Eine Distel ist auch eine Rose

Eine Geste, ein Schwung. Ich kann hier sitzen in der Sonne und den Passanten zusehen, ohne das mir langweilig wird. Sie beobachten und beobachten. Blicke kreuzen sich und dann trennen sie sich, so als sei es ein Zufall, das sie einander begegnet waren. Jeder beobachtet jeden irgendwie. Und wir werden beobachtet, wir fühlen die Blicke des Anderen auf der Haut und ihre Neugier. Die Blicke formen uns. Sie maßregeln uns. Sie zeichnen uns. Unser Verhalten wird in Blicken und durch Blicke codiert. Wir beobachten wohlwollend, kleinlich, zimperlich, ängstlich, neugierig, interessiert oder sogar gelangweilt. Ich beobachte so viel ich kann. Ich liebe es, den Menschen bei ihrem ewig Gleichen zuzusehen. Wie sie den Kaffeelöffel im Becher drehen, wie sie ein Salatblatt aufspießen und zum Mund führen oder wie sie ihr Ei öffnen. Mich interessiert, ob sie dann die Zunge erwartungsvoll der Speise entgegenstrecken oder ob sie nur den Mund aufmachen und den Genuß im geschlossenen Raum erkennen. Ich schaue ihnen zu, wenn sie sich unauffällig oder unbewußt kratzen, vielleicht nur die Haare zur Seite schieben. Kleine Gesten, die wir von uns vielleicht nicht kennen, die suche ich, ein zitternder Finger oder einzuckendes Auge. Wir wissen, daß wir beobachtet werden, immer und überall. Manchmal wollen wir das, manchmal ist es uns unangenehm und oft auch peinlich.
Fotografieren ist auch ein Beobachten, Beobachten auf Zeit eben, eine fixierte Beobachtung für andere. Und die Perspektive des Auslösers ist preisgegeben, für alle anderen Beobachter. Mit einer Fotographie hole ich ein Stück Vergangenheit in die Gegenwart und mache Veränderung sichtbar und vergleichbar. Ab der Pubertät lernen wir, daß es unschicklich ist, wenn wir Freude daran haben, uns zu präsentieren. Wir dürfen keinen voyeuristischen und auch keinen narzisstischen Spass an unseren oder fremden Fotografien haben, Fotos werden entweder aus beruflichen Gründen oder aus sozialen Anlässen geschossen, aber nicht zum Vergnügen am Beobachten und am Beobachtet?Werden. Und doch suchen wir heimlich uns auf dem Papier, suchen das Bild, welches wir von uns geben, weil wir den Verlust der Außenperspektive immer und überall spüren. Die Lust an den Fotographien verlernt sich wie von selbst. Aber das Beobachten ist mir nicht vergangen, selbst, wenn ich im Fahrstuhl züchtig den Blick wie alle anderen senke, mir schnell eine Ecke suche, die ich dann eingehend studiere. Doch auch in der Nische kann ich beobachten. "Zeigt her Eure Füße, zeigt her Eure Schuh." Und die Hosenbeine sind so verschieden wie die Menschen, ein Fleck hier und eine Bügelfalte dort. In die Details versinken bis die Tür den Anlaß zum Weggehen und Wegsehen gibt.
Und all die Beobachtungen treiben ihre Geschichten voran, ein blauer Fleck im Gesicht einer Frau und gleich frage ich mich, weshalb sie bei diesem Idioten bleibt. Aber es kann auch alles anderes sein, vielleicht wirklich und ausnahmsweise ein Unfall, vielleicht ein Liebesakt mit härteren Methoden, vielleicht haben sich auch beide geprügelt oder es war der Vater oder ein Fremder.
