Ein anderer Morgen

Rupert Davis

Mitglied
Mit den letzten Schritten zur Tür verschwand die Zielstrebigkeit aus den Schritten. Er baute sich vor ihr auf, fixierte mit den Augen die Klinke, mit den Gedanken die Angst. Was wird hinter dieser Tür sein? WER wird hinter dieser sein? Und wie würden sie über ihn urteilen?
Es gibt nur einen Weg. Er verdrängte die Angst, gab sich seinen Erwartungen hin und erlaubte es sich für einen Moment zu träumen. Er drückte die Klinke hinunter und trat in den Raum...
...Hallo, da bin ich und ich bin neu!
Ich will euch jetzt nicht lange mit meinem Lebenslauf nerven (ganz neugierige dürfen gern an rupertdavis@web.de
schreiben und mich ausquetschen!) und euch erst einmal mein erstes hier veröffentlichtes Werk vorstellen, das ihr gleich geniessen und natürlich auch nach herzenslust zereissen könnt. Ich freu mich aber auch über positive Kritik.
Aber nun viel Spaß...


Ein anderer Morgen

Nein, Ja, Nein, Nein, Ja, Nein, Nein.
Wie jeden morgen war er um Punkt sieben Uhr aus seinem tiefen, ereignislosen Schlaf erwacht. Wie jeden morgen hatte er sich gleich darauf in die kleine Erfrischungszelle des Doppelzimmers begeben und sich gewaschen. Und wie jeden Morgen hatte er danach sein Bett in Ordnung bringen wollen, doch an diesem Morgen war etwas sehr merkwürdiges passiert. Ein kleiner Zettel hatte unter dem schmalen Türspalt hervorgelugt.
Jetzt saß er nun schon seit fast einer dreiviertel Stunde mit dem Zettel in der Hand auf seinem ungemachten Bett und starrte auf die kryptischen Symbole, die jemand mit einem Kugelschreiber darauf gemalt hatte. Er verstand ihren Sinn nicht und er konnte ihn bislang auch nicht deuten, alles was er erkannte waren unregelmäßige Wiederholungen der gleichen Zeichen, ja sogar Wiederholungen der gleichen Zeichenfolgen. Aber bis zu diesem Moment hatten ihn all seine Überlegungen zu keinem Ergebnis geführt. Dann, plötzlich, durchfuhr es
ihn wie ein Blitz. Es waren Worte! Er war überwältigt von
der Idee, Worte, etwas, das man sagen konnte, einen Laut, in gemalte Zeichen zu verwandeln. Zeichen, die man sehen und wieder in Worte verändern könnte. Diese Entdeckung schien den Horizont seiner Vorstellungskraft ins unendliche explodieren lassen zu wollen. Er war noch nie im Leben so aufgeregt gewesen. Wenn man Worte malen konnte, und gemaltes Worte waren... Er war nämlich selbst ein Künstler.
Aufgewühlt rutschte der kleine Junge von seiner Matratze herunter. Bis auf die Tatsache, dass er keine Haare hatte, erweckte er in seinem weißen, schmucklosen Overall den Eindruck eines kerngesunden, prächtig entwickelten Zwölfjährigen. Seine Arme verschwanden unter der Matratze, die auf einem einfachen Stahlgestell lag und erschienen kurz darauf wieder mit einem kleinen Papierstapel und einem roten Filzschreiber. Er hatte diese Dinge vor ein paar Tagen, aus einem Impuls heraus, bei seiner letzten medizinischen Untersuchung vom Schreibtisch des Doktors mitgenommen. Er kletterte wieder auf sein Bett und begann die bemalten Zettel vor sich auszubreiten, verfiel in eine apathische Haltung und sortierte sie alle nach bestimmten Kriterien. Bilder mit vorwiegend runden Linien auf einen Stapel, Bilder mit gezackten Linen auf einen anderen und Bilder, bei denen er versucht hatte, Gegenstände zu malen auf einen dritten. Eins legte er einzeln beiseite. Es war ein Selbstbildnis. Er hatte einen ganzen Tag lang damit zugebracht, sein Gesicht abzutasten um die Form mit dem roten Filzer auf das Papier zu übertragen. Letztendlich war er mit seinem Werk sehr unzufrieden gewesen und selbst sein Zimmergenosse, der bis gestern noch das Bett auf der gegenüberliegenden Seite belegt hatte, hatte ihm gesagt, dass es kaum so aussah wie er selbst. Aber ganz besonders ärgerten ihn die kleinen eingedrückten Punkte und verschmierten Linien, die jedes Mal entstanden waren, wenn er beim Zeichnen die Zeit vergessen hatte und er plötzlich die Schritte der Wärter vor der Tür gehört hatte. Er wusste nicht, ob er etwas verbotenes tat, aber er glaubte es sei besser, die Bilder vor ihnen zu verstecken. Bisher hatten sie nichts entdeckt.
Zufrieden betrachtete er die roten Bilder. Die Farbe des Stiftes und die Formen, die er damit malen konnte, faszinierten ihn mehr als alles andere in seinem Leben. Die roten Linien auf seinen Bildern waren die einzige Farbe, die er kannte. Sein
ganzes Zimmer und auch die wenigen Räume, in denen er bisher sonst gewesen war, waren kalkweiß gestrichen. Sein Overall war weiß und ebenso seine Bettwäsche. Das Gestell seines Bettes schimmerte im matten Glanz unbehandelten Metalls. Schimmerte im gleißenden Licht der strahlend hellen Deckenleuchte. Dies und die kleine Waschnische waren seine Welt. Das war alles, was er kannte. Das und sein Traum, immer bessere und schönere Bilder zu malen. Er löste sich von seinem Traum und starrte wieder auf den mysteriösen Zettel.
Und plötzlich traf ihn die Erkenntnis ein weiteres Mal.
»Ja!«, rief er aus. »Nein!«, murmelte er.
Die Zeichen auf dem Zettel waren Antworten, Antworten für...
Er schreckte auf. Der Test! Heute war sein letzter Test. Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, wie lange er schon wach war. Die Wärter könnten jeden Moment kommen und ihn abholen. Gestern waren sie da gewesen und hatten seinen Zimmergenossen geholt. Wenn sie die Bilder entdeckten! Hastig kramte er sie und den roten Stift zusammen, stopfte alles wieder unter die Matratze und machte in Windeseile sein Bett. Nur den fremden Zettel behielt er noch in der Hand. Als er mit allem fertig war setzte er sich ordentlich auf die Bettkante und las die Zeichen laut ab. »Nein, Ja, Nein, Nein, Ja, Nein, Nein.« So war es richtig, genauso musste es sein. Es waren die Antworten für den Test. Er sagte sie noch einmal auf und versuchte sie sich zu merken. Und noch einmal und noch einmal. Als draußen auf dem Gang dumpfe Schritte ertönten, stopfte er den Zettel hastig zu den anderen unter die Matratze. »Nein, Ja, Nein, Nein, Ja, Nein, Nein.«, wiederholte er noch einmal flüsternd um sicherzugehen, dann öffnete sich die Tür.


