Ein denkwürdiger Fall

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Raniero

Textablader
Ein denkwürdiger Fall

Gangolf Namreh hatte die Fassung verloren.
Vor seinen Augen rollte sein PS-starkes Automobil langsam von der werksinternen Parkfläche, die außer ihm nur noch wenig hochgestellten Mitarbeitern vorbehalten war, wie von Geisterhand gesteuert auf die Werksstraße und von dort aus langsam auf das Haupttor der Fabrik zu, und er konnte dieses nicht verhindern.
Während sein schönes Auto offensichtlich entführt wurde, saß er machtlos am Schreibtisch im dritten Stock des Verwaltungsgebäudes, von wo er einen guten Ausblick über das gesamte Fabrikgelände genoss und blickte konsterniert seine Fahrzeug unten hinterher.
Er hatte, da er im Moment durch seine Sekretärin abgelenkt wurde, nicht genau gesehen, wie der dreiste Autodieb sich seines heißgeliebten Renners bemächtigen konnte, und so sah er nur noch, als er zufällig nach unten blickte, wie sich das Gefährt in Bewegung setzte.
Mit kalter Wut griff er zum Telefon, um den Werksschutz zu informieren.
Besetzt! Auch das noch.
Das konnte doch nicht wahr sein.
Blitzschnell verließ Gangolf Namreh sein Büro und stürzte die Treppen hinab, den Aufzug vermeidend, der sowieso stets besetzt war. Unten angekommen, nahm er das kurze Stück bis zur Werkseinfahrt im Laufschritt und sah gerade noch, wie der diensthabende Pförtner aus seinem verglasten Häuschen heraus seinen Wagen durch die offene Schranke hindurchwinkte.
Als er an der Pförtnerloge eintraf, war das Auto bereits nach rechts in den fließenden Verkehr eingebogen.
In äußerster Erregung betrat Gangolf das kleine Gebäude.
Der Werkschutzbeamte war sehr verblüfft, als er den vor Zorn schnaubenden Namreh vor sich sah, allerdings weniger über die Tatsache, dass dieser vor Wut schnaubte, sondern darüber, ihn hier in seiner Loge zu sehen.
„Sie hier, Herr Namreh?“ stammelte der Pförtner und wechselte die Gesichtsfarbe, als hätte er einen Geist vor sich.
„Wo soll ich denn sonst sein, Sie Penner!“ herrschte Nahmreh den verwirrt dreinblickenden Beamten an, „wenn Sie nicht richtig reagieren, Sie trübe Tasse! Wie konnten Sie meinen Wagen hier durchwinken, wenn Sie gleichzeitig sahen, dass ich nicht darin saß?“
Der Pförtner wurde körperlich immer kleiner und hilfloser, hinter seiner kleinen Empfangstheke.
„Was sollte ich denn machen..“, begann er zu stottern, doch Namreh war nicht zu bremsen.
„Sie kennen doch wohl meinen Wagen, Sie Hirsch, nicht wahr? Und mich kennen Sie doch auch, oder nicht?“
Der arme Beamte nickte nur und begann zu schwitzen.
„Wie lange kennen Sie mich, mein lieber Freund?“
Der liebe Freund bekam kein Wort heraus, sodass Namreh die Frage selbst beantwortete.
„Über vier Jahre kennen Sie mich!“ donnerte er los, „und über vier Jahre lang wissen Sie, dass ich jeden Tag mit meinem Privatwagen ins Werk fahre, am Morgen, auf meinen werkseigenen Parkplatz, ich habe schließlich das Recht dazu, und am Abend auf dem gleichen Weg wieder hinaus. Wie kommt es dann“, wurde die Stimme Gangolfs nun schneidend, „dass Sie mein Auto hier herauslassen, obwohl Ihnen doch klar gewesen sein muss, dass mein Wagen gestohlen wurde, da ich selbst nicht darin saß? Sie hätten den Wagen anhalten müssen, Sie Trottel!“
„Ich dachte“, setzte der Pförtner zu einer Erklärung an, doch Namreh schnitt ihm das Wort ab.
„Was Sie dachten, ist uninteressant, Sie sollen aufpassen! Ist Ihnen denn gar nicht der Gedanke gekommen, Menschenskind, dass etwas nicht stimmen könnte, weil ein Fremder in meinem Fahrzeug saß und nicht ich? Sie hätten den Wagen festhalten und mich sofort benachrichtigen müssen.“
Der Pförtner holte tief Luft.
„Es saß kein Fremder in Ihrem Wagen, Herr Namreh.“
„Was sagen Sie da? Kein Fremder? War es einer aus der Fabrik? Haben Sie ihn erkannt? Jetzt beklauen einen schon die eigenen Kollegen. Wer war es, sprechen Sie schon, Mann!“
„Es war kein Kollege, Herr Namreh“.
„Wer war es denn, Mann Gottes! Verdammt noch einmal, lassen Sie sich doch nicht die Würmer einzeln aus der Nase ziehen!“
Der Beamte nahm all seinen Mut zusammen:
„Sie saßen selbst drin, Herr Namreh, ganz allein.“
Endlich war es heraus.

