Ein kleines Glas voll Erde

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Wir schreiben das Jahr 2010. Es ist Mitte März und der erste wirklich warme Frühlingstag des Jahres hat auch mich hinausgelockt in die Natur. Genauer gesagt: ich muß den Berg hinauf zur Post, um ein paar Briefe abzuschicken.
Es ist Nachmittag, so gegen 3 Uhr, die Sonne scheint mir, während ich den Rückweg einschlage, von hinten in den Nacken, wärmt mit ihren Strahlen mächtig. Sie finden ihren Weg weiter hinunter ins Tal, lassen Farben erglühen, die sonst fahl, unscheinbar und nichtig sind, übersehbar und unscheinbar. Ohne Zeitdruck lasse ich mich von meinen Füßen langsam den Berg hinunter tragen. Gedanken gehen mir durch den Kopf. Gedanken von Abschied, Trauer und Freude.
Wie oft habe ich das schon erlebt? Ich denke, so um die dreißig-, vierzigmal. Abschied nehmen von einer liebgewordenen Heimat. Hinaus in das Neue, Unentdeckte. In rund zwei Wochen wird der Möbelwagen kommen, alles einpacken und forttragen in die neue Stadt, zu neuen Menschen, neuen Sitten, neuen Gerüchen…
„Seien Sie gegrüßt!“ Mit einem Kopfnicken und Lächeln im Gesicht grüße ich den Apotheker, der mich durch die Ladenscheibe entdeckt hat. Ihn werde ich auch vermissen. Fünfundzwanzig Jahre kennen wir uns, haben unsere Kinder aufwachsen und flügge werden sehen. Ich werde ihn vermissen. Links erblicke ich das Gebäude, wo viele Jahre ein Konditor beheimatet war. Die Kinder seines Sohnes gingen mit unserer Tochter den gleichen Weg zum Kindergarten. Lange schon ist das Haus ohne Seele. Gleich dahinter war der Tante-Emma-Laden. Immer konnte man hier auch nach Feierabend seinen Bedarf decken. Auch diese Seele ist schon lange nicht mehr dort zu Hause. Ein Paketdienst ist jetzt dort ansässig. Steril, sachlich, zweckmäßig.
Ich sehe die Sonne, wie sie mir den Weg ins Tal zeigt. Dort, wo das Städtchen, in dem ich mit meiner Familie 25 Jahre gewohnt habe, angeschmiegt an den Hängen des Oberbergischen Landes, sein 1000-jähriges Dasein fristet.
Adieu, mein liebes Städtchen! Bald wirst du mich nicht mehr sehen, werde ich dich nur noch in Erinnerung behalten. Ein Schmerz geht durch meine Brust, ein Altbekannter. Vom Nordkap bis zum Outback – immer wieder das Gleiche. Ich lasse, fortgetragen von einer inneren Unruhe, das Land, die Leute, liebgewordene Freunde hinter mir, reiße meine Wurzeln aus der Erde, nur um in einer neuen Heimat alles von Neuem zu beginnen. Ja, so ist es nun einmal. Ich komme mir vor, wie eine Heckenrose. Flache Wurzeln, die alles erfassen, umschlingen wollen, jedoch nicht in die Tiefe wurzeln. Ich denke an mein Ritual. Heute ist ein perfekter Tag dazu.
Daheim angekommen, ist meine Frau nicht im Haus: wohl beim Nachbarn oder einkaufen… Mein Weg führt mich in den Keller zu dem großen schwarzen Koffer. Vorsichtig hole ich ihn vom Regal, lege ihn auf den Tisch, öffne ihn vorsichtig. Eingehüllt in Schaumgummi befindet sich dort eine Vielzahl von Gläschen, alle gefüllt mit Erde. Teilweise ist die Beschriftung schon etwas verblaßt, das Etikett angeschmutzt. Jedoch der Inhalt ist gut zu erkennen. Erde aus Sidney, aus Südost-Asien, Südafrika, Spanien, der Sahara, dem Nordkap, und, und, und... Alle Farben von Sand, über rot bis zum tiefen Schwarz des Bodens aus dem Westerwald sind dort zu finden. In jedem Glas ein Stückchen Heimat, eine Handvoll Erde – mein Leben.
Behutsam entnehme ich dem Koffer ein leeres Glas, öffne behutsam den Deckel und gehe durch die Wohnung hinaus auf die Terrasse, hin zu den zurückgebauten Blumenbeeten. Mit einem kleinen Gartenschäufelchen fülle ich vorsichtig das Glas mit Erde, schraube es zu. Wie immer, wird mir in diesem Augenblick schwer ums Herz, werden die Augen naß, ohne daß ich mich der Gefühle schäme. Ein leises, stummes Gebet auf den Lippen, Dank an Gott, daß ich ein viertel Jahrhundert über diese Erde gehen durfte, läßt mich noch einige Minuten verharren, bevor ich mich, einen tiefen Seufzer ausstoßend, wieder in das Wohnzimmer gehe. Vieles schießt mir in diesem Moment durch den Kopf.
Am Schreibtisch beschrifte ich das Glas und verstaue es anschließend in meinem Koffer, den ich vorsichtig ins Regal stelle. Wie viele Gläser mag ich noch füllen in meinem Leben? Ich kann es, und will es nicht sagen. Wieder bleibt ein Stück von mir zurück.
Einen weiteren tiefen Seufzer ausstoßend, begebe ich mich in die Küche. Während der Kaffee blubbert, seinen verführerischen Duft meine Nasenflügel erbeben läßt, denke ich an die neue Heimat, die neuen Menschen, das neue Zuhause. Vieles habe ich vor – wie immer, wenn ich diesen Schritt in den letzten Jahrzehnten machte. Und es wird mir wieder leicht ums Herz, freue mich auf die neuen Herausforderungen, die neuen Inspirationen, die neuen Geschichten, die aus meiner Seele in die Tastatur fließen werden.

Und so war dieser Tag, ein Tag des Abschiedes, aber auch ein Tag des Neuanfangs. Keine Sonne ohne Schatten, keine Wärme ohne Kälte, kein Sir Blackwood ohne einen guten Kaffee – und Oldies.
 
Hallo, Sir Charles Blackwood,

was für eine wundervoll geschriebene Abschiedsgeschichte. Erinnerungen noch einmal Revue passieren lassen, Wehmut, sich verabschieden von der Wohnstätte, die ein viertel Jahrhundert das Leben der Familie beherbergte.

Ich komme mir vor, wie eine Heckenrose. Flache Wurzeln, die alles erfassen, umschlingen wollen, jedoch nicht in die Tiefe wurzeln.
Eine eindrucksvolle Passage ist dies.

Ja, und nun zum Hauptgeschehen. Was für eine herrliche Idee, Erde aus dem Garten ins Glas geben. Dieses zu den anderen Gläsern stellen, die bereits den jeweiligen Abschied symbolisieren. Die Gedanken dabei, Ungewissheit, wie viele Gläser werden noch hinzukommen?

Dann die plötzlich die Erkenntnis, dass jeder Schatten auch sein Licht hat. (Ich hab es jetzt mal anders herum geschrieben). Prima!

Deine Geschichte hat mich sehr berührt.

Lieben Gruß,
Estrella
 
R

Rose

Gast
Hallo Sir Blackwood,

eine Geschichte zugleich voller Herzenswärme und Abschiedsschmerz. Das Geschehen hat mich sehr angesprochen.
Es befinden sich ein paar Doppler drin, die aber ja auch gewollt sein können.

Blumige Grüße
Rose
 



 
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