Dan Hosanna ließ seinen massigen Körper in den Bürosessel hinter seinem schweren Schreibtisch sinken. Die gelblichen Strahlen der Morgensonne drangen durch die dünnen Spalten der Lammellenjalousien hinter ihm und zerteilten den
düsteren Raum mit reglosen Kaskaden hellen Lichts. Es war Montag, und montags war es am schlimmsten. Missmutig, beinahe widerwillig aktivierte er das Flachbilddisplay auf seinem großen Schreibtisch. Seine Hände fuhren über das Holz. Es war gutes, teures Holz. Aber nach all den Jahren konnte ihn das ebenso wenig aufmuntern wie der komfortable Ledersessel. Auch das unverschämt hohe Gehalt, das er für seinen einfachen Job bekam, tröstete ihn mittlerweile über nichts mehr hinweg. Aber er bekam das Geld auch nicht für den Job den er tat, er bekam es für seine Moral, sein Gewissen, für seine Seele, die er verkauft hatte.
»Leiter der Qualitätskontrolle«. Das war es, was er zu antworten pflegte, wenn man ihn nach seinem Beruf fragte.
»In welchem Bereich denn?«, war dann häufig die nächste Frage. »Wissenschaftlich!«, entgegnete er für gewöhnlich. Das ersparte ihm weitere Detailfragen.
Ein dumpfer Signalton riss ihn aus seinen trübseligen Gedanken. Sein Rechner war bereit und auf dem Flachbildschirm leuchtete seine heutige Auftragsliste auf. Es gab wieder 68 Entscheidungen zu treffen. Zwar galten dabei vorgeschriebene Kriterien, aber es gab immer gewisse Grauzonen und somit war es letztendlich immer irgendwie seine Entscheidung, seine Schuld. Aber vielleicht würde es heute besser werden, vielleicht würde er heute einen richtig guten Tag haben. Unauffällig kontrollierte er den großen Schubladenschrank unter seinem Schreibtisch, aber er war immer noch verschlossen.
Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine düstere Miene, das seinem von Gramfalten zerklüftetes Gesicht einen grotesken Ausdruck verlieh. Es war keine Freude, aber zum erstenmal, seitdem er diesen Job hatte, war er gespannt darauf, was an diesem Tag passieren würde. Er warf einen Blick auf die Uhr. Sein erster »Prüfling«, wie er sie nannte, sollte bereits auf dem Weg zu ihm sein. Er fand, es klang persönlicher und machte seinen Job erträglicher. Es dauerte keine zwei Minuten mehr, bis sich die schwere Tür gegenüber seinem Schreibtisch öffnete und sein Arbeitstag begann.
»Komm herein!«, sagte er mit tiefer, freundlicher Stimme.
Ein kleiner, haarloser Junge in einem weißen Overall trat durch die halb geöffnete Tür in den von Lichtstrahlen durchzogenen Raum. Helle Linien legten sich über seinen Overall. Seine Blicke strichen durch den Raum, musterten den großen Schreibtisch, den gewaltigen alten Mann dahinter, den breiten Sessel davor und wechselten schließlich neugierig zwischen den beiden großen Türen hin und her, die den Raum flankierten. Dan wusste, was sich hinter diesen beiden Türen befand, deshalb positionierte er sich auch stets so an seinem Schreibtisch, dass die rechte Tür außerhalb seines Blickfeldes lag. Aus seiner Sicht konnte er sie verbannen, aber nicht aus seinen Gedanken.
»Setz dich!«, sagte er höflich und deutete auf den großen Sessel vor seinem Schreibtisch. Er sah den Jungen nicht an. Seine Augen waren zwar auf ihn gerichtet, aber er sah mehr durch ihn hindurch. Er wusste ohnehin wie er aussah. Der Junge rutschte auf den viel zu großen Sessel.