Nun war es an Gangolf Namreh, zu erbleichen, vor Wut.
Er blickte den Pförtner an, als habe dieser nicht alle Sinnen beisammen.
„Haben Sie einen Knall?“ explodierte er, so laut, dass die Glaswände des kleinen Gebäudes bedenklich zitterten, „sind Sie betrunken? Wo haben Sie den Schnaps versteckt?“
Der arme Werksschützer machte sich noch kleiner und wies nur stumm auf die Überwachungskamera an der Außenfassade, die alle Bewegungen durch das Fabriktor registrierte, und anschließend auf seinen Monitor hinter der Theke.
Namreh verstand.
„Sehen Sie selbst, Herr Namreh“, flüsterte der Beamte, schlotternd vor Furcht.
Gangolf trat hinter die Theke und blickte auf den Bildschirm. Der Pförtner ließ das Registrierband ein wenig zurücklaufen und startete es dann erneut.
Gangolf Namreh verstand die Welt nicht mehr, als er sich selbst allein in seinem Wagen herannahen und in höflicher Weise abwarten sah, statt mit einer herrischen Bewegung, so wie er es immer tat, den Pförtner aufzufordern, den Weg freizugeben.
Er konnte sich beides nicht erklären, weder das erste noch das letztere.
„Das kann doch nicht wahr sein“, flüsterte er entsetzt, das glaube ich einfach nicht.“
Unzählige Male ließ er den Beamten das Band vor -und zurückrollen, gemeinsam kontrollierten sie die mitlaufende Uhrzeit nebst Datumsangabe auf dem Bildschirm.
Es gab keinen Zweifel, stellte Namreh mit Grausen fest:
Er selbst und kein Anderer, so hatte es die unbestechliche Kamera eindeutig festgehalten, hatte vor einigen Minuten das Werksgelände mit seinem Wagen mit unbekanntem Ziel verlassen, obwohl er sich zur gleichen Zeit offensichtlich noch in der Fabrik befand.
Gangolf Namreh fasste sich an die Stirn und verlangte nach einem Schnaps, den der Pförtner augenblicklich hervorzauberte. Nach dem Genuss des hochprozentigen Getränkes verließ Namreh ein wenig schwankend das Pförtnerhäuschen, wortlos, zu nichts mehr fähig, und stolperte mühsamen Schrittes zurück zur Verwaltung, um sich in seinem Büro zu vergraben. Dem Wahnsinn nah blickte er von oben vorsichtig aus dem Fenster und glaubte, nun endgültig einen Herzstillstand zu erleiden. Auf seinem firmeneigenen Parkplatz stand, genau an der Stelle, wo es immer zu stehen pflegte, sein Automobil, so als sei nichts geschehen.
Gangolf Namreh griff zu den Tabletten, die er stets bei sich trug.

Gleichsam wie in Trance verließ er am späten Nachmittag sein Büro und stieg behutsam und äußerst vorsichtig in sein Fahrzeug, voller Misstrauen, dass dieses sich von selbst in Bewegung setzen könnte. Wie er es fertig brachte, aus der Fabrik, vorbei an der Pförtnerloge des Werksschutzes, aus der nun der Kollege der Spätschicht ihn ehrerbietig grüßte, heraus- und bis nach Hause zugelangen, blieb ihm ein Rätsel.
Zu Hause angekommen, hatte er sich ein wenig erholt und einigermaßen in der Gewalt.
Gangolf, der in der Fabrik das große Sagen hatte, fasste den Entschluss, seiner Frau vorerst nichts von dem unerklärlichen Geschehnis zu berichten....
Stattdessen nahm er sich vor, schnellstmöglich einen Arzt zu konsultieren, um mit dessen Hilfe dem unglaublichen Phänomen auf die Spur zu kommen.
Zuerst dachte er folgerichtig daran, einen Psychiater aufzusuchen, denn das, was erlebt hatte, war in der Tat ein Fall für einen solchen, aber nach näherer Betrachtung verwarf er diesen Gedanken, da seiner Meinung nach nur Verrückte zu einem Seelenklempner gingen, und verrückt war er doch nun wirklich nicht, nicht er, Gangolf Namreh!
So kam für ihn nur ein Weg für ihn in Frage; der Weg zu seinem guten alten Hausarzt Dr. Trahtnaht. Dieser Arzt kannte ihn schon sehr lange und hatte bisher all seine körperlichen Wehwehchen heilen können, ihm würde er sich vorsichtig offenbaren, sehr vorsichtig, dann würde sich schon ein Weg finden lassen.
Und, außerdem, war nicht jeder Arzt, gleich, mit welchen Beschwerden der Patient zu ihm kam, zur Schweigepflicht verdonnert?

