Ein fast gewöhnlicher Tag

Uve Eichler

Mitglied
Ein fast gewöhnlicher Tag

Die Betonung liegt auf fast!
Ich hatte den Wecker ausgetrickst. Kurz bevor er seinen schrillen grausamen Ton an meine hoch empfindlichen Gehörgänge senden sollte, pirschte ich mich, mit geschickt tastenden Fingern, an seinen Ausschalter und stellte ihn ab.
Es war für mich eine Genugtuung für die vergangenen Tage. Immer wieder und immer wieder quälte mich dieser unverbesserliche Geselle früh um sechs aufzustehen. Heute hatte er das Spiel verloren. Naja, eigentlich hätte ich mir meine heimtückische List auch sparen können, denn dieser Kamerad hatte doch zuvor gar keinen Befehl erhalten mich zu wecken. Ich vergaß am Abend vorher ihn einzuschalten. Hatte ich mich jetzt selbst zum Besten gehalten? Es war kurz vor sechs und ich machte Urlaub. Bei genauer Betrachtung dieses Scheusals wurde mir klar, dass er mich angrinste. Nicht ich, sondern er hatte das Spiel gewonnen! Aber die Blöße dieser Niederlage konnte und wollte ich ihm nicht eingestehen. Ich lachte ihn an und stieg aus dem Bett. Da wir allein im Zimmer waren, sagte ich ihm meine Meinung.
„Na du Komiker, das hättest du nicht gedacht, dass ich dich mal wecke was?“, meine Erinnerungen führten mich zurück in meine Jugendzeit, als ich noch sehr oft ins Kino gegangen war. Es sprudelte nur so aus mir heraus, ohne das ich meinen Blick von diesem -elektronischen möchte gerne was zu sagen haben Teil- abwand: „wie sagten schon unsere Ahnen, frisch, fromm, fröhlich und frei wollen wir den Tag beginnen.“
Auf dem Weg ins Bad musste ich mir eingestehen, ich hatte mich abermals zum Affen gemacht. Da war dieses komische Heulinstrument schon wieder in der Position des Siegers. Wahrscheinlich störte es mich nur, dass er mir keine Antwort geben konnte. Blöd! Alles so ruhig. Um meine Fröhlichkeit unter Beweis zu stellen, schaltete ich das Radio an.
Es war eine sanfte, aber disziplinierte Frauenstimme zu hören, welche gerade dabei war die Nachrichten zu verlesen. Im Grunde genommen erklärte sie den Hörern, dass nichts außergewöhnliches in der letzten Nacht passiert war. Obendrein versprach sie, dass an diesem Tag die Sonne einen arbeitsreichen Tag haben würde, die Radio begeisterte Bevölkerung sollte sich schnell ans Wasser begeben und auf keinen Fall vergessen die Musikmaschine mit zu nehmen.
Die Morgentoilette war erledigt und ich sah aus dem Fenster.
Die nette Stimme aus dem Radio hatte recht. Mutter Sonne strahlte über alle Kraterbacken und explodierte nur so vor sich hin, dass es eine wahre Freude war ihr bei der Arbeit zuzusehen.
Die Wolken aus den Tälern verzogen sich langsam hinter die Berge, um sich dann, wie von Zauberhand, aufzulösen. Kunstvoll wurde die malerische Landschaft mit jedem Pinselstrich frischer. Das saftige Grün der Mischwälder, die sich an den angrenzenden versteinerten Hängen kraftvoll verankerten, bildete einen scharfen Kontrast für den Betrachter.