»Leg bitte deine Hand auf die Metallfläche«, bat Dan ihn und er gehorchte. Auf seinem Bildschirm erschien eine Nummer, die in dem winzig kleinen Chip gespeichert war, den der Junge unter der Haut seiner rechten Handfläche trug. Dan verglich die Nummer mit der ersten seiner Auftragsliste und bestätigte die Übereinstimmung auf dem Touchscreen. Dann räusperte er sich und wandte sich dem Jungen zu. »Bist Du aufgeregt?«
Der Junge zuckte innerlich zusammen. Nein, ja, nein, nein, ja, nein,
nein, hatte er in Gedanken immer wiederholt. Die Antworten für den Test. Aber war dies schon die erste Frage? Hatte der Test schon begonnen? Natürlich war er aufgeregt. Er wusste nicht, was mit ihm passieren würde, er wusste nur, dass er nicht mehr in sein Zimmer zurückkehren würde. »Nein«, antwortete er ausdruckslos. Dans Stirn zog sich immer weiter zusammen, in den Sekunden die vergingen, bis der Junge endlich geantwortet hatte. Die Prüflinge sollten die Fragen einfach nur beantworten, wenn sie erst noch darüber nachdachten, dann waren sie schon durch das enge Raster von Testkriterien gefallen. Diesmal war es knapp gewesen.
»Weißt Du, wie viel drei und drei sind?« Dies war eine Frage, über die er nicht nachdenken musste, natürlich wusste er es. Er hatte den Mathetest mit Bravour bestanden. Es waren...
Im letzten Moment hielt er sich zurück, das Ergebnis zu sagen. »Ja«, antwortete er stattdessen. Der dicke Mann hinter dem Schreibtisch nickte und berührte mit einer Hand seinen Bildschirm. »Hast Du einen Traum?«, fragte er dann. Der Junge konnte sich gerade noch beherrschen aus einem Impuls heraus zu nicken. Natürlich hatte er einen Traum, er wollte Künstler werden, er wollte Bilder malen. Aber der
Zettel der unter seiner Tür hervorgelugt hatte, sagte etwas anderes, also antwortete er: »Nein.«
»Denkst Du oft nach?«
Pausenlos. »Nein.«
»Warst Du bei allen medizinischen Untersuchungen?«.
Er wusste nicht genau, wie viele »alle« waren. »Ja«, antwortete er.
Dan nickte zufrieden. Der Junge hatte die zweite Falle im Test gemeistert, die freies Denken enttarnen sollte. Jeder andere hätte sich nämlich zuerst erkundigt, wie viele
es gewesen sein müssten.
»Haben sie Dir Angst gemacht?« Die Ärzte, die unheimlichen Maschinen mit ihren Kabeln, Sensoren und Nadeln. »Nein.«
»Hast Du Dich schon einmal gefragt, wie Du aussiehst?«
Es war die erste Frage, die er sich selbst gestellt hatte und der Junge wunderte sich, warum der Mann gerade das wissen wollte. Einen Moment zweifelte er an den Antworten auf dem Zettel, rang sich dann aber doch zu einem »Nein« durch.
Dan nickte und sein Gesicht verzerrte sich zu einem schmalen Lächeln. Schon das zweite Mal an diesem Morgen. Der erste Prüfling hatte den Test bestanden und alle sieben Fragen richtig beantwortet. Eine falsche Antwort und er wäre durchgefallen. Er hatte keine Emotionen, befolgte seine Anweisungen wörtlich und er hatte weder ein Bewusstsein, noch ein Ich-Bewusstsein entwickelt. Das war es jedenfalls, was den Wissenschaftlern an diesem Test wichtig war. Dan hatte keine Ahnung, wie sie diese Dinge genau herleiteten, er war nur dazu da, die Fragen zu stellen und die Antworten in das Raster einzutragen. Und, entsprechend des Ergebnisses, die Jungen durch die rechte oder durch die linke Tür hinauszubitten.
»Sehr gut, Du hast bestanden« Dan deutete mit erlöster Miene auf die linke Tür. Eigentlich war es ihm verboten, mehr als nötig zu sagen. Aber er sagte es immer so, auch wenn der Prüfling nicht bestanden hatte und durch die rechte Tür gehen musste.


