Ein besonderer Tag

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Raniero

Textablader
Ein besonderer Tag

Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt besuchte der Präsident der großen Genehmigungsbehörde eine seiner zahlreichen Außenstellen. Während er, wie bei einer Chefarztvisite im Krankenhaus, von einem ganzen Tross Mitarbeiter begleitet, kurz durch die einzelnen Räume des Verwaltungsgebäudes geführt wurde, legte er plötzlich und unerwartet in einem Großraumbüro einen Zwischenstopp ein.
„Sagen Sie mal, Herr Kollege Schneider“, runzelte er die Stirn, „mir ist aufgefallen, dass sehr viele Schreibtische nicht besetzt sind. Das ist ja merkwürdig, sind die denn alle erkrankt, diese Mitarbeiter, oder etwa alle in Urlaub?“
Der Leiter der Außenstelle, Wilhelm Schneider, räusperte sich verlegen und versicherte eilfertig, dass weder das eine noch das andere der Fall sei; im Gegenteil, alle Mitarbeiter seien im Dienst, auch wenn sie nicht alle persönlich anwesend seien.
„Ja, wo sind die denn alle, um diese Uhrzeit? Doch nicht schon in der Kantine, morgens um neun, mein lieber Herr Kollege?“
Bevor der ‚liebe Herr Kollege’ etwas erwidern konnte, antwortete eine junge Frau an einem der Schreibtische ganz unbefangen.
„Die haben heute ihren Putz- und Waschtag, Herr Präsident.“
„Was haben die?“
Der Leiter der Dienststelle wurde rot bis über beide Ohren, und aus dem Mitarbeiterstab drohten einige der Kollegen, vor Lachen zu platzen, beherrschten sich aber. „Sie müssen entschuldigen, Herr Präsident, diese etwas ungewöhnliche Ausdrucksweise, die sich da eingebürgert hat“ beeilte sich der Außenstellenleiter zu versichern, „was Frau Schmitz, unsere junge Sachbearbeiterin sagen will, ist, dass die in Rede stehenden Mitarbeiter am heutigen Tag die anfallende Tätigkeit daheim verrichten.“
„Wie bitte“, runzelte der Präsident die Stirn, „wollen Sie damit sagen, Herr Steinruber, dass all die fehlenden Kollegen heute nicht an ihrem Arbeitsplatz erschienen sind, um stattdessen ihre Arbeit daheim zu verrichten? Ja, gibt’s denn so was? Das müssen Sie mir erklären!“
Wilhelm Steinrubers Gesichtsfarbe wechselte derart schnell, von Tiefrot ins Weißblasse, dass ein anwesender Arzt Vorkehrungen getroffen hätte.
„Es verhält sich folgendermaßen, Herr Präsident: Wir haben seit längerer Zeit die Erfahrung gemacht, dass unsere Mitarbeiter besser motiviert sind, wenn sie einmal in der Woche, an einem besonderen Tag, die Möglichkeit haben, die Arbeit, die sie während der normalen Bürostunden nicht bewältigt bekommen, daheim frei von Ablenkungen aller Art zu erledigen.“
Vorsichtig blickte er den Präsidenten an, in Erwartung einer gewaltigen Rüge. Doch der hohe Herr wurde nachdenklich.
„Gar keine so schlechte Idee“, meinte er schließlich, „und wie sind Ihre Erfahrungen, mit dieser wöchentlichen Heimarbeit? Ist diese außergewöhnliche Arbeitsweise, diese Einteilung, effizient?“