Langsam wurden auch die umliegenden Dörfer sichtbar. Aus meiner Sicht sah alles so aus, als wenn ich ein Konstrukteur einer Miniaturwelt gewesen wäre, die Häuser und Grünanlagen waren optisch so klein, als könnte man sie austauschen. Nun, schließlich befand ich mich in einer Höhe von eintausendzweihundert Metern über dem Meeresspiegel. Ich hielt mir diesen traumhaften Anblick vor Augen um bewundernd, still für mich, Beifall zu klatschen. Direkt unter mir, am Fuße des Berges, kündigte sich das Leben an. Das Dorf setzte sich ins Scheinwerferrampenlicht, welches von der strahlenden Sonne gespendet wurde. Das bitte ich nicht falsch zu verstehen, hoffentlich ist jetzt nicht der Eindruck entstanden, dass es hier kein Strom gab. Nein. Nein! Nicht nur elektrischer Strom war da, sondern auch fließendes Wasser. Schließlich lebten wir dort nicht als Eremiten einer aussterbenden Art. Ja, genau wie überall im europäischen Gemeinschaftsraum hatte auch hier schon die Glorreiche Technik Einzug gehalten. Sie war kein Unbekannter mehr, Telefon oder Internetzugänge gehörten zum täglichen Gebrauch. Kurz um, es fehlte uns an nichts.
Selbst heute bin ich noch fest davon überzeugt, dass ein hartgesottener Seemann oder ein kräftiger Bergmann, sowie der Stressgeplagte Kaufmann gemeinsam in einem Boot sitzen könnten, um eine Runde auf einem, der unvergleichlichen Bergseen zu drehen. Gut! Mit anderen Worten: “ Hier durfte jeder machen was er wollte.“
Um diesen Ort etwas genauer zu beschreiben, bedarf es schon einer eingehenden Prüfung. Ich werde dieses Geheimnis aber nicht für mich behalten, nein! Ich werde es allen erzählen! Also lege ich los. Jetzt bitte ich um höchste Aufmerksamkeit, denn schließlich gilt es hier ein unbeschriebenes Dorf interessant zu machen.
Inmitten der Schweizer Alpen, irgendwo zwischen den Ortschaften Chur und Bellinzona findet man dieses Dörfli, verträumt auf einer Bergeshöh. Aber das habe ich ja schon verraten, als ich sagte, dass ich ins Tal sehe. Ringsherum gibt es sehr viele dieser Orte, die aber alle andere Namen haben. Das ist ja auch logisch, denn sonst könnte man sie ja nicht unterscheiden. Jetzt muss ich wohl mit der Sprache raus und sagen welchen Namen man diesem Stückchen Fleck, auf diesem Planeten, gegeben hat. Wenn nun jemand meint, es wären nichtssagende Namen, wie Kneifertal, Pirol oder Hauenstein, den kann ich beruhigen, die idyllische Gegend hat den Klangvollen Namen „Falera“. So, jetzt ist es raus! Da es sich um einen Geheimtipp für Wintersportler handelte, ergriff ich höchstwahrscheinlich die Chance und reiste im Sommer an. Ja, es hieß sogar, dass es sich hier um ein fantastisches Skiparadies drehen sollte. Natürlich erfuhr ich sofort, dass alle Prophezeiungen eingetroffen waren. Wie sich wohl alle denken können, begegnete ich unaufhörlich vielen Einheimischen.
Die vielen Schneeanbeter waren noch nicht zu sehen, dadurch entging ich auch diesen Nerv aufreibenden Gesprächen wie: -Ski und Rodeln gut-, -Wieso gibt es nur Schneemänner? Wir wollen auch Schneefrauen bauen!-, solche und ähnliche Sprüche sollte es aber erst Ende des Jahres geben, dann war ich wieder weg. In diesem Monat hatte man andere Möglichkeiten sich mit einem Gesprächspartner zu artikulieren. –Der Berg ruft-, -Hoch droben auf dem Berg, da steht ein Gartenzwerg-, -Steh ich am Gipfelkreuz, bleib du schön munter, denn dann winke ich zu dir von oben runter-. Naja, das ist zwar auch alles saudumm, aber der Jahreszeit angepasst.
Je länger ich auf die Berge sah, desto bewußter wurde mir, dass ich von der Feuerkugel langsam, aber sicher geröstet wurde. Da niemand in meiner Nähe war, konnte auch keiner die Nadeln in meine Nasenspitze gestoßen haben. So stellte ich fest, dass ich innerhalb von Sekunden einen Sonnenbrand bekommen hatte. Die unerbittliche Hitze hatte die Berge zum Blühen gebracht. Nur die Hüte dieser Hügel waren farblich neutral. Von hier aus könnte man sagen, irgend jemand hatte eine große Tüte mit Puderzucker verstreut, dicht über den Zuckerhaufen schloss sich der azurfarbene Himmel an, der sich wie ein Ozean über uns ergoss.
