Ein dissonanter Aufschrei

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Inni

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Ein dissonanter Aufschrei

„Gute Nacht, Harald.“ Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich dich zuletzt mit deinem Namen ansprach. Du sagtest Schatz, ich sagte Schatz, und die seltenen harmonischen Momente unserer Ehe bestanden darin, wenn wir beide gleichzeitig Schatz sagten.
Was sich deine Mutter wohl dabei dachte, dich Harald zu nennen. Du warst alles andere als ein Heerführer, ein Krieger, ein Kämpfer oder ein Herwald, sondern hattest mittlerweile eher das Gemüt eines Waldrehs, menschenscheu, introvertiert und eigenbrötlerisch; doch selbst ein Bock gab sich mehr Mühe saisonale Hormonrückstaus und Fortpflanzungstriebe zu kompensieren; bei dir gab es weder Pflicht noch Kür, weder Lust noch Frust. Diese unschuldigen, rehbraunen Augen, dieser Dackelblick ließen mich fast Mitleid mit dir haben; deine graubraune Haut, im Winter wie im Sommer, weckten in mir nur noch mütterliche Instinkte „Kind, iss den Teller auf, du musst groß und stark werden.“

Immer wenn ich dich ansah, schaute ich in den Spiegel; Stillstand hatte ein Gesicht und die Entwicklung dahin trug unsere Namen. „Schau dir doch mal Hera Lind an...“, hörte ich mich sagen, während ich dir deine Zigaretten ans Bett brachte, „...sie schreibt nebenbei Romane, landet mit ihren männlichen Protagonisten im Bett und schafft alles spielend nebenbei. Tolles Haus, toller Job, tolle Kinder, tolle Frau und tolle Männer.“ Ich konnte Hera Lind nicht ausstehen und weigerte mich ihren Superweib-Nonsens zu lesen. Stattdessen versuchte ich mich daran zu erinnern, was mich auf dich reinfallen ließ, stellte aber im nächsten Augenblick fest, dass es unmöglich war dich mit Vergangenheitsaugen zu sehen. Vielleicht warst du immer noch derselbe, nur ich hatte mich verändert, oder es war gerade umgekehrt. Wahrscheinlicher war, dass wir beide dieselben waren und unser Lied nicht mehr hören konnten. Als ich mir damals „Born to be alive“ von Patrick Hernandez kaufte, spielte ich die Scheibe tagelang leidenschaftlich rauf und runter, zwei Wochen später ertrug ich sie schon nicht mehr und nach einem Monat tauschte ich Patrick gegen Santa Esmeralda „Don´t let me be misunderstood“.

Ich hatte mich damals gewundert, als deine Ex bei mir anrief und sich dafür bedankte, dass du nun jemand anderen gefunden hattest. Sie beglückwünschte sich lautlos, indem sie mir lauthals zur reibungslosen Übernahme eines Pflegefalls die Hand reichte. Erst viel später verstand ich, warum sie sich ohne ein Fünkchen Verlustangst, verletzter Eitelkeit und Eifersucht aufrichtig freute dich endlich los zu sein. Sie konnte mit dem Wissen, dich in gute Hände abgegeben zu haben, viel ruhiger schlafen; schließlich solltest du nicht vor die Hunde gehen. Ein paar Tage später packte sie deine Sachen inklusive Herkunftspapiere und Impfpass, um dich dann endgültig bei mir abzuliefern. Die Probespaziergänge hatten wir mit Bravour gemeistert und nachdem wir uns intensiv beschnuppert hatten, bekam ich dich sogar ohne Schutzgebühr. Ein guter Deal für alle Beteiligten, so schien es. Was mich im nachhinein tröstet ist, dass sie dich nicht als Sechser im Lotto verkaufte, wozu auch, für Zweifel war es längst zu spät. Du hattest deine Musik angestellt und anstatt meine Ohren vor dir zu verschließen, hob ich den Deckel deiner Spieluhr und kroch hinein. Ab dieser Stunde stellte ich die Welt auf den Kopf, stellte mich auf den Kopf, stellte meinen Kopf anschließend in die Abstellkammer, wo er bis auf weiteres verstauben sollte. Floskeln wie „Man hört nur mit dem Herzen gut.“, bekamen eine ganz neue Bedeutung. Nach drei Jahren stellte ich mir wohl das erste Mal die Frage „Hallo Ex, du Frau, sag doch mal, wie bist du denn aus dieser Kiste gesprungen?“, denn mittlerweile degenerierte die einst liebliche Arie zu einem ausgewachsenen Tinnitus. Der Kopf saß wieder auf dem Hals und es brauchte eine Zeit, bis er voll funktionstüchtig war.

