es mir am Sinnvollsten mich auf den Boden zu werfen, was die Soldaten scheinbar als Angebot ansahen näher zu kommen. Mit vorgehaltener Waffe pirschten sie sich näher. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles für mich ein großes Abenteuerspiel, doch dann sah ich ihre Gesichter. Es waren nicht ihre versteinerten Minen, die mir die Todesangstendorphine in alle Poren schießen ließ, sondern es waren die Gesichter selbst, denn ich hatte diese noch nie vorher gesehen. In dem Moment wurde mir klar, dass ich für diese Soldaten ein palästinensischer Terrorist war, bei dem es sich allemal gelohnt hätte ihn schon eher zu erschießen. Ganz langsam streckte ich meine Arme so weit vom Körper weg, wie es ging. Ich lag dort im Geröll wie damals, wenn beim Cowboy- und Indianerspiel einer „totgeschossen“ wurde. Ich lag dort im Dreck, so wie Jesus am Kreuz hing, was für eine schöne Geste in diesem Land, nicht wahr.
Jetzt erreichten sie mich. Ich hatte mir immer ausgemalt nach einem Standgericht irgendwelcher Guerillas vor dem Erschießen gefragt zu werden: „Haben sie noch einen letzten Wunsch?“ um dann zu sagen: „Ja, lassen sie die Augenbinde weg, hä, hä!“ Jetzt war ich in einer solchen Situation und das einzige, was ich machte, war meine Augen zu schließen und mein Gesicht in den Dreck zu legen.
Während sie mich beschimpften stupsten sie mich hart mit ihren Gewahrläufen. Was sollte ich tun? Sollte ich schweigen oder sollte ich mich als Ausländer zu erkennen geben. Die Spannung war schon fast überreizt. Ein englischer Satz konnte Erstaunen und Rehabilitierung bedeuten oder den Exitus (als Überläufer oder so). Nach weiteren harten Stupsen, die wohl endlich meine Zunge lockern sollten entschied ich mich zum „Outen“ (ja, auch ich habe mich schon „geoutet“). „I am just a tourist.“ (Ein Land ließ ich jetzt besser weg.) Tatsächlich hörte augenblicklich das Stechen auf. „O.K. Get up!“ brüllte einer der Soldaten. Gott sei Dank verstanden sie Englisch (ihre Schulbildung rette vielleicht mein Leben). Ich zog die Arme an den Körper und richtete mich auf die Knie. Nun sah ich das erste Mal den Soldaten in die Augen. Neben der leichten Verwirrung konnte ich nur Hass erkennen. Ein Lauf zeigte in mein Gesicht, der andere war von mir abgewandt, doch nur damit mich der Griff hart am Kopf treffen konnte. Leider wurde ich nicht ohnmächtig wie in den Actionfilmen immer zu sehen ist, was wohl auch den Soldaten kurz verwunderte. Neben dem lauten Krachen am Kopf begannen meine Ohren augenblicklich zu pfeifen. Ich taumelte, konnte mein Gleichgewicht aber halten, ab jetzt sah ich alles nur noch als ein Außenstehender. Die Geräusche waren wie durch Watte gedämpft, die Sicht ähnelte der, eines umgedrehten Fernrohrs. Mein warmes Blut floss mir über mein rechtes Ohr auf die Schulter und den Rücken hinab. Der Soldat überlegte, ob er noch einmal zuschlagen sollte, doch entschied sich dagegen. Ich wurde hochgerissen und zum Jeep geführt. Lethargisch setzte ich ein Bein vor das andere. Sie durchwühlten meinen Rucksack und meinen Brustbeutel, aus dem sie sich meinen Reisepass nahmen, jedoch nicht das Geld. Lange unterhielten sie sich angeregt über meinen Pass. Sie sahen sich meine Visa und Stempel an, verglichen das Foto mit dem, was von mir übrig geblieben war. Endlich verlor ich für einen Augenblick die Besinnung.