Mitten in dieser Stille erklangen die melodischen Klänge der Kuhglocken, gleichzeitig verfolgte ich das neckische Spielchen eines Rabenpärchens, welches hinter einem Hausvorsprung verschwand. Ich zählte mit. Die Glocken hatten gerade elf geläutet. Nicht die Glocken der Kühe, sondern die Kirchturmglocken, selbstverständlich!
In einiger Entfernung sah ich einen Wanderer, der seinen Hut schwang und herüber grüßte. Ich erkannte, dass er einen gut gefüllten Rucksack und einen Gehstock dabei hatte. Geistesgegenwärtig warf ich meinen Arm in die Höhe und rief ihm ein freundliches „Grüezi“ entgegen. Doch auf dieser Entfernung konnte er mich nicht hören.
In dieser atemlosen Stille ertönte ein ohrenbetäubender Schrei. Zwei Raben machten auf sich aufmerksam. Das was ich dort sah, war so unglaubwürdig, dass es mir niemand abgenommen, wenn ich davon erzählt hätte. Da verfolgte doch tatsächlich der Herr Rabe, in Begleitung von seiner Angetrauten, einen jungen Mäusebussard. Dieser kleine, edle Vogel, wurde doch tatsächlich aus seinem Revier vertrieben. Voller Mitleid musste ich mit ansehen, wie dieser braune Segler tiefer flog, und dann hinter einem Häuservorsprung verschwand. Unmißverständlich verstand ich sofort, dass dieses Hoheitsgebiet den schwarzen Vögeln gehörte. Es dauerte eine Zeit bis diese dunklen Flattergefieder ihr Gekreische einstellten.
Zur Abwechslung warf ich meinen Blick auf den Alpengarten, oder treffender gesagt : - das Alpengärtchen - vor unserem Haus. Zu dieser Jahreszeit blühten die Rosenstöcke und überdeckten den Bewuchs, der nicht unbedingt zu sehen sein sollte, weil noch Unkraut darunter war, zu zwei Drittel mit ihren roten Blüten. Ich wurde wieder in meiner Beobachtung gestört, denn die Raben waren inzwischen zurückgekehrt und flattern, Gott sei Dank! ohne Spektakel ins Dorf zurück.
Nachdem alles wieder seinen geordneten Verlauf nahm, fasste ich den Entschluss einen ausgiebigen Tagesausflug zu machen.
Auf der fest asphaltierten schmalen Straße, die sich in Schlangenlinien auf dem Hang herunter, bis ins nächste Dorf schlängelte, begegneten mir immer wieder Schnecken, mit ihrer gesamten Habe, und versuchten so ihr Zigeunerleben darzustellen. Ich verstand sofort, dass sie es nie an einem Ort aushalten würden, denn sie schleppten immer ihre Häuser mit. Menschen waren da ganz anders, außer in Kanada.
Die Häuserfronten, die rechts und links des Weges flankierend standen, hatte man bunt gemischt. Alte Gebäude bestanden fast vollständig aus Holz. Die neuen Häuser fielen durch ihr fest verputztes Mauerwerk auf, welches aber durch geschickte Holzbalkenverarbeitung zum Fachwerkhaus umgestaltet wurde. In unregelmäßigen Abständen sah man auch direkt vor diesen Unterkünften liebevoll gestaltete Vorgärten, die meisten waren mit bunten Blumen bestückt. Da, wo die Bebauung nicht so eng war, beschränkte man sich auf die Präsentation riesiger Wiesenflächen. Die festen Unterkünfte, auf diesen -Guck mal Anlagen-, hatten in der Regel keine Blumengärten. Vielmehr hatte man bescheiden ein paar Balkonpflanzen als Augenfang provozierend aufgestellt. So wie es aussah, konnte man diese Behausungen nicht mit einem Auto aufsuchen, denn die Wege, die zu diesen Gebäuden führten, waren alles andere als ausgebaut. Ja, selbst die stolzen Besitzer dieser Wetter schützenden Mauerwerke mussten ihre Autos auf dem Marktplatz im Dörfli abstellen, und ihren Weg nach Hause zu Fuß weiter gehen. Ich stellte mir vor, dass diese Leute doch auch mal einkaufen , und dann die Waren irgendwie ins Haus schaffen mussten. Schließlich hatte ich die Lösung sofort parat. Ich Dussel! Die guten Menschen hatten doch direkt an ihren Wohneinheiten die Scheunen mit dem Vieh. Logischerweise wurden wohl die Kühe und Pferde als Gepäckträger eingesetzt, dachte ich,... hm.