Eine Stiergipsfigur wanderte beim Nachbarn gegenüber von Fenster zu Fenster, immer war das Zimmer dahinter leicht rötlich erleuchtet und ein bestimmter Vorhang verdeckte das Fenster; die Uhrzeit war nicht von Bedeutung, so schien es. Schon ohne es zu wollen, suchte ich nach der Figur auf dem Fenstersims und maß die Dauer des Standortes. Die Beobachtungen treiben ihre Geschichten selbst, und die Geschichten sind launisch wie das Wetter - in mir. Beobachten, was Andere nicht sehen können, aus meiner Perspektive sehen. Und die Welt öffnet sich in meinem Sehen immer wieder neu. Den ganzen Tag kann ich so sitzen, die Beine übereinander geschlagen, die Sonnenbrille auf, in einigem Abstand das Buch auf dem Tisch und einfach nur so gucken und beobachten. Mich selbst beobachten, meine Gedanken beobachten, während ich Andere beobachte und daran wie an einer Lust ertrinken. Vielleicht darauf achten, welche Geste mich gerade erwischt, wie ich die Haare aus dem Gesicht fische und mich dann fragee, wie das wohl aussieht von außen. Dieses Außen, das es nur bei den Anderen gibt, nie aber für mich. Dieses Außen, das ich bei Anderen sehen kann, bei mir kann ich es ahnen, vielleicht fühlen. Ein Außen erfahren.
Ich sortiere mich, wenn ich so sitze und beobachte, ich sortiere meine Handlungen, teile sie analytisch meinen Beobachtungen zu, rühre bedacht den Kaffee und prüfe mein Äußeres in seinen Details, nichts bleibt ungesehen, und ich schaue mich um, verliebe mich fast in mein Umfeld und stecke alle nur denkbaren Beobachtungsfelder ab. Nicht nur die Menschen, sondern auch Tiere und Bilder fange ich ein, der Geruch von der Hecke an der rechten Ecke und die Jalousie dort hinten im Haus, halb geöffnet, nicht ganz zu, ich sortiere meinen Blick. Was verbirgt sich noch? Was kann ich nicht sehen, riechen, schmecken oder spüren? Wie ist die Farbe des Glücks, wenn die Kinder sich von der Hand reissen und lachen? Wie fühlt sich die Furcht an, wenn der Wind aufzieht und weht, während ich hier sitze und schaue, in das Leben der Anderen hineinschaue. Ich will sehen, was dahinter ist, hinter die Nacktheit möchte ich sehen, nicht die Nacktheit selbst, die ist bei allen gleich. Ein anderes Innen um meine Nicht?Außen zu verstehen.

Das konnte ich mit ihr auch gut. Fröhliches Leben leben. Vielleicht dabei einen Tee trinken, oder auch nicht. Manchmal haben wir nur so gesessen und Heringssalat zum Frühstück gegessen. Aber lustig war es mit ihr. Meine beste Freundin. Frauen haben immer eine beste Freundin, selten keine oder zwei. Eine beste Freundin ist das Gewissen, das alles weiss und alles kennt und auch alles versteht. Und am Ende der Freundschaft ist sie auch die, die zur besten Feindin wird. Das passiert nicht, weil man die Absicht hat, den geliebt Menschen zu verletzen. Man will ihr doch nur verstehen helfen, man kennt sie doch so gut. Und Verstehen war am schönsten mit ihr.