Mein letztes Wasser aus der Flasche kühlte meinen Kopf. Merkwürdiger Weise war ich plötzlich wieder voll da. Ich war wieder ich. Die Waffenläufe blickten mich stechend an. Der Ton der Soldaten war weiterhin aggressiv. Immer und immer wieder wurden mir die gleichen Fragen gestellt, die ich ruhig beantwortete. Nach dem Schlag hatte es scheinbar die Hypophyse aufgegeben, weiter Hormone auszustoßen, so blickte ich dem, was kommen mochte recht gelassen ins Antlitz. Nur einmal keimte ein neuer Schub hysterischer Angst auf, als ich eine Frage (die zum zwanzigsten Mal gestellt wurde) etwas patzig beantwortete. Der kleinere Soldat entsicherte seine Uzi direkt vor meinem Gesicht und schoss, noch während er die kleine Maschinenpistole von mir wegdrehte direkt neben mir in den Sand. Schon schwenkte er wieder zurück und brüllte wirklich kreischend auf mich ein. Erst sein Kollege konnte ihn etwas beruhigen. In keiner Situation sah ich mich dem Tod so nah, wie da. Ich konnte förmlich das unendliche Schwarz schon anfassen, ich sah von irgendwo den kleinen Zeitungsartikel: Tourist von Unbekannten erschossen - nichts weiter; und ich wäre tot gewesen, einfach so, weil es solch ein nettes Abenteuer war.
Dann ging alles schnell. Sie nahmen sich mein Geld aus dem Brustbeutel (was nicht besonders viel war) und behielten, als bleibende Erinnerung sozusagen, mein Taschenmesser und meinen Kompass. Als letzte Empfehlung gaben sie mir den Tipp: „Run!“ den ich auch beherzigte. Ich spürte, wie ihre Gewehrläufe auf meinen Rücken zielten. Endlich hatten die Todesangstendorphine vollen Einsatz. Ich rannte und rannte und versuchte mir nicht auszumalen was für einen Grund die Soldaten hatten mich nicht zu erschießen. Es war eine unendlich lange Gerade, die ich überwinden musste, bis ich aus ihrem Schussfeld war. Langsam wurde mir bewusst, dass ich es geschafft hatte. Ich hatte überlebt.
Trotzdem rannten meine Beine weiter. Langsam stieg ohnmächtige Angst in mir auf. Meine Beine begannen zu zittern und versagten ihren Dienst. Irgendwo, schon kurz vor meinem Ausgangspunkt Vadi Qelt brach ich zusammen. Mein ganzer Körper zuckte und ich musste mich explosiv übergeben, hatte dabei eine Wein-Kolik. Die Angst musste aus dem Körper, so schnell wie möglich. Nach einiger Zeit fiel ich vor völliger Erschöpfung in eine Art Ohnmachtschlaf. Es war wohl keine Stunde vergangen, bis mein Körper wieder etwas Kraft getankt hatte und mich aufwachen ließ. Der Abend hatte bereits die Überhand, doch noch war es wohl zwei Stunden hell. Ich schleppte mich bis nach Qelt, wusch mir das Blut und den Schweiß von Körper und Kleidung und entschied mich dafür noch an diesem Abend irgendwie nach Jerusalem zurückzukommen. Ich konnte keinen Augenblick länger in dieser (mir scheinbar) unsicheren Einsamkeit verweilen. Ich musste unter Leuten sein, ich musste meine Geschichte erzählen - wieder und wieder, um den Stress abzubauen. Ich brauchte die entsetzten Stimmen und die, die darüber blöde Sprüche wagten. Also wankte ich Richtung Jerusalem. Noch nie hatte ich solches Heimweh, ich sah unsere Reise schon frühzeitig enden; ich musste nach Jerusalem. Tatsächlich hatte nach einiger Zeit eine höhere Macht ein Einsehen mit mir und schickte mir einen unglaublich netten Juden, der mich bis zum Damaskus Tor brachte. Mit Tausenden Danksagungen verabschiedete ich mich und schob mich durch die Menschenmenge des späten Basars zum Hostel zurück. Nach einer ordentlichen Dusche, einem kleinen Falaffel und einem Bier begann ich meine Erzählung anderen Hostelbewohnern zu erzählen, die mich noch sehr mitnahm. Irgendwann fiel ich in einen traumlosen Schlaf, der bis zum nächsten Mittag dauerte.