Immer wieder der Blick in die Ferne.
Mein Weg führte mich weiter die Serpentinen hinunter und ich erblickte an jeder Kurve ein neues Bild der Landschaft. Einmal die steinige, öde nichts sagende Trockenheit und dann wieder das unübertreffliche saftige Grün der Baumbewachsung an den Hängen. Selbstverständlich immer wieder in naher Ferne unzählige Dörfer.
Es ging steil hinab. Am Auslauf der Straße, den man von hier oben sehen konnte, bog ein Weg nach links ein. Auf meiner Wanderkarte, die ich mittlerweile aus der Hosentasche gezogen und aufgeklappt hatte, las ich, dass es sich um einen Pfad um den Laaker See handelte. Also entschied ich mich dazu der Aufforderung zu folgen und erkundete diese Steinchenstraße.
Auf dem See herrschte ein wildes Toben. Zwei Herrschaften schwammen, der Tretbootverleih hatte Hochkonjunktur, und einige Mütter sahen ihren Kinder beim Tollen auf dem Spielplatz zu. Nur ein paar Schritte weiter war eine Minigolfanlage angelegt worden. Zu meiner Verwunderung hatte diese geschlossen. An dem Kartenhäuschen befand sich auch kein Schild. Da ich aber interessiert war, lief ich um dieses Holzhäuschen und versuchte so jemanden ausfindig zu machen. Nichts! So lang ich auch suchte, kein Hinweis. Plötzlich gab es ein lautes Geschrei auf dem nahegelegenen Parkplatz. Da ich in Erster Hilfe ausgebildet worden war, eilte ich um eventuell einem Menschen aus einer bedrohlichen Lage zu befreien. Leider war mir die direkte Sicht zum Ort des Geschehens versperrt, denn vor mir befand sich Schilfgras, das der See, wie eine natürliche Mauer, mannshoch gedeihen ließ. Schließlich ging ich schneller. Endlich! Vor mir stand ein großes Zelt. Das war doch ein Zirkus. Sollte der Aufschrei von dort gekommen sein? Vor diesem riesig aufgestellten Leintuch liefen unruhige Menschen durcheinander. Aus einer Traube dieser aufgeregten Gesellschaft tauchte ein Polizeifahrzeug auf. Auf dem Dach dieses Gefährts rotierten blaue Lichter. Der Wagen hielt und ein Mann in Uniform stieg aus. Sofort lief er zielstrebig auf mich zu. Was sollte das? Aber ich hatte mich geirrt. Direkt neben mir befand sich eine Gruppe von Menschen, die wohl etwas wussten. Der Mann, der gerade aus dem Behördenfahrzeug gestiegen war, sprach eine Frau an.
„Grüezi, Frau Stützli. Was ist passiert?“
Die Angesprochene war Leichenblass. So wie es aussah, war sie mit dem Beamten vertraut.
