Ein deutsches Volkslied

Libell

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"Erkennen Sie hier in diesem Raum den wieder, der die Unfallstelle verlassen hat?" Der Richter beugte sich vor und sah die Zeugin Christina Engelhof gespannt an. Es ging um Fahrerflucht, unerlaubtes Entfernen vom Unfallort im Zusammenhang mit unterlassener Hilfeleistung und fahrlässiger Tötung. Christina schaute sich im Gerichtssaal um, alle starrten sie an, der Richter, der Staatsanwalt, die beiden Schöffen, die Protokollführerin, der Verteidiger, der Gerichtsdiener, die Zuschauer und... er. Er, der Angeklagte. Sie begegnete seinem Blick. Hellblaue Augen mit seltsam kleinen Pupillen unter buschigen Brauen, darunter ein schmallippiger Mund mit asymmetrisch nach unten gezogenen Mundwinkeln. Er starrte sie noch genauso herrisch an wie damals vor zwanzig Jahren.

Damals, als sie noch Schülerin war und in die letzte Klasse vom Gymnasium ging. Christina fühlte etwas in sich aufsteigen. Sie war schon einmal so angestarrt worden. Es waren die Gefühle von aus jenen Tagen. Studienrat Dieter von P. war in jenen Tagen ihr Klassenlehrer und unterrichtete Deutsch und Musik. Sie hatte ihn gehaßt. Wenn er die Klasse betrat, mußten die Schüler aufstehen und im Chor: "Guten Morgen Herr von P.!", rufen. Er liebte es, mit den Schülern zackige Volkslieder zu singen. "Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord", das war sein Lieblingslied. Sie hörte die Klasse singen, nicht schön aber laut. Vor allem laut. Und bei "Ahoi Kameraden! Ahoi, ahoi", da bestand von P. immer darauf, daß das Wort "Kameraden" besonders zackig geschmettert wurde. "Es heißt Ka-me-ra- den und nicht "Gamaradn"! Hier wird nicht genuschelt, hier wird ein deutsches Volkslied gesungen!"

Ein deutsches Volkslied. Sie hatte sich damals geschüttelt. Sie haßte deutsche Volkslieder. Sie haßte überhaupt jede Deutschtümelei. Sie sang einfach nicht mit. Von P. hatte das sofort bemerkt. Was ihr einfiele, nicht mitzusingen. "Hier klinkt sich keiner aus, nicht bei mir!" Sie stammelte etwas von "hab einen Frosch im Hals" und starrte auf den Fußboden. "Wir üben das!" Studienrat von P. stellte sich direkt neben sie und die Klasse mußte das Lied noch einmal von vorn beginnen. Christina bewegte die Lippen, aber sie sang nicht. Von P. brach das Lied ab. "Unsere liebe Christina wird uns jetzt die Strophe einmal solo vorsingen, steh auf!" Christina rappelte sich hoch. Sie sollte singen, ganz allein vor der Klasse, vor all den Mädchen und vor all den grinsenden Jungen? Alle starrten sie an, es wurde ganz still in der Klasse. Sie wurde puterrot und räusperte sich, dann gab sie sich einen Ruck und fing mit spröder Stimme an zu singen. Sie sang klar und akzentuiert, aber als sie zum Refrain "Ahoi Kameraden! Ahoi, ahoi" kam, sang sie absichtlich und so nuschelig wie sie nur konnte: "aoi Gamaradn, aoi, aoi". In den Augen ihrer Mitschüler blitzte etwas auf. Sie begriffen. Das war Rebellion, Protest, Widerstand. Studienrat von P. starrt sie an mit hellblauen Augen und kleinen Pupillen. Die buschigen Brauen zogen sich zusammen, über der Nase bildete sich eine senkrechte Querfalte. Von P. war wütend. Christina mußte alle Strophen des deutschen Volksliedes singen, jedesmal sang sie beim Refrain "aoi Gamaradn". Dann, endlich, durfte sie sich setzen. Von P. wippte auf den Fersen auf und ab: "Gamaradn, so so, aoi Gamaradn." Er schritt zum Klassenbuch, schlug es auf und trug eine Sechs ein.

Christina hatte mit dieser Aktion zwar kurzzeitig die Anerkennung ihrer Mitschüler gewonnen, aber von P. hatte ihr niemals verziehen. Er sorgte dafür, daß sie auch in Deutsch schlechte Noten bekam. Sie konnte sich anstrengen wie sie wollte, nichts bestand vor seinen kritischen Augen. Die Schule wurde für sie zur Qual. Sie ging ein halbes Jahr vor dem Abitur ab, trampte durch Frankreich und Kanada, kam zurück und jobbte als Kontoristin in verschiedenen kleinen Büros. Ihre ehemaligen Mitschüler studierten, erwarben Diplome und Doktortitel, eröffneten Kanzleien und machten Karriere. Christina tippte Briefe, deren Texte ihre Chefs ihr diktiert hatten. Mit dreißig heiratete sie einen Buchhalter, wurde Hausfrau und bekam zwei Kinder.

Und dann der Tag vor einem halben Jahr. Sie war abends zu Fuß im Dunkeln auf dem Heimweg von einem Volkshochschul-Kursus. Ein Fahrzeug überholte sie und den jungen Mann auf dem Mofa vor ihr. Ein Schlenker, ein Krachen, ein Schrei. Der Junge lag blutend auf der Straße. Der Autofahrer hielt an, stieg aus, kam zögernd auf den Jungen zu und beugte sich über ihn. Als sie heran gelaufen kam, sah der Mann hoch, drehte sich um und hastete zum Auto zurück. Sie dachte, er hätte sicher ein Telefon im Auto und würde einen Rettungswagen rufen. Aber der Mann sprang ins Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Sie konnte sich gerade noch einige Buchstaben des Nummernschildes merken. Der Junge verblutete.

