Ein besonderes Geschenk

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Brigitte

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Ein besonderes Geschenk

Dick eingepackt in meine warme Daunenjacke, die Hände tief in den Taschen vergraben, bummelte ich durch die weihnachtlich geschmückte Einkaufszone. Das Gedränge kauffreudiger Menschen, besonders jetzt, in der Adventszeit, war groß und für mich schon immer ein Gräuel gewesen. Doch weil ich diese vorweihnachtliche Atmosphäre mit all ihren Eindrücken sehr gerne habe, nahm ich den Stress auch in diesem Jahr wieder in Kauf. Der Himmel zeigte sich grau, verhangen, und wenn man dem Wetterbericht glauben konnte, sollte es an diesem Tag sogar noch schneien.

Ich hatte mir zu meinem diesjährigen Weihnachtseinkauf keine Liste gemacht, da ich sowieso selten all das bekam, was darauf vermerkt war. Die Geschenke für meine Familie waren längst unter Dach und Fach. Jetzt galt es nur noch, für meine Freundinnen und meine Schwester eine Kleinigkeit zu besorgen. Die Wahl würde mir sicherlich nicht schwer fallen, da ich deren Geschmack ebenso wie ihre Vorlieben gut kenne.

Nach einigem Suchen erstand ich für Karin einen wunderschönen Seidenschal mit einem Muster aus roten Rosen, für Lilo die neueste CD ihrer Lieblingsband und für meine Schwester Nina ihr Lieblingsparfum. Nun fehlte nur noch das Geschenk für Natalie, der Freundin, mit der ich mich auf eine ganz besondere Art verbunden fühle. Da es schon fast Mittagszeit war, zog ich erst einmal einen kleinen Imbiss vor und gönnte mir eine Bratwurst mit Brötchen und reichlich Senf. Frisch gestärkt bummelte ich weiter und ließ meine Blicke dabei in die herrlich dekorierten Schaufenster der Geschäfte fallen. Aus verschiedenen Richtungen drangen weihnachtliche Melodien an mein Ohr und der Geruch von Schnee lag in der Luft. Plötzlich stand ich wieder vor dem kleinen Laden, der mich an diesem Tag schon einige Male magisch angezogen hatte. Was war nur so faszinierend an ihm? War es doch ein Geschäft wie jedes andere hier in der Einkaufszone auch. Festlich dekoriert, wie es sich für die vorweihnachtliche Zeit schickte. Eine Weile beobachtete ich die Leute, die ein und ausgingen, und das hatte einen bestimmten Grund: denn jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete, drang ein Glockenspiel mit der Melodie: „Ihr Kinderlein kommet“ an mein Ohr. Über dem Schaufenster stand in leuchtenden Buchstaben „Adventsstübchen“ und am unteren Rand der Scheibe lag innen eine mit Tannenzweigen geschmückte bunte Lichterkette.

Beim Anblick der Vielfalt in der Schaufensterauslage wurde es mir immer festlicher zumute, und ich betrat, wie von Zauberhand geführt, das Geschäft.
Ein Wohlgeruch von Zimt und Koriander strömte mir entgegen. Ein Geruch, den ich liebe und der mir immer wieder Wohlbehagen bereitet. Irgendwo klangen leise aus einem Lautsprecher Weihnachtslieder und eine nette junge Verkäuferin kam auch sofort auf mich zu und fragte, ob sie mir helfen könne. „Ich möchte mich nur etwas umschauen.“, sagte ich ebenso freundlich und ließ meine Blicke in dem lediglich mit Kerzen beleuchteten Raum umherschweifen. Hier gab es alles, was nicht nur Kinderherzen höher schlagen lässt. Vom Auto bis zu den Eisenbahnen, vom Puppenhaus mit Innenleben bis zu den Plüschtieren, Weihnachtsschmuck und Dekorationsartikel aller Art.

Ich weiß nicht, wie lange ich mir all die schönen Dinge auf den Tischen und in den Regalen angeschaut habe. Die Zeit verging wie im Fluge, doch ich konnte mich für nichts entscheiden. ‚Ob ich hier überhaupt etwas für Natalie finde?‘, fragte ich mich, während meine Augen weiterhin aufmerksam nach dem passenden Geschenk suchten.