Diese mandelförmigen großen Augen passten so gar nicht zu diesem heimlich vampirartigen Charakter; sie machten sie so treuherzig und lieb. Lieb war an ihr nichts, liebenswert sehr viel. Definiere mehr von nichts! Wenn wir irgendwo in einem der Straßencafés saßen ? so wie ich jetzt ?, dann ließen wir die Geschichten der Passanten treiben, wir erfanden den Streitgegenstand des Paares an der Straßenecke, oder dachten uns einen Monolog aus, den die alte Frau ihrem Hund erzählten könnte. Manchmal schrieben wir die Geschichten auch auf oder verbanden sie miteinander. Sie war lustig. Ich habe sie solange geliebt, bis ich mir ihren Frohsinn und Optimismus abgeguckt hatte. Das war Madita, meine beste Freundin. Madita war von allem genau das Gegenteil von mir; sie hatte alles, was mir fehlte und ich ersetzte ihren Teil, der ihr fehlte. Ich hatte keine Ahnung davon, dass wir uns nur gespiegelt hatten, und dass jeder in jedem Anderen nur sucht, was er bei sich nicht sehen wollte oder konnte. Ich wusste das damals nicht. Sie auch nicht. Madita war eine starke Frau, belesen und gebildet. In der "Familienbibliothek" - so nannte sie die -, gab es zu jedem Thema mindestens ein Buch und immer, wenn sie Lust hatte, konnte sie sich irgendein Buch ausleihen; es gab sogar ein Buch mit dem Titel "Tantra - die vergessene Liebeskunst", enthalten waren verschiedene komische Stellungen, von denen ich nicht mal heute alle ausprobieren würde. Sie wusste auch zu allem etwas, sie wusste zumindest, dass es da ein Buch zu gab. Bei uns gab es keine Bücher. "Schliesslich gibt es Stadtbibliotheken!", hatte mir meine Mutter gesagt. Wozu sollte ich auch so viel lesen wollen, es ist Zeitverschwendung, denn man liest schon in der Schule so viel. Und dabei gab es wichtigeres, als sich mit irgendeiner Figur zu beschäftigen, die Momo hieß und real nicht mal existierte. Ich hielt diese Familienbibliothek für eine wundersame Ausnahme und fand, dass Madita viel Glück hatte, als sie in diese Familie geboren worden war. Aber auch zu dem Thema fand Madita schnell das passende Buch: Aus dem ging hervor, daß wir uns unsere Familien selbst wählen, irgendwann zwischen Tod und Geburt oder Wiedergeburt. Ich habe nicht gewählt, mich hat niemand gefragt, sonst hätte ich mir selbst schon mehr Zielstrebigkeit und eine Talent mitgewünscht.
Ich hatte Lust zu lesen, denn eigentlich wird in diesen Geschichten beschrieben, was jemand anders - wie der Autor - vielleicht beobachtet hatte. Und ich mochte Bücher, weil Künstler sich trauen zu schreiben, was Andere nicht denken möchten; sie können sehr gut beobachten. Alle Künstler müssen diese Lust fühlen, wenn sie beobachten, sonst wären sie nicht so gut darin. Ich lieh mir viele Bücher aus der Familienbibliothek aus, meine Mutter merkte es nie. Mist.
- "Ja, natürlich! Ich sitze hier und arbeite daran!" (...) "Nein, ich arbeite daran, das sagte ich doch schon!" und du störst mich in meinen Gedanken. "Wenn ich nicht damit fertig werde, rufe ich dich wieder an! Beruhigt dich das!?"; ich habe einfach jetzt noch keine Lust, aber wie soll ich ihm das erklären. Ich will meine Beine schaukeln, hin und her wippen und warten, ob sich etwas verändert, etwas, was sich sonst noch nicht verändert hat. Nein, so etwas kann es ja nicht geben, nicht in seiner Welt! "Hör zu, wenn du mir nicht vertraust, dann mach es doch selbst! Ich muss es nicht machen!", heute will ich auch nicht. "Gut, dann hole es dir morgen ab, ich lass es liegen!", hätte er mir auch eher sagen können. Wenn ich mich da wieder reingekniet hätte, dann würde ich mich jetzt maßlos ärgern.
Ob Madita das auch passiert wäre? Wahrscheinlich nicht, sie war so intelligent und sie konnte so einfach entscheiden, was sie wollte. Sie gebrauchte keine Ausflüchte, zumindest nicht vor mir; sie war nicht lieb.