Gesagt, getan; schon für den nächsten Tag vereinbarte er einen Termin mit seinem
Hausarzt.
Dr. Trahtnaht staunte nicht schlecht, als ihm sein Patient von der merkwürdigen Begebenheit am Vortage berichtete, doch geduldig, wie es nun einmal des Arztes Pflicht ist, hörte er sich alles schweigend von Beginn bis zum Schluss an.
Als Gangolf seine Erzählung geendet hatte, setzte Dr. Trahtnaht eine Miene des Bedauerns auf.
„Lieber Freund, ich kenne Sie nun schon sehr lange, und aufgrund dessen bin ich davon überzeugt, dass das, was Sie mir soeben geschildert haben, den Tatsachen entspricht, oder zumindest, dass Sie daran glauben, dass es tatsächlich so geschehen ist.“
Namreh wollte schon aufbrausen und auf seinen Hausarzt losgehen, als dieser ihn mit einer Handbewegung zurückwies.
„Aber nicht doch, mein Lieber, wer wollte denn in die Luft gehen“, beschwichtigte der Arzt seinen Patienten, „es liegt mir fern, Ihre Urteilskraft in Zweifel zu ziehen.Ich möchte damit nur zum Ausdruck bringen, dass mir ein solcher Fall bisher noch nicht untergekommen ist, und ich muss Ihnen auch ganz ehrlich sagen, dass dieses alles sozusagen meinen Rahmen sprengt. Sehen Sie, ich fühle mich zuständig für Ihre physischen Leiden, die selbstredend oftmals auch mit psychischen Beschwerden einhergehen können, doch das, was Sie erlebt und erlitten haben, bester Freund, da bin ich mit meinem Latein am Ende, im wahrsten Sinn des Wortes.“
Gangolf musste wohl oder übel einsehen, dass der Hausarzt Recht hatte; körperliche Beschwerden verspürte er nicht, oder jedenfalls noch nicht, seit diesem denkwürdigen Vorfall.
„Ich will Sie aber keinesfalls im Regen stehen lassen“, setzte der Arzt fort, „ich gebe Ihnen mal die Adresse eines Kollegen, eines sehr guten Arztes für Psychotherapie. Er hat nicht nur einen außerordentlich guten Ruf als Facharzt, er wird diesem auch in hohem Maße gerecht.
Das war es gerade nicht, was Gangolf wollte, wiederum jedoch musste er einsehen, dass wohl oder übel kein Weg an einem solchen Fachmann vorbeiführe.

