Ein guter Grund?

Elfi

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So oft, wie im letzten Jahr habe ich sie noch nie zu Gesicht bekommen! Jedes Mal kommt sie ins Cafe und bestellt bei mir eine Tasse Kaffee. Anschließend setzt sie sich an einen Tisch und blickt zu mir, zur Theke, während sie eine oder zwei Zigaretten raucht. Bisher grüßte ich sie nur flüchtig, denn in ihren blauen Augen unterhalb der blonden, schulterlangen Haare, lag ein undefinierbarer Blick. Ich interpretierte es als Vorwurf, doch noch nie sprach sie mich auf das vergangene Ereignis an.
Gestern war es, - es war nicht ihr eigentlicher Tag - als sie an die Theke kam, und wie üblich ihren Kaffee bestellte. Erneut setzte sie mit dem Blick in meiner Richtung an einen Tisch, und ihr rosafarbenes Sweat biss sich mit der orangefarbenen Tapete des Cafes. Ich mied es, sie anzusehen und erledigte meine Arbeit. Schließlich erhob sie sich und steuerte abermals die Theke an, ehe sie eine weitere Tasse Kaffee bei meiner Kollegin mit dem blonden Stoppelhaarschnitt bestellte, wobei sie mich fragte, ob ich eine Tasse mittrinken würde.
"Jetzt noch nicht; später.", antwortete ich ihr, und nachdem sich mein Feierabend andeutete, setzte ich mich mit einer gefüllten Tasse zu ihr an den Tisch. Nicht allzu oft habe ich selbst dort im Cafe gesessen, und ich muss gestehen, dass die Stühle, trotz Stoffbezug, nicht gerade bequem waren.
Nervösität war in mir; würde sie mir Vorhaltungen machen?
Zuerst redeten wir über Belanglosigkeiten, ehe sie auf das Thema zu sprechen kam.
"Ich habe ihn sehr gemocht.", bemerkte sie, ehe sie nach einer Pause meinte: "Und wenn er einen guten Grund hatte?"
"Den wird er wohl gehabt haben."
Ich schwieg, und in meinen Gedanken kamen blitzweise die Bilder der Vergangenheit auf. Neun Jahre zuvor: Sie kam, und erklärte mir, dass sie meinen Bruder lieben würde. Da er mir gegenüber bisher nur abfällig über sie geredet hatte, legte ich ihr dar, dass er nichts von ihr wolle. Sie solle ihm eben aus dem Weg gehen.
Vier Jahre später: mein Bruder redete mit mir, erzählte, dass er schon seit zwei Jahren hinter ihr her wäre, doch jedes Mal würde sie vor ihm flüchten.
Er könne es nicht überstehen, sie nicht zu bekommen.
Tags darauf lebte mein Bruder nicht mehr, und ich fragte mich, ob sie in den Tod geflüchtet war, um ihm auszuweichen...
Zwei Jahre später stand sie vor meiner Tür. Sie war nicht dort, wo ich sie vermutet hatte, und in mir machten sich die Vorwürfe breit: Warum habe ich ihr nur gesagt, sie solle sich von ihm fern halten?
Ein guter Grund?
Ich sah ihr in die Augen. Kein Hass, keine Anklage und auch keine Spur Wut war darin zu lesen.
"Ich glaube, er wollte mit mir gehen!", wirft sie in den Raum.
Sie weiß es. Sie weiß es, aber sie macht mir keinen Vorwurf. Ruhe; eine normale Ruhe in dem Gespräch. Trügerische Ruhe?
"So, wird Zeit.", meinte sie und erhob sich. Auch ich hatte meine Tasse geleert und brachte sie zurück zur Theke, ehe wie nebeneinander das Cafe verließen.
"Bis demnächst!", sagte sie noch, ehe wir uns in unterschiedlichen Richtungen voneinander trennten.
 



 
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