Andere kann man selten in dem Moment beobachten, da sie ihre Schönheit freiwillig zeigen. Meistens laufen, stolzieren, gehen, schleichen oder hasten sie an uns vorbei und haben dieses Nichts im Gesicht. Ein Mensch auf der Straße, der auffällt, weil er schön ist, der trägt seine Gedanken im Gesicht, oder er trägt eine Idee, einen Wunsch auf den Lippen, oder er lächelt über einen Witz, über eine Geschichte oder über eine Beobachtung. Unsere Gesichter sind im Moment der Bewegung von einem Punkt zum anderen oft ausdruckslos und hässlich leer. Ich sitze hier und sehe mir die Leute an, alle; die Kleinen auf dem Schoß oder neben ihren Müttern, die Großen in ihren Cliquen, die Männer mit Vollbart, mit vorgeschobener Brust, mit hängenden Schultern, mit kahlen Köpfen und scheinschwangeren Bäuchen, die Frauen mit ihrem gebeugten Kreuz, mit den geschminkten Gesichtern und der perfekten Kleidung, mit ihren dicken und dünnen und langen und nackten wie bedeckten Beinen, mit den kurzen und den langen, den grauen und gefärbten Haaren. Ich kriege nicht genug davon, ich kann es nicht lassen. Und immer muß ich es kommentieren; es amüsiert mich, was ich sehe, es macht mich traurig, was ich sehe. Aber ich kann es nicht lassen. Es gibt immer wieder etwas Anderes, Fremdes, Neuartiges und dann stecke ich in den Beobachtungen drin, und sie treiben Geschichten aus. Es sind meine Geschichten, sie gehören mir. Früher haben wir sie geteilt; oh und ich werde diese Geister nicht mehr los. Madita?
Oft kann ich das auch nicht mehr machen, hier sitzen und einen Kaffee trinken - ich trinke keinen Tee mehr - und mir die Menschen ansehen. Meine Kinder müssen versorgt werden; wenn sie aus der Schule kommen, muss vorher kocht sein. Nein, da bleibt nicht viel Zeit. Ich muss arbeiten, ein bisschen zumindest. Ist ja auch nur einen Halbtagsbeschäftigung. Für die Abwechslung. Ich mache auch nichts besonderes. Madita wäre bestimmt sehr viel erfolgreicher geworden, egal was sie gelernt hätte, sie wäre einfach gut darin gewesen. Ich glaube, sie hätte studiert, nun, sie hätte es müssen bei den vielen Büchern, wahrscheinlich etwas schweres wie Betriebswirtschaft mit Spanisch und was Kreatives wie Jounarlismus; sie hätte einen Weg gefunden, daß sinnvoll zu einem Beruf zusammenzuschmelzen und schon damit während des Studiums richtig Geld zu verdienen. Schon ihre Eltern hatten studiert und waren gebildet. Das färbt ab. Madita hatte sich Kinder gewünscht, eine kleine Kolonne, die dann mit ihr vorne weg durch die Straßen gezogen wäre, während sie Geschichten erzählte. Sie hätte wahrscheinlich auch noch geschrieben. Wir sprachen oft darüber, was wir machen wollten, wenn wir erwachsen wären. Madita, hättest du dir deinen Traum erfüllt? Bestimmt. Du bist immer so weit weg. Neulich erst habe ich sie besucht, und da war dann wieder dieses bedrohliche Schweigen, ganz so, als sei die Zeit verloren. Aber ich kann doch nichts dafür. Und du bleibst stumm. Lachen war auch am schönsten mit ihr. Der Volksmund sagt, dass es für alles eine Zeit gäbe. Die für unsere Freundschaft ist abgelaufen, vor langer Zeit. Unsere Freundschaft hat gedauert von bis. Aber das es so endete!? Ich wusste das nicht, sonst hätte ich darüber noch mal gesprochen. In der Schule haben wir gelernt, dass man Geschichten anders enden lassen kann, so wie einen Alptraum, der einen nachts nicht schlafen lässt! Meine Jüngste hat noch letzte Nacht von Möhrensaft geträumt, den sie nicht trinken dürfe, weil ein anderes Mädchen es verboten hatte; ich hatte es ihr erlaubt und so konnte sie weiterschlafen. Ich würde dir gerne diese Erfahrungen mit meinen Kindern geben, wenn man Erfahrungen verleihen könnte.