„Bitte, nehmen Sie Platz, machen Sie es sich bequem und entspannen Sie sich. Wo drückt der Schuh des Manitou? “, lud Dr. Peinlöser, der Facharzt für Psychotherapie mit dem ausgezeichneten Ruf seinen neuen Patienten ein, auf der Couch in seinem Behandlungszimmer Platz zu nehmen.
Gangolf war nicht gering erstaunt, über diese Begrüßung einerseits, und andererseits über die unvermittelte Art, ihn direkt auf die Couch zu verfrachten.
Ein wenig widerstrebend legte er sich nieder, voll Anspannung und Verkrampfung; stockend begann er, von dem Unglaublichen, was ihm widerfahren war, zu berichten.
Der Arzt, ein energisches ältliches Männlein in den Siebzigern, hörte schweigend zu und hielt die Augen geschlossen.
Als Gangolf mit seiner Erzählung geendet hatte, verzog Dr. Peinlöser keine Miene und hielt weiterhin die Augen geschlossen, sodass Gangolf Namreh schon befürchtete, dieser sei eingeschlafen, vor Langeweile, doch mit einem unvermuteten Ruck löste sich der Arzt aus seiner gedankenverlorenen Haltung:
„Sagen Sie einmal Herr Namreh, besuchen Sie regelmäßig einen Stammtisch?“
Gangolf war auf einiges vorbereitet, bei diesem Besuch, nicht aber auf eine solche Frage.
„Wie kommen Sie denn darauf, was ist das denn für eine Frage? Was hat das denn mit meinem Problem zu tun?“
„Antworten Sie bitte zuerst, ich erkläre es Ihnen später.“
„In der Tat gehe ich regelmäßig zu einem Stammtisch, in meiner Stammkneipe, jeden Freitagabend“, gab Gangolf verärgert preis, „aber ich verstehe immer noch nicht..“
„Und was besprechen Sie dort, an diesen Abenden“, schnitt ihm der Psychotherapeut das Wort ab, „können Sie mir einige Beispiele nennen?“
Gangolf konnte sich keinen Reim darauf machen, was seine Stammtischabende mit dem Besuch hier zu tun haben sollten, doch fühlte sich zu unsicher, um erneut zu protestieren.
„Na ja, wir sprechen halt so über dieses und jenes“, begann er vorsichtig, „alles, das, was so an aktuellem Tagesgeschehen unter den Nägeln brennt.“
„Sprechen Sie nur darüber, stellen Sie es nur dar, oder gibt es auch Ansätze, Vorschläge zu Problemlösungen?“
„Oh, nicht nur das, Herr Doktor“, geriet Gangolf in Fahrt, „wir haben es uns zum Ziel gesetzt, jedes Problem, was auf den Tisch kommt, zu lösen, zumindest verbal. Sie müssen wissen, die Welt von heute ist schlecht, Herr Doktor, viel schlechter als zu der guten alten Zeit, zu unserer Zeit nämlich, ich meine, als wir jung waren“, kniff Gangolf seinem Seelendoktor ein Auge zu, „man sollte uns mal dran lassen, nicht wahr, dann sähe sie anders aus, die Welt, heute.“
Der Psychologe sagte eine Zeitlang nichts, nach diesem resoluten Statement; gedankenverloren blickte er an die Zimmerdecke.
Plötzlich jedoch richtete er seinen Blick auf den Patienten auf seiner Couch.
„Genau das, lieber Herr Namreh, ist Ihr Problem, das heißt, von nun an ist es unser gemeinsames Problem, Ihres und meines, für das wir eine Lösung suchen, wenn Sie mich Ihnen helfen lassen.“
„Sie gehen Recht mit mir in der Annahme, dass die Welt von heute das Problem ist“, freute sich Gangolf, einen Arzt gefunden zu haben, der mit ihm fühlte, der dachte, wie er selbst, „wollen wir gemeinsam das Problem resp. die Probleme lösen?“
Dieser Psychiater war noch besser, als sein Ruf, das konnte er nur bestätigen.
„Sie missverstehen mich, werter Herr!“
Die Stimme des Arztes wurde ein wenig scharf, im Tonfall, „nicht die Welt von heute ist das Problem, sondern Sie selbst; Sie und Ihresgleichen mit Ihren Stammtischen, hier und überall auf diesem Erdboden!“
Gangolf Namreh fuhr wie von der Tarantel gestochen, von der Couch hoch.
„Was erlauben sie sich?“ fauchte er den Arzt an, „ich bin schließlich Ihr Patient, und ich bin hierhin gekommen, damit Sie mir helfen, nicht dass Sie mich beschimpfen. Immerhin... “
Wütend hielt er im Satz inne und verschluckte den Rest, doch der Seelenheilkundige las es ihm aus dem Gesicht.
„Immerhin bezahle ich auch dafür“, ist es das was Sie sagen wollten?“ fragte er den Patienten mit süffisantem Lächeln.
Gangolf Namreh war mehr als sprachlos; mit offenem Mund starrte er den Psychotherapeuten an. In dieser Weise hatte es noch nie jemand gewagt, mit ihm zu sprechen.
Der Arzt fuhr jedoch ungerührt fort.
„Eben genau solche Zeitgenossen wie Sie, lieber Herr Namreh, und es gibt viele von diesen, auf dem weiten Erdenrund und speziell in diesem Lande, viel zu viele übrigens, würde ich behaupten, stellen das eigentliche Problem dar. All diese selbsternannten Problemlöser, diese Typen, die auf jede, aber auch jede Frage eine Antwort haben, die exakt alle Wege kennen, Abhilfe zu schaffen, solange sie nicht selbst dafür Sorge tragen müssen, deren Credo stets mit der Formulierung beginnt ‚Man müsste doch einfach nur.......und schon ist das Problem gelöst‘, all diese besserwissenden und rechthaberischen Personen bilden das eigentliche Übel der heutigen Zeit, nicht die heutige Zeit selbst ist es. Ein kluger Kopf hat einmal das Charakteristische dieser Spezies in eine griffige Formel gebracht:
Es gibt Zeitgenossen, die nichts verstehen, aber alles erklären können“.
Der Arzt machte eine kleine Pause und sah seinen Patienten unverwandt an.
Dann sprach er weiter:
„Und nun kommen wir zu Ihnen, Herr Namreh. Diese merkwürdige Begebenheit, von der Sie mir eingangs berichteten, beruht schlicht und ergreifend auf der Tatsache, dass Ihr zweites Ich, Ihr Alter Ego, sich gemeldet hat und sozusagen aus der engen Umklammerung, in der Sie es gefangen hatten, ausgebrochen ist, und zwar im wahren Sinn des Wortes. Ihr Alter Ego war es, welches Ihren Wagen nahm und sich einen Weg heraus aus der Umklammerung gesucht hat, bis hinaus aus dem Fabriktor; nicht Sie selbst saßen in diesem Wagen, sondern Ihr anderes, Ihr gegensätzliches Ich“.
Bei dieser Erklärung blickte Gangolf Namreh den Arzt an, als hätte dieser nicht alle Tassen im Schrank, und er fragte sich ernsthaft, ob dieser Besuch nicht doch hätte unterbleiben können, doch der Seelenfreund ließ nicht locker:
„Ich erwähnte soeben, dass es viele Menschen, verzeihen Sie, Herr Namreh, Ihrer Art gäbe, doch zum Glück für uns Psychologen und wenn man so will auch für den anderen Teil der Menschheit, der nicht vom Bazillus der Rechthaberei befallen ist, hat die Natur, so will ich es einmal nennen, eine Art Bremse eingebaut; eine Bremse, um Sie zur Besinnung zu bringen, werter Herr, denn als nichts anderes ist das zu deuten, was Ihnen widerfahren ist. Die Natur hat Ihnen, indem sie Ihnen Ihr Alter Ego vor Augen geführt hat, einen Weg aufgezeigt, einen Weg, wie Sie vom Lenker - Sie sind doch bestimmt in einer lenkenden Tätigkeit in Ihrem Beruf - zum Denker werden. Natürlich bedarf es zu diesem Ziel noch weiterer Schritte, doch der Anfang, so scheint es, ist gemacht.
Gangolf Namreh war erschüttert, bis in die Grundfesten seines besserwisserischen Glaubens.
Unzählige Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er hatte sein anderes Ich gesehen, mit eigenen Augen. Die Natur forderte ihn auf, innezuhalten. Er, der bisher nur gelenkt hatte, sollte zum Denker werden.
Der Arzt wartete geduldig, bis Gangolf sich wieder gefasst hatte.
Schließlich streckte er ihm seine Hand entgegen.
„Wann fangen wir an, Herr Namreh?“
„Anfangen, womit, Herr Doktor?“
„Mit den ersten Sitzungen, natürlich; es ist ein beschwerlichen Weg vom Lenker zum Denker.“
Gerührt drückte Gangolf die Hand seines Retters.
„Gleich morgen, gleich morgen“, flüsterte er.