Was war nur geschehen? Er starrte auf den Bildschirm vor ihm. Zahlenreihen, Diagramme, Texte und Bilder liefen in unglaublicher Geschwindigkeit darüber. Die Manschette, die man ihm um den Kopf geschnallt hatte, drückte und sein Kopf schmerzte aufgrund der unzähligen Informationen, die im Millisekundentakt in ihn hineingepumpt wurden. Er schaffte es kaum noch, klar zu denken. Es kostete ihn Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Es fühlte sich an, als würde etwas sein Gehirn auffressen wollen. Er konnte sich kaum noch an den Test erinnern, den er absolviert hatte. Die Fragen, die Antworten und was danach geschehen war. Immer mehr wurden seine Gedanken von den neuen Informationen in die Ecke gedrängt und er spürte, wie er immer mehr von ihnen verlor. Kernphysik nahm ihren Platz ein, dann folgte Chirurgie. Was sollte er damit anfangen?
Ein rotes Diagramm blitzte auf dem Bildschirm auf. Rot! Es gab noch so viel mehr Farben auf diesem Monitor und sie peitschten ihn aus. Wann lernte er zu malen? Seine Augen tanzten den fliegenden Zeilen auf dem Bildschirm hinterher. Sie tanzten und er hatte Mühe sie zu stoppen. Er kämpfte gegen den Zwang an. Es bereitete ihm immer mehr Qualen. Er glaubte innerlich zu zerreißen. Mit einem verzweifelten Aufbäumen aller Kraft gelang es ihm, die Augen zu schließen. Der Schmerz explodierte, er wollte schreien, doch er hatte keine Gewalt über seine Stimme. Die Informationen schlugen weiter auf ihn ein, schlichen sich direkt in seine Gedanken, aber sie überfluteten ihn nicht mehr so heftig. Er öffnete die Augen, starrte über den Monitorrand. Ein gequältes Lächeln huschte über sein Gesicht. Tatsächlich, er war es. Sein Zimmergenosse. Seine Augen zuckten, starrten auf den
Monitor vor ihm, zuckten hin und her, flimmerten beinahe in ihrer schnellen Bewegung. Auf seinem Kopf klemmte dieselbe Manschette, die er auch trug. Kleine bunte Dioden blinkten an ihr. Er wollte ihn auf sich aufmerksam machen, wollte ihm zuwinken, aber seine Hände waren festgeschnallt.
»Hey!«, rief er ihm zu, aber er reagierte nicht. »Hallo!«, versuchte er es noch mal. Erfolglos. Er beobachtete ihn eine Weile, während die Informationen weiter in sein Gehirn flossen. Er war bereits bei Gentechnologie angekommen und sein Traum, Künstler zu werden, bröckelte Stück für Stück. Verzweifelt drehte er seinen Kopf nach links. Da war er wieder! Sein Zimmergenosse. Aber...? Sein Kopf ruckte wieder zurück und musterte den Jungen auf der gegenüberliegenden Seite. Das war er auch. Sie sahen gleich aus! Wie konnte das sein? Sein Blick huschte verwirrt zwischen den beiden hin und her, dann sah er nach rechts. Und da saß er auch. Er beugte sich etwas vor. Es war eine ganze, nicht enden wollende Reihe. Dutzende, vielleicht sogar Hunderte Bildschirme in beiden Richtungen und auf der anderen Seite und auch noch dahinter. Alle saßen sie konzentriert davor. Alle sahen sie
so aus wie sein Zimmergenosse. Plötzlich durchfuhr ihn ein Schmerz, den er bisher noch nicht kannte. Es stach nicht, es brannte nicht und es pochte auch nicht. Es war ein Schmerz in seinen Gedanken. Plötzlich glaubte er zu wissen, wie er selber aussehen musste, plötzlich begriff er, dass sich sein Traum nie erfüllen würde. Er würde vernichtet werden, aber ein Teil von ihm würde für immer dableiben. Dableiben und diesen fremden Schmerz verursachen. Er wünschte sich, nie geboren zu sein, wünschte sich auf der Stelle zu sterben, aber er war gefangen.