- "Ich würde lieber zahlen, bitte!", ich muß gehen, sonst werde ich melancholisch. "Nein, ich habe das passend. Hmm!" "Ja, behalten Sie den Rest. Bitte."
Nein, das sollte ich lieber nicht liegen lassen, er erschlägt mich, wenn ich das Handy schon wieder vergesse. Muss ja auch nicht alles wissen. Ich faule Tüte. Eigentlich ist es ja egal, ob er weiss, dass ich hier gesessen habe oder nicht!
Ich bedaure, dass er sie überhaupt nicht kennengelernt hat, ich meine, er hatte keine Chance. An ihr konnte man immer so schön messen, wie ernst die Absichten eines Mannes waren. Sie hatte stets behauptet, dass sie jeden haben könne; sie war eben nicht lieb. Eigentlich kann jede Frau jeden Mann haben, wenn sie es drauf anlegte. Erstens sind Frauen das Geschlecht der hässlichen Entleins und haben damit die Kraft, aus sich Schwäne hervorzulocken. Männern gelingt dies wesentlich seltener. Zweitens sind Männer auch das Geschlecht, dass eben zuerst auf den Busen schaut, bevor das Gesicht überhaupt interessant genug wird. Dadurch ist drittens gewährleistet, dass eine Frau durch Nutzung eben jener Reize an ihr Ziel gelangt. Madita kannte diese drei Regeln. Schon der Volksmund behauptet, dass ein Mann nichts dafür könne, wenn er mal bei einer fremden Frau schwach würde, da Sex bei ihm eben äusserlich sei. Und bei Frauen sei fremder Verkehr verwerflich, weil bei Frauen alles in die Tiefe reiche, eben so wie ihr Geschlechtsorgan! Mir ist das gesagt worden, als mein erster Liebhaber mit Madita im Bett gelandet war. Wie sollte ich ihr böse sein, sie mochte zufällig die gleichen Männer wie ich, aber es war mein erster, und er wusste nichts von den drei Regeln. Madita und ich haben ausführlich über dieses Problem diskutiert, haben es ganz in fraulicher Manier erörtert, bei einer Tasse Tee in einem Café einen und noch einen Nachmittag lang. Mein Erster war der Ansicht, dass selbst eine Entschuldigung unangebracht war, weil es für ihn nicht wichtig war. Für ihn war das nicht so bedeutsam, und ich sollte daran nicht markieren, was er für mich empfände oder nicht; wir redeten nicht mehr weiter darüber, ich beendete die Beziehung und heulte mich bei Madita aus. Madita hatte mir zumindest vorher gesagt, dass sie schwach werden könnte, wenn die Gelegenheit es erlaubt. Und sie war ehrlich gewesen. Er nicht, denn er hat sie danach noch regelmäßig aufgesucht. Madita band sich nicht an einen Mann, sie wollte ihre jugendliche Freiheit genießen. "Später lass ich mir diesen Ring verpassen, der schon für sich das Gefängnis ist. Dann ist auch die Zeit für Kinder und die Zeit für Treue, aber nicht jetzt. Ich bin noch nicht gefangen, ich bin frei."
Ein sprühende energiereiche Kombination ist es, wenn man jung und frei ist; die Fehler gehen noch mühelos von der Hand, ebenso wie unüberlegte Worte und überlegene Meinungen. Für Madita war das Leben die Gegenwart, und in der Zukunft hingen die Träume wie bunte Bonbons am Himmel.