Am nächsten Morgen räumte ich wie gewohnt deine Tasse weg und wartete ungeduldig darauf, dass die Tür hinter dir ins Schloss fiel. Ich hatte bis zum nächsten Abend noch einiges vorzubereiten und versuchte mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Für mich stand nun im Vordergrund deinen Abgang zu inszenieren, dir und dieser Frau einen Weg zu bereiten, den ihr ohne Zögern und Zweifeln in tölpelhafter Manier beschreiten solltet. Die kleine Rückschau, das Besinnen auf schlechte Zeiten beflügelte mich, ließ mich gar euphorisch an den verschiedensten Konzepten basteln, in denen ihr kleine, tragischkomische Figuren mit hölzernen Köpfen spielen solltet. Ich beschloss Klara anzurufen und ein weiteres Treffen mit ihr zu vereinbaren; diesmal sollte es kein neutraler Ort sein, sondern unser biederes Heim. Hier konnte sie an deinen benutzten Duschhandtüchern riechen, das Rasierwasser testen, in deine Plattensammlung schauen, die Anzüge, Hemden, Unterwäsche und Schuhe begutachten, sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild von dir machen. Eitel warst du und so standen und hangen überall in der Wohnung Fotografien aus besseren Tagen. Ohne Frage warst du ein gut aussehender Mann mit exzellentem Geschmack, wenn für mich auch nur anspruchloser Zierrat, ein Kaktus vielleicht, den man nicht anfassen wollte, aber ab und zu gießen und düngen musste - Blüten brachtest du schon lange nicht mehr hervor und der einzige Ableger stellte sein Wachstum von heute auf morgen ein.

„Hallo Klara? Ich bin´s, Jenny.“, ein dissonanter Aufschrei im Hochfrequenzbereich, ähnlich wie in der Pamperswerbung, schmetterte mir entgegen und sollte wohl etwas wie Freude signalisieren. „Ich dachte, du hättest vielleicht Lust auf einen Kaffee bei mir vorbei zu schauen...es war gestern so nett mit dir zu plaudern.“ Geheuchelte Anteilnahme am Schicksal meiner Holzpüppchen sollte in Zukunft eine Paradedisziplin von mir werden. Wir einigten uns recht schnell auf den späten Nachmittag und ich hatte noch genug Zeit, die Wohnung zu präparieren. Zunächst wühlte ich die gemachten Betten wieder auf, platzierte rund um die Schlafstätte Kerzen, zog die Vorhänge zu, legte mir meinen Bademantel parat und begab mich anschließend in den nahe gelegenen Edeka-Laden, um Sekt, Eierravioli, Kondome, Kuchen und Sahne zu besorgen. Es überraschte mich nicht, dass sich keine verheiratete Frau berufen fühlte mich auf meinen sündigen Einkaufskorb anzusprechen, stattdessen griente mich ein junger Mann derart an, als wolle er mir sagen: „Sex ab 35 gefährdet Ihre Gesundheit.“ oder „Je oller, je doller.“ Ich schaute provokativ auf seinen Hosenbund und ließ dabei zeitgleich eine Kaugummiriesenblase platzen. „Siehst du? Alles nur heiße Luft...“, „Cool!“, sagte er und rückte verlegen sein Schlägerkäppi zurecht.
Wieder zu Hause angekommen, öffnete ich den Sekt und füllte die Gläser mit einer kleinen Neige, riss die Packung Kondome auf und warf sie, nachdem ich mir eins herausgenommen hatte, auf den Korridorboden. Das Kondom selbst schälte ich aus der verschweißten Folie und warf es in den Hausmüll, seine Verpackung legte ich auf den Esstisch.

Tango Mortale der besonderen Art, erotisch, aber nicht zu argentinisch musste es aussehen, temperamentvoll ohne den typisch rhythmischen Schlendrian eines Discofoxes. Sie sollte sich bei dem Anblick dieses Sündenpuzzles echauffieren, ihre hausbackene, moralische Grenze spüren und realisieren, dass sie ihren Mann nur im Traum betrügt. Engagement, Klara, erinnere dich, Traumprinzen aus Komödien kannst du nicht anfassen.
Kurz bevor sie eintraf, schwang ich mich in ein Negligee und streifte mir den Bademantel über. Es klingelte und ich bemühte mich beim Öffnen der Tür ein hektisches Gesicht zu machen. „Klara, ist es schon so spät? Verzeih´, aber ich bin noch gar nicht angezogen...komm rein“. Mit einer einladenden Handbewegung bat ich sie vorzugehen und während sie mir den Rücken kehrte, justierte ich die Packung Kondome, vor der sie entweder entsetzt stehen bleiben oder sie nonchalant umgehen konnte. Durch unser kleines Frauengeheimnis, namens Anlagenberater, stockte ihr Schritt und plapperte etwas wie „Er war gerade hier, ich meine, ihr habt es hier in dieser Wohnung gemacht?“. Perfekt. Ich ging an ihr vorbei und sagte eher beiläufig „Wo sonst? Seine Frau ist den ganzen Tag zu Hause. Ich habe uns Erdbeertorte besorgt...geh durch, sehe dich in Ruhe um und ich hole inzwischen den Kaffee.“
Als ich ein paar Minuten später mit einem prall gefüllten Tablett das Wohnzimmer betrat, stand Klara vor unserer Schubladenkommode und musterte die Bilder. Das Klappern des Geschirrs schreckte sie auf und ihr Blick fiel auf den Esstisch. „Entschuldigung...“, ich versuchte einen verlegenen Eindruck zu hinterlassen und räumte die Kondomverpackung hastig beiseite.„Das ist Harald, mein Mann.“, und wies auf die Fotografien. „Ein schöner, charismatischer Mann...“, erwiderte sie mit einem von Unverständnis geprägtem Unterton. Ihr Göttergatte schien ausgesprochen farblos zu sein oder vielleicht klang seine Musik nur wie Patrick Hernandez nach zwei Wochen Dauerbeschallung, wie auch immer, ich sah ihre Fantasien und Vergleiche. Du schienst wesentlich besser abzuschneiden und daher ließ ich sie in dem Glauben, eine Ehefrau zu sein, die solch Adonis-Gaben nicht mehr zu schätzen wusste.