Schon am nächsten Tag erinnerte nur noch eine große Beule an den Vorfall. Natürlich wollte ich nicht mehr früher nach Hause. Es war fast alles wieder in Ordnung. Ein wenig mehr Respekt vor Uzis und Grenzen ist geblieben, genauso, wie einige schweißgebadete Alpträume bis zum heutigen Tag.
Trotzdem wollte ich es versuchen. Geld sollte heute keine Rolle spielen (Mira war ja nicht dabei).Endlich konnte ich einen Fahrer überzeugen mich nach Vadi Qelt, einem kleinen Naturreservat in der Nähe der alten Ruinen (ca. 6 km querfeldein), zu bringen. Nach einer guten halben Stunde nicht wenig beeindruckender Fahrt, vorbei an Schluchten und Geröllmassen, war ich dort. Der Taxifahrer verschwand in seinem alten Auto, eingehüllt in eine Staubwolke. Trotz der räumlichen Nähe zu Jerusalem war hier ein ganz anderes Klima (Jerusalem liegt auf 830 Meter über dem Meeresspiegel; Jericho im weiten Kessel des Toten Meeres bei 250 Metern unter Normalnull). Es war kein Mensch weit und breit zu sehen. Die Kasse vor dem Park war nicht besetzt, so entschloss ich mich für einen kleinen Besuch. In einem natürlichen Bassin unterhalb eines Wasserfalls fühlte ich mich wie in einer gigantischen Badewanne mit Wasserstrahlmassage. Wer noch nie in einem Wasserfall gebadet hat, wird begeistert sein (doch es gibt beeindruckendere „natürliche Whirlpools“). Mir gefiel besonders die Ruhe, die meine Nerven ebenso intensiv massierte, wie das stürzende Wasser meinen Rücken.
Nach einer zeitlosen Pause machte ich mich auf den Fußweg zum Hisham’s Place oder Khirbet al-Mafjar wie die Araber zur spätrömischen „Jagdresidenz“ aus dem 5. bis 6. Jahrhundert sagen. Ich freute mich auf die beeindruckenden Mosaiken der Jiftlik-Road-Synagogenruine und in unmittelbarer Nähe davon auf die Ruinen des alten Jericho. Mein Weg führte durch ein Vadi, vorbei an einem Aquädukt für das nahe St. George Kloster, das in den senkrechten Fels der Vadischlucht gehauen wurde.
Irgendwann in der hochstehenden Sonne traf ich in der ockertonlastigen Umgebung auf eng ausgelegten Natodraht (das ist der Stacheldraht, der statt Spitzen Rasierklingen hat). Einige Meter dahinter zog sich eine weitere Drahtrolle dem Horizont entgegen. Wie zwei riesige schlangenartige Reptilien blitzten ihre Körper in der Sonne.
Ich entschied mich für eine Richtung und hoffte, bald auf Soldaten zu treffen, die mir mehr sagen konnten. (Hier sei schon einmal angemerkt, dass ich die Situation völlig unterschätzt und „vereuropäisiert“ habe. Für mich war es nur ein knisterndes Spiel - noch.)
Nach einer Weile sah ich einen Jeep, der mit einem großen Maschinengewehr ausgestattet war zwischen den Drahtlinien stehen. Im Näherkommen konnte ich zwei gelangweilte Soldaten erkennen, die sich im Schatten des Autos lümmelten. Tatsächlich war dort ein Durchgang. Eine auf beiden Seiten nur mit Holzböcken versperrte Straße ließ mich hoffen. So wie der Sandmann den Schlaf bringt, brachte ich den Soldaten den Wachzustand wieder. Je dichter ich kam, desto reger wurden sie. Sie hängten sich ihre Uzis um und redeten miteinander. Endlich kam ich an die Holzböcke, wo mich die Beiden schon mit nicht sonderlich froher Mine erwarteten. Sie ließen einige laute Sätze auf mich niederprasseln, die ich nicht einmal im Ansatz verstand. „Hi, I am an English tourist!“ log ich, um den ersten Bann zu brechen. (Ich vermied es, mich in dieser Situation als Deutscher auszugeben, um meine Chancen auf den Besuch der Kulturstätten nicht zu erschweren. Ich versprach mir in diesem Fall einen Vorteil davon, ansonsten, schien es mir, sind die einzigen Leute in Israel, die ein Problem mit der Nazivergangenheit haben die Deutschen selber, was immer am entschuldigenden Unterton zu erkennen ist.)