Der letzte Prüfling verschwand durch die linke Tür und Dan Hosanna ließ sich erleichtert in seinen luxuriösen Sessel zurückfallen. Sein Gewissen fraß sich durch seine Seele, wandte sich wie eine Schlange in seinen Eingeweiden und wilderte. Auf seinem Bildschirm verschwand die Liste mit den Seriennummern der heutigen »Erzeugnisse«. Er spürte, dass er diesen Job nicht mehr lange durchhalten würde. Es waren keinen defekten Radios, die er aussortierte, es waren immer noch Menschen. Zumindest Lebewesen. Zu einem gewissen Teil wenigstens, auch wenn sie keine Persönlichkeit besaßen. Und wenn sie doch eine hatten, dann wurden sie aussortiert, umgebracht, vergast. Sein finsterer Blick fiel auf die rechte Tür, die aus seinem Raum herausführte. Einundzwanzig! Einundzwanzig Mal hatte er heute auf diese Tür deuten müssen. Einundzwanzig dieser Jungen hatte er dort hineingeschickt. Einundzwanzig hoffnungsvolle junge Leben beendet. Und das nur, weil sie Persönlichkeit besaßen. Dan verstand nicht, wieso man sie töten musste, aber er verstand, dass es falsch war. Trotzdem machte die Zahl ihm auch Mut. Einundzwanzig! Es waren weit weniger als die üblichen 50%, die er sonst Tag für Tag durch diese grausame Tür schicken musste. Er fühlte sich nicht viel besser, aber es war ein Anfang. Er beugte sich vor und seine wurstigen Finger wühlten in einer der Schubladen. Er nahm einen Umschlag heraus und erhob sich aus seinem Sessel. Die morgigen Klone sollten aus Trakt 35 kommen. Er würde also auf dem Nachhauseweg noch einen kleinen Umweg machen müssen. Etwas geduckt spähte er in den Umschlag hinein um den Inhalt zu überprüfen. Es waren viele kleine Zettel. Nein, Ja, Nein, Nein, Ja, Nein, Nein. Er lächelte.
 
