Ein unbefriedigender Zustand

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Raniero

Textablader
Ein unbefriedigender Zustand

Mit traurigen Augen schaute Julius Hagenbart aus dem Fenster.
„Jetzt habe ich aber die Nase voll“ sagte Julius mit weinerlicher Stimme, „ich gehe raus.“
„Aber Vater, das kannst du doch nicht machen, nun warte doch noch“ erwiderte Anne, seine Schwiegertochter, „du holst dir garantiert eine dicke Erkältung, in dem dünnen Hemd.“
„Aber ich warte doch schon so lange.“


Julius Hagenbart war vor einiger Zeit verstorben, im fünfundneunzigsten Lebensjahr, und seitdem harrte er aus auf die ihm rechtlich zustehende Beerdigung.
Täglich saß er am Fenster, im ordnungsgemäßen Outfit für den letzten Gang, und blickte voller Wehmut zum nahegelegenen Friedhof hinüber.
Julius war nicht der einzige, den diese Sorge drückte, mit ihm waren es nun fast hundert Personen beiderlei Geschlechts, die ungeduldig darauf warteten, unter die Erde zu kommen, einige von ihnen sogar schon seit Monaten.
Einige Monate nämlich war es schon her, dass Friedhelm Meierskötter, der einundvierzigjährige Bürgermeister der kleinen Ortschaft, diese recht merkwürdige Verfügung erlassen hatte; eine vorläufige Sterbe- und Bestattungssperrfrist, da, wie er sich ausdrückte, der einzige Friedhof des Ortes rappelvoll sei und erst einmal Ersatzflächen geschaffen werden müssten.
Doch mit dieser Verfügung lag er ein wenig daneben, der gute Bürgermeister, denn seine Bürger, vornehmlich die Betagten unter ihnen, hielten sich nun mal nicht daran.
Sie ignorierten einfach den ersten Teil der Frist und starben, wie gewohnt.
Gegen die Bestattungssperrfrist konnten sie allerdings nichts ausrichten und blieben daher aus Protest erst einmal zu Hause.
Mit ihnen protestierten ihre Angehörigen, sei es, weil sie Mitleid mit ihren lieben Verstorbenen hatten, die nicht zur Ruhe kamen, oder sei es auch nur, weil sie diese schnellst möglichst aus dem Haus haben wollten.
Darüber hinaus protestierten noch die gewerblichen Bestatter des Ortes, aus recht naheliegenden Gründen.


Während der Bürgermeister in fieberhafter Eile weitere Felder neben dem Friedhof ausheben ließ, formierte sich einige Wochen nach der allgemeinen Sperrfrist ein gewaltiger Protestzug aus Lebenden, Verstorbenen und solchen, die an den letzteren verdienen, und dieser Zug nahm direkten Kurs auf’s Rathaus.
Als der Bürgermeister von weitem die vielen Menschen erblickte, nahm seine Gesichtsfarbe eine derartige Blässe an, dass er unter den verblichenen Protestlern gar nicht aufgefallen wäre.
Ratsuchend wandte er sich an die Mitglieder des Stadtrates, und die rieten ihm unisono, sich der Menschenmasse auf dem Balkon zu präsentieren, anderes bliebe ihm ja wohl nichts übrig.
„Aber was soll ich denen denn sagen?“ stammelte er.
„Halt sie hin, mindestens noch drei Wochen.“
„Aber wie soll ich das denn machen? Das reicht doch nicht, bis dahin sind die Felder noch längst nicht fertig.“
„Versprich ihnen Steuererleichterung.“
„Steuererleichterung? Aber da haben die Toten doch nichts mehr von!“
„Die nicht, aber die Hinterbliebenen.“


Derart mit ‚guten Ratschlägen seiner ‚Berater’ ausgestattet, zeigte sich der Bürgermeister auf dem Rathausbalkon, mit schlotternden Knien.
Als die herannahende Menschenmenge ihn dort gewahr wurde, hagelte es wütende Protestrufe.
„Wir wollen heimgehen“ schrien die Dahingeschiedenen, „auf, in die Gräber!“
„Sie wollen heimgehen“ unterstützen sie die Angehörigen, „lass sie endlich ihren letzten Gang antreten!“
„Und wer denkt an uns?“ beschwerten sich die Bestatter, „wenn das so weiter geht, bringt uns das ins Grab.“
„Ins Grab“ empörten sich die Ersteren, „da seid ihr noch lange nicht dran!“