Schweres Misstrauen ließ sie einige Momente schweigen. In dem nun aufkommenden Gespräch entwickelte sich eine gewisse gegenseitige Sympathie. Wir scherzten und lachten. Sie redeten über Israel und ich über meinen Wunsch. Nach einer kurzen Besprechung gaben sie mir ihr o.k. für eine dreistündige Exkursion. Ich sollte nicht in die Stadt gehen, was ohnehin ein großer Umweg gewesen wäre (zumal es dort nicht viel zu sehen gibt) und sollte Kontakt zu anderen vermeiden, mich aber auch nicht verstecken. So gelangte ich in das gesperrte Gebiet und fühlte mich wie der „Adventurekönig“. Ich kramte meinen Marschkompass hervor und peilte meine grobe Richtung an. Über die Kimme suchte ich mir einen Fixpunkt am Horizont und stiefelte los. (Natürlich hätte ich keinen Kompass gebraucht, das gehört aber einfach dazu!)
Nach etwa einer Stunde war ich schon am Ziel. Im Schnelldurchlauf schritt ich durch die Zeiten zurück, bis ich im biblischen Jericho angelangt war. Hier wurden die Trompeten geblasen, die die Stadtmauer einstürzen ließen. Hier war die älteste Stadt der Welt und ich war mitten in ihr. (Mich als Archäologen bewegt so was!) Nach einigen andächtigen Minuten tiefster „In-mich-Gekehrtheit“ trat ich meinen Rückweg an. (Wie viel mehr von der Aura kann man spüren, wenn man alleine solche großen Orte aufsucht? Die eigene Schwingung kann sich ganz mit der Energie der Umgebung verbinden, ein echtes Gefühl der Größe.)
Die Sonne hatte schon längst Süden überschritten und warf mich als Schatten auf das Geröll. Irgendwann kam ich an den Natodrahtzaun und folgte ihm - dieses mal auf der anderen Seite in die andere Richtung. Der Jeep tauchte am Horizont auf und wurde mit jedem Schritt größer. Mir schwirrte der Satz von Einstein (oder war es Gauß?) durch den Kopf, der auf einer Bahnreise den Schaffer fragte, wann Bern an ihnen vorbei käme. Wieder standen die Soldaten auf, als ich mich auf etwa dreihundert Meter genähert hatte. Wieder hängten sie sich ihre Uzis um. Diesmal gingen sie mir ein Stück entgegen. Von weitem hörte ich sie rufen, ich winkte ihnen zu. Der eine Soldat nahm seine Uzi ab, fummelte am Gewehr herum und schoss in die Luft. Ich blieb erschreckt stehen. Der Schuss hallte in den Schluchten wider. Ein einziger Schuss. Was hatte der zu bedeuten? Ein Spaß? Ein Versehen? Oder was war eigentlich los?
Ich beschloss weiter in die Richtung der Soldaten zu gehen. Erst zögerlich, dann etwas fester. Ihr nächstes Rufen hörte sich nicht freundlich an, ich ging wieder etwas langsamer. Es waren immer noch hundertfünfzig Meter zwischen uns. Die Gesichter blieben unklar.
Dann nahm der eine seine Waffe in die Taille und gab einen weiteren Schuss ab. Die Kugel pfiff ein paar Meter an mir vorbei, erst einen verzögerten Moment später hörte ich den Schuss. Wieder blieb ich stehen, diesmal erstarrt. Dafür flossen meine Gedanken umso schneller. Was war jetzt das? Ein israelischer, derber Scherz? Oder wollten die Soldaten irgendeine Macht demonstrieren?