Nachdem ich mir auch noch den letzten voll beladenen Tisch mit allerhand Figuren, Kerzen und Baumschmuck angeschaut hatte, wollte ich mich gerade, leicht enttäuscht, abwenden, um den Laden zu verlassen, als ich ein leises Glockenklingen vernahm. Ich blieb wie angewurzelt stehen und blickte mich um. Woher kam das? Abermals nahm ich die Dinge auf dem Tisch vor mir ins Visier. Da: wieder dieses leise Klingen vieler kleiner Glöckchen.
Ich beugte mich etwas weiter über den Tisch, um die Quelle dieses Geräusches ausfindig zu machen. Als es erneut ertönte, bemerkte ich IHN. Er stand ziemlich weit hinten, dazu noch fast verdeckt von einem dicken Schneemann aus Porzellan: Ein Engel!

Vorsichtig ergriff ich ihn und abermals drang dieses Klingen vieler kleiner Glöckchen an mein Ohr. Ich betrachtete die Figur von allen Seiten. Schön konnte man sie wahrlich nicht nennen, doch da war etwas Unsichtbares, das mich irgendwie gefangen zu halten schien. In seinen Händen hielt der Engel eine Harfe, und an beiden Seiten des Instruments hingen jeweils drei kleine goldene Glöckchen.

Eine ältere Frau, ich hielt sie für die Besitzerin des Geschäftes, war neben mich getreten und sagte freundlich: „Ach, das ist ein echter Ladenhüter. Eigentlich wollte ich ihn bei der diesjährigen Tischdekoration gar nicht mehr aufstellen. Aber für den Müll erschien er mir dann doch zu schade. Wenn Sie ihn nehmen, bekommen Sie ihn zum halben Preis.“

Ich hatte durchaus nicht die Absicht, für meine Freundin Natalie ein Geschenk zu kaufen, das als Ladenhüter schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte. Nein, sie sollte etwas besonders Schönes bekommen, gerade weil sie auch ein besonderer Mensch ist. Ich wollte die Figur gerade wieder auf den Tisch zurückstellen, als abermals die Glöckchen anstimmten, was mich erneut in meiner Bewegung inne halten ließ. Ein paar Minuten stand ich regungslos da, dann ging ich wie in Trance den kurzen Weg zur Kasse und stellte den Engel vorsichtig auf die Ladentheke. Die Verkäuferin lächelte mir zu. „Ich packe ihn gut ein, damit er nicht zerbricht.“, erklärte sie mir und kramte Packpapier aus einer Schublade hervor. Ich ließ keinen Blick von der Figur, während sie diese sicher verschnürte. Irgendetwas jedoch verunsicherte mich und plötzlich wusste ich auch was: Die Glöckchen an der Harfe des Engels gaben kein Geräusch von sich. Dies kam mir sehr merkwürdig vor.

Nun erschien die ältere Frau von vorhin.
„Ich habe schon bemerkt, dass Sie sich nun doch für den Engel entschieden haben. Ich wünsche Ihnen viel Freude damit.“ Und zu der Verkäuferin gewandt: „Berechnen Sie nur den halben Preis, Luise.“

„Ich habe die Figur eigentlich nur gekauft, weil mich die klingenden Glöckchen an der Harfe faszinieren.“, antwortete ich, und sah, wie die ältere Frau mich verständnislos musterte. „Klingende Glöckchen?“, echote sie.
„Ja, der Engel hält eine Harfe und an den Seiten sind Glöckchen angebracht, die wunderschön klingen.“
„Die klingen? Sind Sie sicher? Ich höre das wohl schon gar nicht mehr.“
Still dachte ich mir, daß es wohl besser sei, dazu nichts mehr zu sagen. Am Ende würde man mich noch für verrückt halten. So verließ ich mit einem freundlichen Abschiedsgruß den Laden.
Draußen hatte es begonnen zu schneien.

Zuhause schaute ich mir in aller Ruhe meine Errungenschaften an. Karin würde sich über das rosenbedruckte Tuch sicher genauso freuen wie Lilo und Nina es ihrerseits auch mit ihren Geschenken taten. Bei Natalies Engel war ich mir immer noch nicht sicher. Ich packte ihn aus, um ihn mir nochmals genauer zu betrachten. Im Geschäft war ja die Beleuchtung ziemlich dunkel gewesen und vielleicht gefiel mir diese Figur ja bei Tageslicht gesehen viel besser? Noch während ich den Engel aus dem Papier wickelte, vernahm ich abermals dieses Klingen. Nein! Ich hatte mich also nicht verhört. Doch das Eigenartige blieb, denn als die Verkäuferin ihn in den Händen hielt, waren keine Glöckchen zu vernehmen.