Gequält blickte der erste Bürger der Stadt hinunter auf die Schar der Unduldsamen, während sich seine Räte hinter den Gardinen versteckten und wohlweislich mit weiteren Ratschlägen zurückhielten.
„Was soll ich denn machen“ rief er verzweifelt den Menschen zu, „die neuen Felder sind noch nicht fertig.“
„Lass schneller arbeiten“ antworteten alle im Chor, „im Dreischichtbetrieb, rund um die Uhr.“
„Das tun wir ja schon.“
„Das reicht aber nicht. Denk dran, Bürgermeister, wir sind das Volk, der Souverän, der dich abwählen kann.“

In höchster Not kam dem ersten Bürger ein rettender Gedanke.
„Verehrte Mitbürger, hören Sie zu, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich biete jedem von Ihnen, der ein wenig wartet und sich später bestatten lässt, eine Prämie. Eine Prämie von sagen wir zehn Euro pro Tag. Zehn Euro täglich bis zur endgültigen Beerdigung, allerdings unter der Voraussetzung, dass ihr noch ein Weilchen wartet. Ist das ein Wort?“




Die Reaktion der ‚verehrten Mitbürge’ fiel sehr unterschiedlich aus.
Den Verstorbenen missfiel der Vorschlag sehr, da sie nichts davon hatten, weil sie dieses Geld sowieso nicht mehr ausgeben konnten.
Erfreut zeigten sich hingegen die Angehörigen über den zu erwartenden Geldsegen, auch wenn sie dafür ihre ‚lieben Verstorbenen’ noch ein Weilchen beherbergen durften.
Absolut nicht erfreut aber waren die Bestatter, da sie von dieser Lösung rein gar nicht profitierten, sondern eher mit Einbußen zu rechnen hatten, solange die Toten erst einmal zu Hause blieben.
Eine lebhafte Diskussion setzte ein, unter den Protestlern, unzählige Male wurde das Für und Wider des ungewöhnlichen Vorschlags hin und her gewendet.
Der Bürgermeister aber verließ erleichtert den Balkon, hatte er doch vorerst einmal seine Haut gerettet.
Eine Weile verharrte die Menschenmenge noch vor dem Rathaus, dann aber löste sie sich auf und die Leute machten sich total zerstritten auf den Weg.
Die Angehörigen der Toten eilten leichtfüßig, mit schnellen Schritten, nach Haus, um dem Bürgermeister auf direktem Wege ihre Kontonummern zukommen zu lassen, für die Prämienraten.
Die ‚lieben Verstorbenen’ aber schlichen traurig hinterher, wobei sie verstohlen wehmütige Blicke über die nahe Friedhofsmauer warfen.
Die Verlierer des Tages aber, die gewerblichen Bestatter, suchten unverzüglich die nächsten Kneipen auf, um ihren Frust über ihre leerstehenden Institute herunterzuspülen.

Die Freude des Bürgermeisters aber hielt nicht lange an.
Bald waren zwar, wie versprochen, die zusätzlichen Friedhofsfelder fertig gestellt, doch nun wurden sie nicht mehr gebraucht, weil die Angehörigen ihre Toten jetzt nicht mehr aus dem Haus lassen.
Auf der anderen Seite toben die Bestatter vor Wut und drohen der Stadtverwaltung, sie in Regress zu nehmen für die immensen Gewinnausfälle der letzten Zeit und über kurz oder lang steuert die Stadt einem riesigen Schuldenberg entgegen.
In der Tat, ein unbefriedigender Zustand, und es steht zu befürchten, dass dieser noch länger anhält.

Der Bürgermeister aber hat bei seinen vielen schlaflosen Nächten nur noch einen einzigen Wunsch.
Falls sich irgendeines schönen Tages die Situation doch noch zum Guten wenden sollte, dann wird er sich sofort in Luft auflösen; diese Verfügung hat er bereits testamentarisch hinterlegt…
 



 
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