Als Gangolf Namreh am nächsten Morgen die Praxis seines Psychotherapeuten aufsuchen wollte, schoss ihm dieser auf dem Gehweg entgegen, laut fluchend, am Lenker seines Fahrrades; den Gruß seines Patienten ließ er völlig außer acht.
Verwundert nahm Gangolf die Treppenstufen zur ersten Etage, um sich bei der Sprechstundenhilfe zu erkundigen, ob es eine Terminänderung gäbe und wohin der Herr Doktor so zeitig am Morgen hineile, auf dem Fahrrad.
Seine Verwunderung stieg ins Grenzenlose, als der Arzt ihm persönlich die Tür öffnete.
„Da draußen, auf dem Fahrrad“, stammelte Gangolf,
„Das war mein Alter Ego“, vollendete Dr. Seelenpein den Satz und geleitete seinen Patienten zu Sitzung.
 
M

Minotaurus

Gast
Dr. Seelenpein ist schon ein köstlicher Name für einen Therapeuten. :D
Der Charakter des Haupt-Protagonisten kommt gut rüber.
Sehr sauberer Schreibstil, habe nur einen Leichtsinnsfehler gefunden:
"und blickte konsterniert seine(m) Fahrzeug unten hinterher."

Lediglich das Ende fand ich - nach dieser lebhaften Geschichte - etwas flach, aber das ist vielleicht nur mein ganz persönlicher Eindruck. :confused:

viele Grüße vom Monotaurus.
 



 
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