„Grüezi, Herr Fetterli, mein Mann ist entführt worden!“
„Beruhigen sie sich! Erzählen sie bitte Schritt für Schritt.“
„Wir waren gerade bei den Vorbereitungen die Anlage zu öffnen. Als ich kurz hinter der Tür war und sofort zurückkam, war mein Mann verschwunden. Das kann höchstens zwanzig Sekunden gedauert haben. Dann hörte ich ein Aufheulen eines Motors und sah, wie ein Auto auf die Hauptstraße fuhr.“
„Was war das für ein Auto?“
„Ein gelbes. Ja, ich glaube, es war ein Postauto.“
„Haben sie dann das Kennzeichen, oder die Person, die das Fahrzeug gelenkt hat, erkannt?“
„Es ging alles so schnell. Ich lief noch schnell zur Straße, aber ich sah nur noch, dass sie in Richtung Chur fuhren.“
„Wieviel Leute saßen denn in dem Auto?“
„Ich glaube, es waren drei.“
„Haben sie ihren Mann erkannt?“
„Nein!“
„Dann ist es also auch möglich, dass das Eine mit dem Anderen nichts zu tun hat?!“
„Da könnten sie recht haben, Herr Fetterli.“
„Ich werde trotzdem eine Suchmeldung aufgeben. So bald ich eine Spur habe, melde ich mich bei ihnen Frau Stützli. Ade!“
„Danke! Herr Fetterli.“
Der Polizist stieg in sein Auto und telefonierte. Da kam ein untersetzter kleiner Mann aus der Gruppe hervor und ging direkt auf die Minigolfbahnbesitzerin zu. Frau Stützli war erschrocken.
„Wo kommst du denn her?“
„Wieso, ist was geschehen?“
„Wie bitte? Ich habe eine Suchanzeige aufgegeben, weil ich dich nicht gefunden habe!“
„Du machst jetzt einen Spaß mit mir! Oder?“
Herr Fetterli stieg aus dem Auto und wollte eine Erklärung.
„Grüezi Herr Stüzli, ihre Frau war in großer Sorge. Sagen sie doch bitte, wo sie waren.“
„Herr Fetterli! Ich glaube, meine Frau hat dort wohl etwas früh gehandelt. Ein Feriengast hatte einen defekten Golfschläger, den er von zu Hause mitgebracht hatte. Heute Mittag hat es nämlich ein Turnier hier. Ich habe den Peter von der Post gefragt, ob er den Gast und seine Frau, nach Chur mitnehmen könnte, um ihn dort an der Sportwerkstatt herauszulassen. Da der Peter sowieso weiter musste, hat er uns gerne den Gefallen getan.“
Da niemand in Bedrängnis war, dem ich helfen müsste, ging ich weiter. Die Drei standen noch eine Weile und unterhielten sich.
An einer Straßenkreuzung kam ein Bus zwischen eng geparkten Pkws hervor. Er fuhr zum Busbahnhof. Auf dem Bahnsteig hing eine Informationskarte aus. Als ich sie näher betrachtete, erkannte ich, dass es sich um eine Kombination aus Wanderkarte und Busfahrstrecken handelte.
Als ich mich umdrehte, hielt eines dieser Peronentransportmittel direkt vor mir, und forderte mich förmlich dazu auf, durch die geöffnete Tür einzusteigen, um dann eine Runde zu drehen. Ich stieg ein. Der Fahrer grüßte freundlich.
„Grüß Gott, Wo soll’s denn hin gehen?“
Ich nickte mit dem Kopf und gab meine Bestellung auf.
„Nach Chur bitte! Hin und retour.“
Der Chauffeur legte mir den Fahrschein auf den Abrechnungstisch. Dann steckte ich den Zettel in die Hosentasche und bezahlte.
Die Plätze im Bus waren alle frei. Jetzt begriff ich auch, wie es war, wenn man die Qual der Wahl hatte. Um kein großes Aufsehen zu machen, und somit meine Hilflosigkeit dem Fahrer Kund tun zu müssen, entschied ich mich für den nächstgelegenen Platz an der Ausgangstür. Erstens befand sich hier ein Schalter der dem Fahrer signalisierte, wann ich aussteigen wollte. Zweitens war an der Seite des Fensters ein Hammer angebracht, um bei Gefahr die Seitenscheibe einschlagen zu können. Sollte ich mich nicht doch lieber hinstellen? Nein! Dafür war die Fahrt zu lang. Ich glaube, das waren so fünfundzwanzig Kilometer. Schnell fahren war sowieso nicht möglich, dafür sorgten die Berge und die Haltestationen. Ich stellte also fest, dass drittens, meine getroffene Entscheidung die richtige war. Nachdem nun noch zwei weitere Fahrgäste eingestiegen waren, schloss der Fahrer die Tür und fuhr los. Kurz vor der Hauptstraße kam es fast zu einem Unfall.