„Oh, das ist sie, in der Tat.“ strahlte Wilhelm Schneider froh, dass der erwartete Rüffel ausblieb. „Indem die Kollegen die Akten mit nachhause nehmen, ist es ihnen freigestellt, wie sie diese dort abarbeiten, ob sie dabei, salopp formuliert, die Beine auf den Tisch legen oder in die Badewanne halten, in welchem Outfit und zu welcher Stunde sie tätig sind, darauf kommt es im Gegensatz zum herkömmlichen Arbeitsplatz gar nicht an, und so hat sich diese neue Methode als absolut motivierend und effizient herausgestellt. Das Ganze verläuft natürlich wechselweise, sodass immer eine gewisse Präsenz“, deutete er auf seinen Begleitertross, „hier vor Ort vorhanden ist.“
„Soso, wenn ich Sie richtig verstehe, erledigen Ihre Mitarbeiter wechselweise an diesem freien ähm, an diesem besonderen Heimarbeitstag, die Arbeiten, die unter der Woche unbearbeitet bleiben?“
„Jawohl, Herr Präsident, das kann man durchaus so sagen, und sie tun es mit Freude.“
„Mit Freude?“
„In der Tat! Wenn sie am nächsten Tag hier erscheinen, meine Mitarbeiter, dann strahlen sie nur so vor Glück und sie freuen sich richtig auf die neue Arbeit, die vor ihnen liegt.“
„Donnerwetter, was für eine Arbeitauffassung!“ entfuhr es dem Präsidenten, „aber sagen Sie mal, warum nannte denn Ihre junge Kollegin diesen besonderen Tag, wie nannte Sie ihn noch gleich, ach ja, Putz- und Waschtag?“
Nun strahlten zwei rote Köpfe um die Wette; Wilhelm Schneiders Gesicht hatte wieder die Farbe gewechselt und das seiner jungen Sachbearbeiterin leuchtete ebenso. „Na, ja, Herr Präsident“ druckste Schneider, „dieser Ausdruck ist absolut nicht mehr zeitgemäß, aber er hat sich halt so eingebürgert, und es ist schwer, so etwas, was sich einmal in den Köpfen festgesetzt hat, wieder herauszubekommen. Putz- und Flicktag, das kommt daher, weil in den Anfangszeiten, bei Einführung des besonderen Tages, der eine Kollege oder die andere Kollegin daheim zwischendurch auch mal was in die Waschmaschine gesteckt hat, beispielsweise. Trotzdem aber, das möchte ich betonen, hat das Arbeitspensum niemals darunter gelitten, im Gegenteil.“
„Soso“, wiederholte der Präsident und musterte die Anwesenden, die mittlerweile ebenfalls rote Köpfe bekommen hatten und sich verzweifelt bemühten, ein Lachen zu unterdrücken, „Sie können mir das doch gewiss bestätigen. Ich meine, dass die Arbeit nicht darunter leidet, an Ihrem Putz- und Waschtag?“
Alle lachten wie auf Kommando.
„Aber nein“ bestätigten sie unisono.
Sichtlich beeindruckt, setzte der Präsident mitsamt seinem Gefolge seinen Rundgang fort. Zum Abschluss seines Besuches drückte er allen die Hand.
„Ich bin tief beeindruckt.“
Die Mitarbeiter strahlten, allen voran Wilhelm Schneider, ihr unmittelbarer Chef.