R

Rote Socke

Gast
Hallo Rupert,

zu einem fällt mir die Kritik sehr leicht zum anderen wieder nicht. Ich versuch mal was vernünftiges rüber zu bringen.

Die unheimliche und bedrohliche Tatsache, dass 21 Jungen ihr Leben verloren, wegen ihrer Persönlichkeit, das ist ein interessanter Backround, der sich aber in der Länge des Textes verlor. Also die Geschichte ist zu lang, zumindest für die Leselupe, nach meinem Empfinden. Bzw. wenn es so sein muss oder es ein Ausschnitt aus einem größeren Werk ist, dann solltest Du in der Rubrik Erzählungen posten. Für eine Kurzgeschichte fehlt mir ein wenig der Drive.

Es hat sich ein wenig eingebürgert, dass kurze Texte bevorzugt gelesen werden. Mir geht das mittlerweile auch so. Wenn Du also längere Werke hast, so stelle sie in einer Kurzfassung ein. Dann ist die Ressonanz größer. Natürlich gibt es keine Regeln dazu, jeder kann und darf wie er mag. Mit der Zeit kennt man halt eine Menge Schreiber hier und dann bekommst du vernünftige Kritiken nicht mehr hin, wenn man täglich nur lange Texte lesen müsste. So viel dazu!

Mir persönlich war der Anfang schon zu langatmig, bis die Beschreibung des "Er" folgte. Immer nur vom "er" lesen und nicht wissen wer "er" ist, das wird schnell langweilig. Danach schreibst Du eine interessante Beschreibung des Jungen und das macht die Story wieder interessant. Das würde ich etwas vorziehen, mehr an den Anfang.

Dein Schreibstil finde ich glatt, der ist keinesfalls langweilig. Es gibt kaum Holpersteine und der Satzbau ist nicht schlecht, so weit ich das beurteilen kann und darf. Das lässt sehr hoffen, dass Du noch mehr Werke hier einstellst, aber wie gesagt, besser etwas kürzer. Der Inhalt ist wirklich nicht uninteressant.

So weit mal für's Erste.

Gruss
Volkmar
 

Rupert Davis

Mitglied
danke

hallo volkmar,

danke erstmal für die kritik.
ich denke mal da hast du recht, was die länge betrifft. insbesondere mit dem "langatmigen" anfang. ich denke wenn der anfang knallt und man den leser schnell an die geschichte fesseln kann, würde die länge wohl nicht mehr so ein faktor sein.
und was das langatmig betrifft, da magst du sogar auch recht haben. von dieser seite habe ich es nicht gesehen, weil ich eine bestimmte intention mit dieser art der einführung verfolgt habe.
ganz kurz:
zuerst wollte ich einen "leer"-charakter haben, um für den anfang ein vakuum zu haben, das der leser getrost mit sich selbst füllen darf. das auch nur, damit man dieses unglaubliche phänomen, das "er" entdeckt (die schrift), die ja für jeden eigentlich selbsterständlich und alles andere als ein wunder ist, besser nachvollziehen kann. ausserdem dachte ich, würde der kleine junge eine längere einführung brauchen, damit der leser ihn auch schön lieb gewinnen kann. dadurch wird das ende schlimmer!

bei der sache das die 21 kinder untergehen, magst du auch recht haben, aber von meinem standpunkt aus, möchte ich dir mal konkret widersprechen.
hier mein stabdpunkt:
zum einen ist es nicht der kernpunkt der geschichte, und zum anderen ist das ja in der welt in der sie spielt, nichts besonderes. an den anderen tagen hat dan hosanna vielmehr klone töten lassen müssen. es ist sein job. und in dieser welt gibt es unsere welt nicht, also darf ich gar nicht mit urteil implizieren, das unseren moralvorstellungen entspricht.
ausserdem wird diese sache ja nur durch seinen blickwinkel geschildert und das ist eben der job den er schon sein leben lang ausübt. ich denke deshalb darf ich es gar nicht großartig hervorheben und als wirklich übel darstellen. in diesem zusammenhang geht es ja nur um diesen zwiespalt in dem dan sitzt. er ist fehlerhaft in dieser welt, weil er ein gewissen hat!