Ein Motorradfahrer, der seine Geschwindigkeit wohl überschätzt hatte, flutschte um Haaresbreite an unserer Stoßstange vorbei. Mir blieb fast der Atem stehen. Gott sei Dank! reagierte unser Mann im Cockpit so schnell. Er stieg mit aller Kraft auf das Bremspedal und fluchte irgend etwas auf italienischem - schweizer Dialekt.
Für mich und die beiden anderen Fahrgäste bedeutete dieser Augenblick eine Erfahrung mit der Beschleunigungskraft machen zu können, wir wurden gemeinsam durch die plötzliche Notbremse aufgefordert, unsere entspannten Oberkörper vom Sitz nach vorn zu kippen, um so, aus Dankbarkeit, einen ordentlichen Diener, für unseren Busfahrer zu machen. Aber schließlich fingen wir uns wieder und positionierten uns, mit Schwung, ordentlich in die Sesselpolsterungen zurück.
Der Kradfahrer hatte inzwischen das Weite gesucht. Insgeheim hoffte ich darauf, dass er es auch finden würde.
Danach war die Fahrt, mit dem Bus, eher ruhig. Wir kamen an die Haltestelle Laaks-Murschetg. Hier standen sehr viele Autos auf dem nahe gelegenen Parkplatz. Ich sah wie sich eine Gruppe von Mounteinbiker formierte um sich in Richtung Kanzelbahn zu bewegen. Am Einstieg zur Kabine stand ein Fahrlehrer für diese Gruppe. Das Schild, welches neben ihm auf dem Boden stand, wies darauf hin.
Es gab eine kleine Pause. Der Busfahrer stellte den Motor ab. Also sah ich weiter aus dem Fenster und folgte mit meinen scharfen Augen dem Verlauf der Seilbahn nach oben und erkannte dort alles, nur den Gipfel nicht. Naja, das war ja auch nicht verwunderlich, da das Ende des Berges noch über tausend Meter höher lag. In den Prospekten, die überall herumlagen, auch in dem Bus, wurde alles beschrieben. Ich entschloss mich nicht weiter zu fahren und stieg aus.
Meine Neugierde den Berg zu erkunden war zu groß. Mutig ging ich auf den Eingang, dieser am Seil geführten Bahn, zu. Ich kaufte mir ein Ticket für die Hin- und Rückfahrt. Damit man es nicht verlieren konnte, nahm ich mir eine bereitgelegte Kordel, mit der ich dann die Karte verknotete, um sie dann um den Hals zu hängen.
Das Rauffahren war ganz einfach. Ich beobachtete die Biker, die inzwischen vom Parkplatz hier her gekommen waren und folgte ihnen. Sie machten mir vor was ich zu tun hatte. Zunächst musste man sich einreihen und dann, wenn man an der Reihe war, das gelöste Ticket in den Automaten stecken, dadurch wurde der Weg frei gegeben. Hatte nun ein Fahrgast den Drehkranz passiert, so öffnete eine bewegliche Barriere den Weg automatisch. Tolpatschig, wie ich nun auch damals war, steckte ich die Karte wohl etwas zu lässig in den Kasten mit der Kontrolleuchte. Es war mir auch wichtig, sicher zu sein, dass ich auch hier nicht die Karte verlieren durfte, deshalb trug ich das Band um den Hals. Oha! Meine Karte steckte fest. Panik! Was sollte ich machen? Da hing ich nun zum Gespött der Menschheit und munterte so, die umstehenden Passanten auf, zielgerichtete Blicke auf einen Pausenclown zu werfen. Plötzlich ertönte der unüberhörbare Heulton einer Sirene, die in kurzen Intervallen darauf aufmerksam machte, dass an meiner Schranke ein total ungeübter Seilbahnfahrer stand. Inzwischen merkte ich, dass sich meine Gesichtsstruktur veränderte. Wahrscheinlich waren mir sämtliche Züge entglitten und hoffte inständig, dass ein Profi erbarmen mit mir haben würde. Sirene! Meine stillen Gebete wurden erhört und es nahte Hilfe. Es war ein erfahrener Radfahrer der Berge, der mir mitleidig ins blutleere, erschrockene Gesicht grinste und mich mit einem gekonnten Griff aus dieser Peinlichkeit befreite. Ich folgte den Männern aus den Bergen in die große Kanzel.