Einige Monate später erhielt Schneider einen Anruf von seinem höchsten Chef; er möge doch an einem der nächsten Tage, wenn es möglich wäre, vielleicht sogar schon morgen, mal bei ihm hereinschauen.
Der Leiter der Außenstelle zeigte sich höchst verwundert.
Das hatte er in all seinen langen Dienstjahren noch nicht erlebt, dass ein Präsident höchstpersönlich bei ihm anrief und ihn ganz formlos bat, doch einmal kurz hereinzuschauen.
‚Wer weiß, was dahinter steckt’ dachte er nervös.

Gleich am nächsten Tag machte er sich auf den Weg in die Bezirkshauptstadt. Als er die riesige Zentrale betrat, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Das gesamte Gebäude, angefangen von der geräumigen Pförtnerloge über die zahlreichen verglasten Großraumbüros bis hin zum Vorzimmer des Präsidenten, erwies sich als leer. Nanu, ist heute ein Betriebsausflug angesagt? Ohne den Präsidenten? Zaghaft klopfte er an die massive Holztür des Dienstzimmers seines höchsten Vorgesetzen.
„Herein, wenn’s kein Schneider ist“ rief der Präsident.
Wilhelm musste unwillkürlich lachen.
„Guten Tag, Herr Schneider“ lachte der hohe Herr ebenfalls, „nehmen Sie Platz!“
„Entschuldigen Sie, Herr Präsident, komme ich ungelegen? Ich wusste gar nicht, dass das ganze Haus leer ist…“
„Nun übertreiben Sie aber, Herr Kollege, ganz leer ist nun nicht gerade, ich bin schließlich ja noch da.“
„Entschuldigung, so meinte ich das nicht.“
„Schon gut, schon gut, lieber Mann, Sie brauchen sich nicht andauern zu entschuldigen. Ja, da staunen Sie, Herr Schneider, nicht wahr? Aber Sie haben ja Recht, das ganze Haus ist quasi leer, und das, mein Lieber, verdanken wir Ihnen, niemand anderem.“
„Mir, Herr Präsident?“ Wilhelm wurde ganz schwindelig. „Ich verstehe nicht, wieso mir? Haben Sie sie alle gefeuert, die Mitarbeiter?“
„Um Gottes Willen, nein, wo denken Sie hin, Herr Schneider? Ich habe einfach nur Ihre Idee aufgegriffen.“
„Meine Idee?“
„Ja, wissen Sie denn nicht mehr? Ihr Putz- und Waschtag! Sie waren es doch, der mir seinerzeit davon berichtet hat, in Ihrem Hause. Sie erinnern sich?“
Wilhelm erinnerte sich.
„Und wissen Sie, was mich damals sofort so beeindruckt hat, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte?“
Wilhelm hatte keine Ahnung.
„Sie sagten mir unter anderem, ich zitiere wörtlich: Wenn sie am nächsten Tag hier erscheinen, meine Mitarbeiter, dann strahlen sie nur so vor Glück und sie freuen sich richtig auf die neue Arbeit, die vor ihnen liegt.“
„Das stimmt, Herr Präsident“ erinnerte sich Wilhelm Schneider, „das habe ich gesagt, und dazu stehe ich auch.“
„Sehen Sie“, lächelte der Hüter des riesigen Gebäudes, „genauso habe ich es in Erinnerung, und ich habe mir gesagt, warum nicht noch ein Schüppchen drauflegen?“
Wilhelm verstand nur Bahnhof.
„Ein Schüppchen drauflegen…?“
„Na, ist doch klar! Wenn die schon so strahlen, Ihre Mitarbeiter, und sich nach einem einzigen Tag - wie nannten Sie ihn noch so schön, Putz- und Waschtag –derart auf die vor ihnen liegende Arbeit freuen, wie wird das erst nach, na, sagen wir mal, einer Reihe von Tagen erst sein, nach einer längeren Reihe, wenn Sie so wollen?“
„Nach einer längeren Reihe von Tagen? Herr Präsident, wie meinen Sie das?“
„Nun ja, Herr Schneider, ich habe Nägel mit Köpfen gemacht, ich habe meine Mitarbeiter hier gleich am nächsten Tag nach meinem Besuch damals bei Ihnen nach Hause geschickt, und zwar alle, ausnahmslos, denn Sie wissen ja, geteilte Freude ist doppelte Freude. Und seitdem strahlen sie um die Wette, mein Lieber, jeden Tag mehr. Wird das eine Freude sein, wenn sie irgendwann hier wieder erscheinen.“
Wilhelm wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, über die Idee seines ranghöchsten Chefs, noch eine Schüppe draufzulegen.
„Eine Frage, Herr Präsident, hätte ich noch.“
„Schießen Sie los!“
„Woran erkennen Sie denn, dass Ihre Mitarbeiter von Tag zu Tag mehr strahlen, wenn sie seit Monaten nicht mehr hier im Hause sind?“
„Das ist ja der Clou, Herr Schneider! Sie schicken mir täglich ein Video! Das habe ich zur Bedingung gemacht, von vorneherein. Ich bin schließlich immer noch der Chef hier, nicht wahr?“
 



 
Oben Unten