Mit diesem Engel musste es eine besondere Bewandtnis haben, schoss es mir durch den Sinn. Aber welche? An Geister glaubte ich nicht, auch nicht an Zauberei. Was also hatte das alles zu bedeuten? Ich stellte die Figur auf den Küchentisch und betrachtete sie eingehend. Ja, sie war unscheinbar, und es wunderte mich keineswegs, dass sie bisher noch keinen Besitzer gefunden hatte. Bis jetzt! Vielleicht musste man sich erst an sie gewöhnen, dachte ich und stellte den Engel aus keinem bestimmten Grund auf meinen Nachtschrank.

Es war schon später Abend, doch ich fand keine Ruhe. Stefan, mein Mann, schlief neben mir bereits tief und fest. Ich hatte ihm von meinen Einkäufen berichtet, auch von dem Engel mit der Harfe und den sechs kleinen Glöckchen. „Willst du den etwa auch verschenken?“, lautete seine Frage. Eine Antwort darauf wusste ich im Moment selbst nicht, denn ich war mir noch immer unsicher, ob ich ihn nun Natalie schenken sollte oder nicht.

Plötzlich fühlte ich, wie allmählich die Müdigkeit von mir Besitz ergriff. Ich fiel in eine Art Dämmerschlaf, aus dem ich jedoch schon bald wieder unsanft gerissen wurde. Was hatte mich geweckt und wie spät mochte es eigentlich sein? Und noch während meine rechte Hand sich auf dem Wege zum Schalter der Nachttischlampe befand, bemerkte ich einen sanften Lichtschein von dort, wo die Figur stand. Und dann hörte ich sie: Die Glöckchen meines Engels. Ich zog meine Hand wieder zurück, ohne Licht gemacht zu haben.

„Ich werde dir ewig dankbar sein, Maria, denn du hast meinen Wert gleich erkannt. Ohne dich würde ich jetzt noch in diesem Laden stehen, unscheinbar und unbemerkt. Würde nach Weihnachten in einer Kiste verschwinden und mit all den anderen unverkauften Dingen mein Dasein fristen.“

Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte etwa der Engel mit mir gesprochen? Er kannte meinen Namen. „Warum sprichst du mit mir?“, fragte ich so leise, dass es sich schon eher wie ein Flüstern anhörte. Hoffentlich bekam Stefan neben mir nichts mit.
„Weil ich denke, dass du ein sehr feinfühliger Mensch bist. Dass du nicht nach Äußerlichkeiten strebst, sondern inneren Werten mehr Bedeutung beimisst. Das Läuten meiner Glöckchen haben viele Kunden vor dir auch schon gehört, doch sie hatten nicht einmal einen Blick für mich übrig, geschweige denn ein Ohr für die Musik. Bei dir war es gleich anders, und von dem Moment an konntest nur noch du die Glöckchen hören.“
„Ich hatte nicht vor, dich zu kaufen.“, antwortete ich nun wahrheitsgetreu.
„Das habe ich bemerkt, Maria, doch du wolltest dich meinem Zauber nicht entziehen.“, sagte der Engel in sanftem Ton. „Nun sollst du auch die Bedeutung meiner Glöckchen erfahren:

Das Erste steht für den Glauben an Gott, an das Gute im Menschen und somit auch an das Gute in uns, und an ein Leben nach dem Tod.

Das Zweite steht für die Hoffnung, die man niemals aufgeben sollte, auch wenn alles dagegen spricht. Es wird immer ein Morgen geben.

Das Dritte bedeutet Zufriedenheit, die in unseren Herzen dafür Sorge trägt, dass man auch mit kleineren Dingen im Leben auskommen kann, und nicht immer nach Perfektion streben sollte.

Das Vierte steht für Rücksicht und Achtung anderen Menschen gegenüber, insbesondere Kindern, Kranken und Notleidenden.

Das Fünfte sagt Menschlichkeit aus, die leider in der heutigen Zeit zunehmend seltener zu werden scheint. Seid nett zueinander und geht endlich dem ersehnten Frieden entgegen, bevor es zu spät ist.