Nach Kaffee und Kuchen entschuldigte ich mich für ein paar Minuten und räumte auf. Klara nutzte die Zeit für eine ausgiebige Toiletteninspektion. Mir war, als könnte ich durch Wände sehen, in Klaras neugierige Augen blicken und ihre Hände bewegen. Wie an unsichtbaren Fäden ließ ich sie zappeln, im Wäschekorb und meinen Schminkutensilien wühlen, an verschwitzten Hemden riechen und die Frische deiner Duschhandtücher inhalieren. Als sie das Bad wieder verließ, touchierte ich sie, absichtlich, für Zufälle hatte ich keine Zeit mehr. „Du riechst nach meinem Mann...“, sagte ich und ihre weiße Haut bekam hektische Flecken. „Klara, nur kein schlechtes Gewissen, ich hätte dir nichts zu verzeihen.“ Wir redeten noch eine Weile über dich und je mehr ich mich in sentimentalen Lobpreisungen ergoss, desto verträumter gab sie sich dir hin. Während ich erzählte, tickte die Uhr unaufhörlich; gleich würdest du die Wohnungstür aufschließen und Klara begegnen. Ein Blick von dir würde sie erschütternd ins Mark treffen und beschämt flüchten lassen. Es vergingen noch fünf Minuten, dann war es soweit. Du standst in der Tür und sie sprang wie ein aufgescheuchtes Huhn aus dem Stuhl „Oh, guten Abend, so spät schon, das...das ist mir jetzt aber unangenehm.“, stammelte sie, während ich dich mit ihr bekannt machte. Sie schnappte ihren Mantel und bedankte sich für den anregenden Nachmittag. „Bis morgen, Klara, 20:00 Uhr?“, „Ja gerne, mein Mann hat Nachtschicht.“, erwiderte sie und drückte sich fahrig an dir vorbei, um zur Tür zu gelangen. „Ich freue mich...“, sagtest du und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

„Was gibt es zu essen?“, „Eierravioli!“, du konntest Eierravioli nicht ausstehen, und immer dann, wenn es etwas Unappetitliches zum Abendbrot gab, war es ein Indiz dafür, dass der Haussegen aus nicht näher zu diskutierenden Gründen schief hing; die nachfolgende Prozedur war immer dieselbe. Du gingst wortlos zum Italiener und holtest dir eine Pizza; im Handgepäck den Hausmüll und im Hausmüll ein Kondom.

Jenny kommt von Johanna und Johanna von Johannes. Gott ist gnädig. Jenny nicht.
 

Rainer

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...habe (fast) NICHTS zu meckern...

hallo inni,

ich finde (fast) nichts zum kritisieren, das ist gut ;).

da hast du aber schön seziert, so richtig gnadenlos. und dann noch die waffen der frauen - intelligent-intrigantes spiel mit eitelkeiten und wünschen; ich lernte dazu, immer auf der hut zu sein, hinter allem kann sich schein verbergen.

entweder ich habe zu schnell gelesen, oder ich bin heute nicht in stimmung: irgendwie kommt mir die wendung zu schnell, sie trifft mich (und möglicherweise auch einige andere leser?) unvorbereitet. ein bißchen verwirrend, aber vielleicht wolltest du auch genau das erreichen; auf jeden fall liest man deine text so intensiver; einige könnten aber auch abgeschreckt werden, wenn sie nicht sofort durchsehen. da mußt du entscheiden, welche zielgruppe du erreichen willst.

abschließend noch die gratulation zu einigen genialen (neben-) sätzen, wie z.b.:

"...deine graubraune Haut, im Winter wie im Sommer, weckten in mir nur noch mütterliche Instinkte..."

"Ein paar Tage später packte sie deine Sachen inklusive Herkunftspapiere und Impfpass, ..."

"Jenny kommt von Johanna und Johanna von Johannes. Gott ist gnädig. Jenny nicht."


bitte weiter so!!!

grüße

rainer

einzige und persönliche (nicht textgebundene frage). die eierravioli begreife ich nicht, steht das als symbol für keine zeit zum essenmachen oder geht es um die eier 8in der beziehung bin ich sehr konservativ)
 



 
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