Die Polizei ermittelte aufgrund von Christinas Angaben den Halter des Fahrzeuges. Dieter von P. Er hatte die Lackschäden am Fahrzeug zwar bereits in einer Autowerkstatt reparieren lassen, aber die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen ihn. Von P. stritt alles ab. Die Lackschäden wären durch einen Wildunfall verursacht worden. Er sei niemals durch die bewußte Straße gefahren. Die Zeugin müsse sich irren. Aber sie hatte sich nicht geirrt. Sie hatte ihn im Schein der Straßenleuchte unzweifelhaft erkannt. Dieter von P., inzwischen Studiendirektor, aufgestiegen zum Rektor des Bismarck-Gymnasiums, anerkanntes Mitglied der konservativen Partei im Stadtrat. Für von P. wäre eine Verurteilung wegen Fahrerflucht eine Katastrophe. Sie wußte nicht, ob die Schulbehörde gegen ihn ein Disziplinarverfahren einleiten würde aber die politische Karriere wäre für von P. vorbei. Welche Partei würde einen wegen Fahrerflucht Vorbestraften für die nächste Wahl aufstellen? Wenigstens nicht von P.s Law and Order Partei. Christinas Mann hatte ihr ins Gewissen geredet: "Überleg dir, ob du wirklich gegen von P. aussagen willst. Du hast den Mann doch abends im Dunkeln kaum gesehen, du kannst dich irren und wenn du den beschuldigst, dann ist für ihn die Karriere und alles vorbei." Christina hatte nur genickt. Sie wollte es sich überlegen. Hatte sie den Autofahrer wirklich so genau gesehen? Sollte sie die glänzende bürgerliche Existenz des Dieter von P. vernichten? Sie konnte immer noch einen Rückzieher machen und sagen, sie habe sich geirrt.

Ihr wurde bewußt, daß sie immer noch im Gerichtssaal stand. Der Richter wiederholte die Frage: "Frau Engelhof, erkennen Sie hier im Raum den Mann wieder, der sich vom Unfallort entfernt hat?" Christina nickte, ging ein paar Schritte auf von P. zu, deutete mit dem Finger auf ihn und sagte mit fester Stimme: "Dieser Mann hier." Und leise, so daß es nur von P. hörte, fügte sie hinzu: "Ahoi Kameraden!".
 

Antaris

Mitglied
Alte Kameraden

Hallo Libell,

auch wenn sprachlich noch ein paar Details überarbeitet werden könnten, der plot der Geschichte ist klasse! Das Lesen hat so richtig Spass gemacht!

Mit schadenfroh solidarischen Grüßen

Antaris
 
M

Monfou

Gast
gute struktur - eindimensionaler charakter

Hallo Libell,

ich finde, die Geschichte ist schön aufgebaut, eine klare Szene, die im Grunde nur ein paar (Gedanken-)Augenblicke dauert.

Was heikel ist: Es ist m.E. eine zu klare Schwarz-Weiß-Malerei. Natürlich sind wir alle gegen diesen fiesen Lehrer, aber die Person wirkt durch die Beschreibung zu eindeutig und damit etwas unglaubhaft, es wäre jedenfalls klug, diesem Studienrat und späteren Studiendirektor auch etwas anderes als negative Züge zu verleihen.
Etwas kontruiert ist die Szene, in der der Lehrer flieht, nachdem ausgerechnet die Schülerin ihn gesehen hat. Also erst steigt er aus seinem Wagen, dann lässt er sich von seiner ehemaligen Schülerin sehen (Ja, der Zufall) und jetzt begeht er Fahrerflucht. So was mag es geben (was passiert nicht alles Verrücktes und Unwahrscheinliches in der Welt), man müsste es aber noch selbstverständlicher hinkriegen.

Der Schluss ist gut pointiert.

Herzliche Grüße

Monfou
 

bassimax

Mitglied
hallo libell!

die geschichte ist dir gut gelungen. sie ist flüssig ge-
schrieben, ich mag deinen stil. ausserdem bin ich sowieso
ein anhänger erklärender rückblenden. nur eine anmerkung:
ich hätte den namen des lehrers ausgeschrieben.
liebe grüsse
sebastian
 

Libell

Mitglied
Erinnerungen sind subjektiv

Hallo Monfou,

Erinnerungen sind subjektiv, gerade die mit starken Emotionen verbundenen Erinnerungen. Nach zwei Jahrzehnten erinnert sich meine Hauptperson Christina an das Verhalten ihres ehemaligen Klassenlehrers. Christina soll auf eine Frage antworten und während sie sich die Antwort überlegt, überfluten sie Gefühle. Und diese Gefühle sind überaus negativ.

Ich wollte ganz bewußt keine psychologisch abgewogene Charakterstudie entwerfen. Ich wollte kein Verständnis für den Lehrer wecken, ich habe mir die Freiheit genommen, ihn negativ darzustellen. Das war so gewollt. Hätte ich eine längere Erzählung geschrieben, hätte ich ein differenzierteres Charakterbild entwickelt. Dies war aber hier in dieser kleinen Story nicht meine Absicht.

Libell

PS Heute las ich in der Zeitung, daß jeder vierte Verursacher eines Verkehrsunfalles Fahrerflucht begeht.
 



 
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