In diesem Moment pfiffen weitere Projektile dicht an mir vorbei, eingeholt von einer donnernden Salve aus der Uzi. Auch wenn ich etliche „Coolnispunkte“ verlieren würde, schien es mir am Sinnvollsten mich auf den Boden zu werfen, was die Soldaten scheinbar als Angebot ansahen näher zu kommen. Mit vorgehaltener Waffe pirschten sie sich näher. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles für mich ein großes Abenteuerspiel, doch dann sah ich ihre Gesichter. Es waren nicht ihre versteinerten Minen, die mir die Todesangstendorphine in alle Poren schießen ließ, sondern es waren die Gesichter selbst, denn ich hatte diese noch nie vorher gesehen. In dem Moment wurde mir klar, dass ich für diese Soldaten ein palästinensischer Terrorist war, bei dem es sich allemal gelohnt hätte ihn schon eher zu erschießen. Ganz langsam streckte ich meine Arme so weit vom Körper weg, wie es ging. Ich lag dort im Geröll wie damals, wenn beim Cowboy- und Indianerspiel einer „totgeschossen“ wurde. Ich lag dort im Dreck, so wie Jesus am Kreuz hing, was für eine schöne Geste in diesem Land, nicht wahr.
Jetzt erreichten sie mich. Ich hatte mir immer ausgemalt nach einem Standgericht irgendwelcher Guerillas vor dem Erschießen gefragt zu werden: „Haben sie noch einen letzten Wunsch?“ um dann zu sagen: „Ja, lassen sie die Augenbinde weg, hä, hä!“ Jetzt war ich in einer solchen Situation und das einzige, was ich machte, war meine Augen zu schließen und mein Gesicht in den Dreck zu legen.
Während sie mich beschimpften stupsten sie mich hart mit ihren Gewahrläufen. Was sollte ich tun? Sollte ich schweigen oder sollte ich mich als Ausländer zu erkennen geben. Die Spannung war schon fast überreizt. Ein englischer Satz konnte Erstaunen und Rehabilitierung bedeuten oder den Exitus (als Überläufer oder so). Nach weiteren harten Stupsen, die wohl endlich meine Zunge lockern sollten entschied ich mich zum „Outen“ (ja, auch ich habe mich schon „geoutet“). „I am just a tourist.“ (Ein Land ließ ich jetzt besser weg.) Tatsächlich hörte augenblicklich das Stechen auf. „O.K. Get up!“ brüllte einer der Soldaten. Gott sei Dank verstanden sie Englisch (ihre Schulbildung rette vielleicht mein Leben). Ich zog die Arme an den Körper und richtete mich auf die Knie. Nun sah ich das erste Mal den Soldaten in die Augen. Neben der leichten Verwirrung konnte ich nur Hass erkennen. Ein Lauf zeigte in mein Gesicht, der andere war von mir abgewandt, doch nur damit mich der Griff hart am Kopf treffen konnte. Leider wurde ich nicht ohnmächtig wie in den Actionfilmen immer zu sehen ist, was wohl auch den Soldaten kurz verwunderte. Neben dem lauten Krachen am Kopf begannen meine Ohren augenblicklich zu pfeifen. Ich taumelte, konnte mein Gleichgewicht aber halten, ab jetzt sah ich alles nur noch als ein Außenstehender. Die Geräusche waren wie durch Watte gedämpft, die Sicht ähnelte der, eines umgedrehten Fernrohrs. Mein warmes Blut floss mir über mein rechtes Ohr auf die Schulter und den Rücken hinab. Der Soldat überlegte, ob er noch einmal zuschlagen sollte, doch entschied sich dagegen. Ich wurde hochgerissen und zum Jeep geführt. Lethargisch setzte ich ein Bein vor das andere. Sie durchwühlten meinen Rucksack und meinen Brustbeutel, aus dem sie sich meinen Reisepass nahmen, jedoch nicht das Geld. Lange unterhielten sie sich angeregt über meinen Pass. Sie sahen sich meine Visa und Stempel an, verglichen das Foto mit dem, was von mir übrig geblieben war. Endlich verlor ich für einen Augenblick die Besinnung.
