Ein Tag wie jeder andere?

Feather

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Es war ein Tag wie jeder andere für Robert, der noch einen prüfenden Blick in den Spiegel warf, bevor er sich von seiner Familie mit einem kurzen Gruß verabschiedete, um seinen Dienst anzutreten.
Er war froh, aus der engen, stickigen Wohnung herauszukommen!

Seine Kollegen begrüßten ihn herzlich, ihre Uniformen schmuck und sauber, ihre Stiefel blitzblank, das Emblem der SS prangte an ihren Ärmeln.
Der morgendliche Ablauf war jeden Tag derselbe, aber mittags kontrollierten sie immer andere Leute. Heute war Robert mit Hartmut für bestimmte Bezirke des Hochhausviertels der Stadt verantwortlich.

In einem der Häuser kümmerte sich sein Kollege um die Wohnungen in der Etage über ihm und Robert warf einen Blick auf das Messingschild an der Tür.
Frank hieß sein neues Opfer also. Der Nachname war unwichtig, es würde doch nur wieder eine nichtssagende Person sein, nur ein weiterer Punkt auf seiner Liste.
Schrilles Läuten durchbrach die Stille, Schritte waren zu hören und Robert wurde von großen, tiefblauen Augen gefangengenommen, die ihn unter wuscheligen, dunkelbraunen Haaren und fein geschnittenen Augenbrauen hervor anschauten. Ohne Zweifel: dieser Frank war einer der schönsten Männer, die er je gesehen hatte!
„Vergiss nicht den Grund, weshalb du hier bist...“ Frank lächelte schief, leicht traurig.
Robert räusperte sich. „Nein... Kann ich reinkommen?“ Seine Stimme klang nicht so barsch, wie er es gerne gehabt hätte, aber Frank ließ ihn widerspruchslos ein.
Robert sah sich um. Der Vorwurf, der dem Dunkelhaarigen gemacht wurde, schien sich zu bestätigen. An den Wänden hingen Gemälde, vorzugsweise männliche Akte.
„Also stimmt es“, stellte der SS-Mann fest.
„Was? Dass ich schwul bin?“ Frank hob eine Augenbraue. „Das weißt du doch so gut wie ich... Ich hab deine Blicke doch bemerkt! Bringt es das? Sich auf ewig selbst zu verleugnen? Was hast du gemacht, damit sie dich in ihren Verein aufnahmen? Geheiratet und Kinder gezeugt?“ Franks Stimme klang spöttisch, der ironische Unterton war deutlich.
Robert zuckte zusammen.
Erinnerungen kamen in ihm hoch. Weiße Zähne, weiche Lippen, graue Augen, breite Schultern... Als er sich eingestehen musste, in einen Mann verliebt zu sein, hatte er Luise geheiratet. Die hatte sich nie beschwert.
Frank sah die Verwirrung und die Angst in den Augen des anderen, trat auf ihn zu, nahm ihn in die Arme und küsste ihn.
Robert, immer noch erschrocken und verunsichert, erwiderte den Kuss leidenschaftlich. Darauf hatte er sein ganzes Leben lang gewartet.
„Ich will nicht sterben“, flüsterte Frank an Roberts Lippen, in seiner langsam hervorbrechenden Verzweiflung umschlang er ihn noch enger.
„Das wirst du nicht“, wisperte Robert beruhigend. „Ich werde nichts sagen...“ Er wiegte Frank leicht hin und her, küsste ihn wieder.

In diesem Moment hörte er die Schritte seines Kollegen Hartmut hinter sich...
 



 
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