Das letzte, und damit das Sechste, steht für die Liebe, ohne die im Grunde genommen gar nichts geht. Sie ist der „Schlüssel“ unseres Lebens. Sie gibt uns wieder Kraft nach einer langen Irrfahrt der Gefühle, schenkt uns Freude und Glück, doch manchmal auch Kummer und Schmerz. Aber der Verzicht auf sie ist unvorstellbar.“

Hier verstummte die Stimme und es war dermaßen still im Schlafzimmer, man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
„Das waren weise Worte“, erwiderte ich nach einer kleinen Pause und meine Stimme zitterte vor Rührung. „Jetzt weiß ich, daß ich für Natalie kein besseres Geschenk hätte auswählen können.“

„Dann hat auch mein Dasein endlich einen Sinn bekommen.“, sagte der Engel. „Ich wünsche dir ein gesegnetes Weihnachtsfest.“ Und wie zum Abschied und als letzten Gruß für mich hörte ich die Glöckchen klingen.

Am nächsten Morgen wachte ich früher auf als mein Mann. Mein Wecker stand auf 6:00 Uhr, es war Samstag. Rasch knipste ich das kleine Nachttischlämpchen an und schaute zu dem Engel hin. Er stand noch genauso da, wie ich ihn am Tage zuvor platziert hatte. Doch etwas war anders: Sein Erscheinungsbild hatte sich verändert. Er erschien mir mit einem Mal sehr schön und sein Gesicht strahlte in einem Glanz, der mir irgendwie vertraut vorkam. Die Worte „meines Engels“ drangen in mein Gedächtnis: „Ich werde dir immer dankbar sein, Maria….“

Hatte ich dieses nächtliche Erlebnis nur geträumt? Oder entsprach es der Wirklichkeit? Hatte meine Fantasie mir einen Streich gespielt?
Als ich die Figur nun in die Hand nahm, blieb alles still, keine Glöckchen erklangen und für einen Augenblick fühlte ich tiefe Traurigkeit.

Natalies Freude über mein Geschenk hätte nicht größer ausfallen können, und insgeheim fragte ich mich, ob sie vielleicht um die Bedeutung der sechs kleinen Glöckchen wusste?
Vielleicht - sie ist seit jeher eine kluge Frau.

Dann kam dieser Anruf von ihr, der mit der Frage endete: „Hat der Engel eigentlich auch einen Namen?“
Ich überlegte nicht lange und erwiderte: Ja! „Weisheit.“
_______
 

Kejacothie

Mitglied
Hallo Brigitte,

eine schöne Engelsgeschichte ist das. Sie hat mir sehr gefallen. Vor allem durch sehr fein geschriebenen zweiten Teil hast mich geführt.

Ich dachte immer, dass ich keine Engelsgeschichten mag. Diese hat mir gefallen.

Ein Stolperstein war am Anfang drin, schau mal:

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Nun fehlte nur noch das Geschenk für Natalie, der Freundin, mit der ich mich auf eine ganz besondere Art verbunden fühle. Da es schon fast

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täusche ich mich, gehört nach Natalie nicht - die -

LG. Kejacothie
 

Brigitte

Mitglied
Hallo Kejacothie,

es freut mich, dass dir die Engelgeschichte
gefällt. DANKE!

Zu "deiner" Stolperschwelle:
Nun fehlte nur noch das Geschenk für Natalie, der Freundin, mit der ich mich auf eine ganz besondere Art verbunden fühle. ----- Ist für meine Begriffe
richtig formuliert.
Andere Formulierung: Nun fehlte nur noch das
Geschenk für DIE Freundin, mit der...
oder Nun fehlte nur noch Natalie, die Freundin,
mit der....


Es wurde jedenfalls bisher noch nicht beanstandet, aber ich gehe der Sache mal auf den Grund und frage
einen guten Schreibfreund.

Bis dann nochmals Dank fürs Lesen und Kommentieren.
Alles Gute und
liebe Grüsse
Brigitte
 

Eve

Mitglied
Hallo :)

"Nun fehlte nur noch das Geschenk für Natalie, [red]die [/red]Freundin, mit der ich mich auf eine ganz besondere Art verbunden fühle."

Meiner Meinung nach muss es DIE heißen, weil es sich auf Natalie bezieht, die ... anders wäre es bei "eine Freundin, der ich mich besonders verbunden fühle".

Viele Grüße,
Eve
 

Brigitte

Mitglied
Hallo Zusammen,

es heißt in diesem Falle wirklich DER Freundin,
habe einen Schreibfreund gefragt, der viel lektoriert und der bestätigte es.

DIE passt da einfach nicht hin. Einzige Möglichkeit
wäre die:
Nun fehlte nur noch das Geschenk für Natalie, einer Freundin, ......

Wie würde sich das anhören?

Liebe Grüsse
Brigitte
 



 
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