aber diese kritik führt mich zu der interessanten frage, wo du denn überhaupt den kernpunkt, die aussage, die tiefere bedeutung gesehen hast? (ich weiß, es sind mehrere drin. einige beabsichtigt, andere, wie wir später aufgefallen ist kann man locker reininterpretieren)

du darfst nicht nur den schreibstil beurteilen, sondern mußt es sogar. und das auch ohne jegliches spezielle wissen über dramatik, satzbau, grammatik und der ganze kram. wichtig ist eben wie der leser es empfindet. es freut mich natürlich sehr, das dir gerade dieser wichtige punkt gefallen hat. die tollste geschichte wird niemand mögen wenn sie mit hoppelsätzen daherkommt.

aber was die länge angeht sollte ich deinen rat so etwas in erzählungen zu stellen wohl beherzigen.
insbesondere weil ich ja zugeben muß, dass ich diese geschichte schon unter sehr strengen restriktionen was die länge angeht geschrieben habe.
ich bin irgendwie kein mann der wenigen worte. das vor allem, weil ich nach bildern schreibe. grundlagen für meine geschichten sind neben den grundideen, immer bilder die ich im kopf habe. bei mir läuft das ungefähr so das andauernd ideen und bilder in meinem kopf herumschwirren und ab und an treffen mal zwei aufeinander.
das selbe prob habe ich auch mit meinem buch an dem ich arbeite. so viele bilder und ein roman (schinken) hat nur so wenig seiten (bin irgendwo über sechshundert!)

naja, und bei meinen kritiken und antworten halt ich mich auch irgendwie nie wirklich kurz!

also jetzt!
danke!

viele grüße,

rupert
 
R

Rote Socke

Gast
Hi Rupert,

was vielleicht noch zu bedenken wäre: Je nachdem wo Du mehr den Schwerpunkt der Geschichte legst, solltest Du gezielt den Spannungsbogen dahingehend aufbauen. Also dem Leser einige Häppchen als Vorgeschmack geben, die er als Köder schluckt, aber unbedingt erfahren will wie es denn jetzt weitergeht oder endet.

Falls Du an der Story nochmals basteln willst, kannst mir ja Bescheid geben, wenn Du sie neu postest.

Gruss
Volkmar
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hi, rupert,

mir liest sich das wie ein romananfang. ich könnte mir gut vorstellen, daß deine protagonisten noch viel mehr erleben und sich irgendwann wieder begegnen. ganz lieb grüßt
 

Rems Florian

Mitglied
Hallo Rupert,


also ich kann die Kritik wegen der Länge überhaupt nicht verstehen. Ich finde deine Geschichte so interessant, da muss man einfach weiterlesen. Allerdings seh ich da mehr einen Anfang eines Romans oder etwas Ähnlichem. Aber die Länge stört überhaupt nicht. Mach weiter so und vielleicht hast du ja Lust auf eine Fortsetzung. Also ich bin schon gespannt.

Gruss

Florian
 

Rupert Davis

Mitglied
jahre später...

hi und allen erstmal danke für die kritik!
ja flammarion/florian, eigentlich war die sache bisher abgeschlossen, aber ihr habt da so ein paar ideen freigesetzt.
vielleicht klemm ich mich wirklich mal ran und schau mal wie es den protagonisten in einigen jahren ergeht.
wie der junge mit seiner "programmierung" fertig wird. was aus seinem traum geworden ist, wenn er ihn noch hat.
und dan. ob er immer noch dort arbeitet und mit seinem gewissen ringt, oder schon in "rente" ist. vielleicht ist ja auch etwas ganz anderes geschehen und vieles in der welt in der es spielt (die man ja nicht wirklich kennenlernt) verändert....

viele grüße,

rupert
 

eiros

Mitglied
Hallo!
Ist zwar schon ne Weile her, aber ich möchten einen kurzen Kommentar abgeben. Also Rupert, wirklich gelungen- auch als Kurzgeschichte! Du reißt den schrecklichen Hintergund einer futuristischen Gesellschaft nur an, aber man kann seine Fantasie weiter spielen lassen! Ich kann nicht sagen "wo" Du bist: am Anfang oder am Ende? Ich jedenfalls wäre gern so weit, wie Du es bist.
 



 
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