Zwischen Unmengen von Fahrrädern und mumifizierten Bergradfahrern fand ich in einer Ecke einen wunderschönen Fensterstehplatz. Der Kanzelbahnführer schloss die Tür und wir bewegten uns in Richtung Gipfel. Es war eine ruhige Fahrt. Lediglich an den Stützmasten gab es Unebenheiten. Die Laufrollen, die das Seil führten, waren fast lautlos. Jedesmal, wenn so ein Mast passiert wurde, bekam die Gondel ein wenig Schwung. Das Gefühl, welches ich in diesem Augenblick dieser ungewohnten Transportfortbewegung hatte, ist mit Worten nicht so leicht auszudrücken. Vielleicht so. Es ist ähnlich dem Gefühl, das man erfährt, wenn man auf der Kirmes in einer Berg- und Talbahn sitzt und die Höchstgeschwindigkeit auskostet. Nach einem leichten aufwärts Ruck des Magens, schwebte dieser gemächlich an seine gewohnte Stelle im Bauch zurück. Das bewirkte ein intensives Kribbeln.
Die Kanzel war am Ziel angekommen, und befand sich nun in der sagenhaften Höhe von zweitausendzweihundertundfünzig Metern über dem Meeresspiegel. Das Aussteigen klappte dann auch ohne Probleme. Als ich durch den Ausgang ging, sah ich ein ganzes Dorf mit Indianerzelten. Es war aber kein Indianer in der Nähe, also durchschritt ich mutig die Pforte, mit dem klangvollen Namen „Tipi-Dorf“. Der Berg hier oben nannte sich Crap Sogn Gion. Die Wigwams waren alle geöffnet. In der Mitte dieser Behausungen hatte man aufgeschnittene Benzinfässer aufgestellt. Darauf befanden sich riesige Teller aus Metall, die in der Mitte ein Loch hatten. So konnte der Rauch des Holzkohlefeuers durch die Öffnung aufsteigen und im Zelt, durch eine geöffnete Luke in der Spitze, ins Freie gelangen. Wahrscheinlich konnte man auf diesem Blech auch kochen. Ich ahnte Spuren vom Gebratenem. Rund um diesen Ofen befanden sich Jutesäcke, die mit Heu gefüllt waren. Die ausgebreiteten Wolldecken, die typische Muster von Indianersymbolen aufwiesen, lagen auf diesen weichen Schlafunterlagen. Auf einem nahestehenden Tisch befanden sich einige Prospekte. Nachdem ich mir eins gegriffen hatte, las ich, dass man sich in ein solches Tipi einmieten konnte. Allerdings sollte auch jeder, der diesen Service in Anspruch nehmen wollte, seinen Schlafsack mitbringen. Dieses Angebot war nicht nur für Jugendliche, es gab auch Programme für Erwachsene. Leider war noch immer kein Indianer im Dorf, so ging ich zurück über den ausgetretenen Pfad und begann den Aufstieg zum Gipfel.
Meine Blicke führten mich ständig nach oben und ich ertappte mich immer wieder dabei, dass ich daran denken musste, einen Höhenunterschied von schlappen zweihundertundfünfundsiebzig Meter zu überwinden. Der Wille war da, also trat ich wild entschlossen den Anstieg an. So, wie es aussah, waren schon einige Frühaufsteher vor mir da, denn sie kamen mir entgegen. Es war ein junges Pärchen aus Berlin, ihr unverwechselbare Akzent verriet es. Als die beiden auf meiner Höhe waren, wies mich der Mann zurecht.
„Tachchen! wenn se so da ruff wollen, dann sind se bestimmt een Mann aus den Berjen.“
Ich wusste nicht, was der freundliche Bergsteiger damit sagen wollte, doch ich durfte mir auch keine Blöße geben, so nickte ich freundlich und versuchte so gut es ging ein paar Brocken Schweizerdeutsch zu sprechen.
