Ein neuer Tag beginnt

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Sonnenkind

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Ein grauenvolles Piepen durchdrang die Stille. Sie wälzte sich durch ihre Kissenberge und versetzte dem Wecker einen Schlag, so dass er sich frühestens in zehn Minuten wieder melden würde. Vorher würde er sich das nicht mehr trauen. Sie drehte sich auf die andere Seite und glitt noch einmal sanft ins Reich der Träume. Doch der Wecker blieb unbarmherzig. Nach zehn Minuten nahm er all seinen Mut zusammen und piepte wieder gnadenlos. Wieder ein Schlag. Diesmal so heftig, dass der Wecker vom Nachttisch fiel. Sie angelte nach dem Wecker, aber es war nichts mehr zu machen. Den Sturz hatte er nicht überlebt. Es war ihr egal. Sie kuschelte sich in die Kissen und döste vor sich hin. Nach etlichen Minuten versuchte sie im fahlen Licht, welches durch die wenigen offenen Rolladenspalten fiel, auf ihre Armbanduhr zu schauen. Was sie erkennen konnte, hob ihre Stimmung keineswegs. Aber sie musste aufstehen, ob sie wollte oder nicht. Sie reckte und streckte sich noch einmal und schwang die Beine aus dem Bett. Lustlos zog sie die Rollade hoch und versuchte, ihre Füße in die sich wehrenden Pantoffel zu stecken. Von draußen fielen tausend flirrende Sonnenstrahlen ins Zimmer. Sie grummelte vor sich hin. Schönes Wetter konnte sie um diese Tageszeit nicht ertragen. Sie schlurfte ins Bad. Vor dem Blick in den Spiegel graute ihr. Sie wusste, wie sie um diese Zeit aussah: Ein zerknautschtes Gesicht, in dem sich die Falten des Kopfkissens abzeichneten, ein Vogelnest auf dem Kopf, welches am Abend vorher noch eine Frisur war und ein halbgeöffnetes Auge. Das andere Auge dachte gar nicht daran, auch nur ein bißchen zu blinzeln.
Sie tastete nach der Zahnbürste, während sie mit der anderen Hand versuchte, ihre Vogelnestfrisur wenigstens etwas in Form zu bringen. Nachdem sie ein paar Hände warmes Wasser in ihr Gesicht geworfen hatte, betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Gesichtsfarbe tendierte jetzt zu einem zarten Rosa und das zweite Auge schickte sich an, seine Lider zu öffnen. Sie warf sich dem Morgenmantel über und schlurfte durch die Wohnung, um die anderen Rolladen zu öffnen. In der Küche fiel ein ganzer Schwall Sonnenlicht durch das Fenster. Sie erschrak und ließ die Rollade gleich wieder ein Stück herunter. Für soviel Licht war es eindeutig immer noch zu früh. Sie erledigte wie in Trance ihre üblichen Handgriffe. Zum Glück störte nichts und niemand diese Routine. Dann verließ sie die Küche und wandte sich dem Zimmer zu, welches sie an diesem Morgen noch nicht betreten hatte. In diesem Zimmer befand sich der Grund, weswegen sie sich jeden Morgen aus dem Bett quälte.

Es war noch dunkel im Zimmer. Nur ein einziger Lichtstrahl fiel durch einen Spalt in der Rollade. Dieser reichte ihm. Er tastete nach seinem Schnuffeltier und nuckelte daran. Er war zufrieden, denn er wusste, dass sie kommen würde. So wie jeden Morgen. Geduldig wartete er und lauschte auf die Geräusche aus der Wohnung und auf den beginnenden Tag. Von draußen hörte er das Zwitschern der Vögel. Das gefiel ihm. Dann nahm er ihren schlurfenden Schritt wahr und wartete auf das Öffnen der Tür.

Sie öffnete die Tür. Im Zimmer war es noch dunkel, aber das Licht reichte aus, um das Kinderbett zu erkennen. Sie sah hinein und schaute in die blitzenden Augen ihres Sohnes. Mehr war von seinem Gesicht nicht zu sehen, aber sie wusste, dass hinter seinem Schnuffeltier ein breites Grinsen wartete. Unwillkürlich musste sie lächeln.
 



 
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