Mein letztes Wasser aus der Flasche kühlte meinen Kopf. Merkwürdiger Weise war ich plötzlich wieder voll da. Ich war wieder ich. Die Waffenläufe blickten mich stechend an. Der Ton der Soldaten war weiterhin aggressiv. Immer und immer wieder wurden mir die gleichen Fragen gestellt, die ich ruhig beantwortete. Nach dem Schlag hatte es scheinbar die Hypophyse aufgegeben, weiter Hormone auszustoßen, so blickte ich dem, was kommen mochte recht gelassen ins Antlitz. Nur einmal keimte ein neuer Schub hysterischer Angst auf, als ich eine Frage (die zum zwanzigsten Mal gestellt wurde) etwas patzig beantwortete. Der kleinere Soldat entsicherte seine Uzi direkt vor meinem Gesicht und schoss, noch während er die kleine Maschinenpistole von mir wegdrehte direkt neben mir in den Sand. Schon schwenkte er wieder zurück und brüllte wirklich kreischend auf mich ein. Erst sein Kollege konnte ihn etwas beruhigen. In keiner Situation sah ich mich dem Tod so nah, wie da. Ich konnte förmlich das unendliche Schwarz schon anfassen, ich sah von irgendwo den kleinen Zeitungsartikel: Tourist von Unbekannten erschossen - nichts weiter; und ich wäre tot gewesen, einfach so, weil es solch ein nettes Abenteuer war.
Dann ging alles schnell. Sie nahmen sich mein Geld aus dem Brustbeutel (was nicht besonders viel war) und behielten, als bleibende Erinnerung sozusagen, mein Taschenmesser und meinen Kompass. Als letzte Empfehlung gaben sie mir den Tipp: „Run!“ den ich auch beherzigte. Ich spürte, wie ihre Gewehrläufe auf meinen Rücken zielten. Endlich hatten die Todesangstendorphine vollen Einsatz. Ich rannte und rannte und versuchte mir nicht auszumalen was für einen Grund die Soldaten hatten mich nicht zu erschießen. Es war eine unendlich lange Gerade, die ich überwinden musste, bis ich aus ihrem Schussfeld war. Langsam wurde mir bewusst, dass ich es geschafft hatte. Ich hatte überlebt.
Trotzdem rannten meine Beine weiter. Langsam stieg ohnmächtige Angst in mir auf. Meine Beine begannen zu zittern und versagten ihren Dienst. Irgendwo, schon kurz vor meinem Ausgangspunkt Vadi Qelt brach ich zusammen. Mein ganzer Körper zuckte und ich musste mich explosiv übergeben, hatte dabei eine Wein-Kolik. Die Angst musste aus dem Körper, so schnell wie möglich. Nach einiger Zeit fiel ich vor völliger Erschöpfung in eine Art Ohnmachtschlaf. Es war wohl keine Stunde vergangen, bis mein Körper wieder etwas Kraft getankt hatte und mich aufwachen ließ. Der Abend hatte bereits die Überhand, doch noch war es wohl zwei Stunden hell. Ich schleppte mich bis nach Qelt, wusch mir das Blut und den Schweiß von Körper und Kleidung und entschied mich dafür noch an diesem Abend irgendwie nach Jerusalem zurückzukommen. Ich konnte keinen Augenblick länger in dieser (mir scheinbar) unsicheren Einsamkeit verweilen. Ich musste unter Leuten sein, ich musste meine Geschichte erzählen - wieder und wieder, um den Stress abzubauen. Ich brauchte die entsetzten Stimmen und die, die darüber blöde Sprüche wagten. Also wankte ich Richtung Jerusalem. Noch nie hatte ich solches Heimweh, ich sah unsere Reise schon frühzeitig enden; ich musste nach Jerusalem. Tatsächlich hatte nach einiger Zeit eine höhere Macht ein Einsehen mit mir und schickte mir einen unglaublich netten Juden, der mich bis zum Damaskus Tor brachte. Mit Tausenden Danksagungen verabschiedete ich mich und schob mich durch die Menschenmenge des späten Basars zum Hostel zurück. Nach einer ordentlichen Dusche, einem kleinen Falaffel und einem Bier begann ich meine Erzählung anderen Hostelbewohnern zu erzählen, die mich noch sehr mitnahm. Irgendwann fiel ich in einen traumlosen Schlaf, der bis zum nächsten Mittag dauerte.
Schon am nächsten Tag erinnerte nur noch eine große Beule an den Vorfall. Natürlich wollte ich nicht mehr früher nach Hause. Es war fast alles wieder in Ordnung. Ein wenig mehr Respekt vor Uzis und Grenzen ist geblieben, genauso, wie einige schweißgebadete Alpträume bis zum heutigen Tag.