„Grüezi! Ja, da sollen sie wohl recht haben.“
Ich dachte nur daran, dass die beiden mich hoffentlich nicht entlarven würden. Sie durften auf keinen Fall erfahren, dass ich gar kein Bergsteigerprofi war. Seine Frau sah mich an und lächelte. Eigentlich war das mehr ein Grinsen. Dann brachte sie auch noch einen Spruch.
„Also, wenn ick sie so sehe, denn krieje ick det Frieren. Ick hoffe sie versteh‘n det, wah? Wir kommen auße Großstadt, und die Berje sind für uns wat janz Wunderbaret. Ick globe, wenn wir och sonne Naturmenschen wär’n wie sie, dann würden wir wohl och über die Städter lachen.“
Im ersten Augenblick war ich perplex, dann fiel mir auf, dass ich gar nicht für die Berge angezogen war. Naja, eigentlich wollte ich ja nach Chur und nun war ich hier, weil ich kurzfristig umgeplant hatte, denn ich musste doch diesen Berg bezwingen. Meine Bestandsaufnahme, die ich sofort machte, ergab ein spärliches Resultat. Die gesamte Ausrüstung, die ich bei mir hatte, bestand aus einer Jeans, Schuhe mit geländegängigem Profil, T-Shirt, eine Armbanduhr, Geld und eine Büchse mit Lakritze. Also, es war unverkennbar, dass ich nicht für den Aufstieg eines derartigen Mamutberges gerüstet war. Zwangsläufig ging ich auf die Anspielungen ein und spielte die Situation herunter.
„Tja, wenn sie öfter hier oben wahren, dann werden sie auch so abgehärtet wie ich. Dazu benötigt es nur einer kurzen Gewöhnungszeit. Bis bald. Servus.“
Jetzt, wo es mir bewusst wurde, dass ich voreilig gehandelt hatte, wurde mir langsam kalt.
Meine Gesprächspartner hoben die Hände zum Gruß und verabschiedeten sich von mir.
„Denn man Tschüs!“
Da die Berliner mir immer noch nachsahen, musste ich weiter hinauf steigen. Zu meinem Entsetzen fegte jetzt auch noch ein anständiger Wind. Saukalt! Ich trotze der Natur und nahm mir ein Lakritze aus der Dose. Jetzt wurde mir warm. Das redete ich mir jedenfalls ein. Je höher ich wanderte, um so interessanter wurde der Weg, bei jedem zweiten Schritt tappte ich in vereinzelte Schneehaufen, die noch nicht weggeschmolzen waren. Wie sollten die denn auch, das war ja auch viel zu kalt. Der Gipfel schien fast erreicht. Da war sie. Die Station Crap Masegn. Zweitausendvierhundertsiebenundsiebzig Meter hoch. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ermattet setzte ich mich auf einen der zahlreichen Bänke. Kälte konnte ich gar nicht mehr spüren. Das Stationsthermometer zeigte 3° C an.
Ich lachte der Sonne ins Gesicht. Überall wohin ich sah, waren Schneeberge oder Gletscher zu sehen, die sich in Positur gestellt hatten. Nun war ich selbst ein Teil dieses göttlichen Bildes. Im Hintergrund hörte ich stapfende Geräusche. Da kam ein älteres Ehepaar um die Ecke und gesellte sich zu mir.
„Grüezi!“, begrüßten sie mich. Das waren echte Einheimische.
„Grüezi miteinand!“, antworte ich.
„Hier hat es aber eine schöne Aussicht“, seufzte die Frau und kuschelte sich an ihren Mann.
Ich konnte dem nur beipflichten.
„Da haben sie recht. Es lohnt sich wirklich hier herauf zu kommen.“
Naja, ganz ehrlich, eigentlich wollte ich lieber in meinem Zimmer, mit Klimaanlage und verträglicher Temperatur sitzen, doch jetzt musste ich erst mal den Rückweg antreten. Ich verabschiedete mich höflich und machte mich auf den Weg.
Hoffentlich saßen die Berliner nicht in der Bergstation.


Uve
 



 
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