Dabei gibt es für jeden Menschen so einen heimlichen Plan, dem er folgt, jede Generation hat seinen Plan. Ein Plan als roter Faden gibt den Weg vor, weshalb man seine Zeit mit Einkaufen im Supermarkt vertut, oder ob man diesen Einkauf auch an seine Haushaltskraft delegieren kann. Und doch ist der Plan immerzu eine Überraschung, immer wieder steht man an einem Punkt in seinem Leben, und wundert sich, dass es zum einen so weit von der gewünschten oder nur vorgestellten Lebenslinie weg ist und dass es zum anderen überhaupt dazu gekommen war, dass man an diesem Punkt nun selbst steht. Es gibt Dinge, die kann ich nicht mehr erreichen, selbst wenn ich mich noch so sehr bemühe. Ich würde gerne Klavier spielen können, doch mir fehlt die Zeit und ich werde älter. Wenn ich so alt bin, daß ich wieder mehr Zeit haben werde, dann kann ich das Handwerk vielleicht noch lernen, nicht aber das Gefühl für die Musik. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir dazu neigen, unseren Kindern aufzuzwingen, was wir versäumten. Ja, das wäre ein möglicher Grund dafür. Und siehe, sie sind undankbar. Sie wollen nicht. Sie beklagen sich. Und sie machen tatsächlich die gleichen dummen Fehler, welch eine Zeitverschwendung. Madita, auch diese Erfahrung würde ich dir gerne schenken.
Ebenso ist unser Umgang miteinander, Zeitverschwendung. Ich möchte am liebsten nicht mehr umgehen. Investitionen in Freundschaften haben sich nur als junger Mensch wirklich gelohnt, alles danach war Zeitverschwendung und Enttäuschung. Als Jugendliche habe ich noch an die Freundschaft geglaubt, habe sie gelebt und dachte, ich würde einiges opfern, für einen Freund. Mit den Jahren wurden die Bekanntschaften immer oberflächlicher und flachten letztlich so ab, daß jegliche Freundschaft, die doch durch dick und dünn gehen soll, spätestens bei mitteldünn verloren ist. Geblieben sind oft nur Zweckfreundschaften, die sich auflösen, sobald man eine bestimmte Bühne verläßt oder eine andere betritt. Entweder man erhält sich eine Jugendfreundschaft oder es ist schwer, eine einigermaßen interessante Beziehung aufrecht zu erhalten. Madita lernte ich früh genug kennen; wir hatten die Kraft für eine dauerhafte und ganz große Freundschaft. Ich wußte schon damals, daß ich ehrlich meinte, jederzeit für sie da zu sein, wann auch immer sie mich einmal brauchen sollte. Noch heute denke ich oft zurück und wünschte, einiges von dem Gesagten nicht gesagt zu haben. Aber im Grunde ist es gleichgültig, denn die Schule war aus und wir hatten unterschiedliche Wege eingeschlagen. Wir haben versucht, unser ?Uns? aufrecht zu erhalten, was viel Zeit gekostet hatte. Schwierig war schon, daß ich einen Beruf ausüben wollte, der sich die Freizeit der Anderen als Einnahmequelle dienlich machte. Arbeiten, wenn die Freunde frei haben. Und sie. Sie ging ins Ausland, sie wollte vor dem Studium ihr Französisch verbessern und nebenbei etwas Geld verdienen.
Und dann war er gekommen, ihr Superheld. Alles hatte sich verändert. Es war nicht viel, aber es war ein dünner Hauch, eine leichte Akzentverschiebung, die schon seine Sprache mitbrachte. Er war der erste, der mir auch gefiel. Ja. Er war ein arroganter Idiot und Draufgänger, aber er war witzig und charmant. Und er war im höchsten Maße eifersüchtig. Als sie zurück kam, hatte sich ihre Aussprache perfektioniert und ihr Denken hatte das Französische schon stark angenommen. Sie begann ein Studium der Sprache; an ihre Fächer kann ich mich nicht mehr erinnern. Er kam nach Deutschland, er kam zu ihr; er zog in ihr Leben ein und bezeichnete es als sein Quartier. Sie ließ sich nach und nach immer deutlicher und fühlbarer einschränken. Schließlich war sie ihm das schuldig, er hatte alles für sie zurück gelassen und aufgegeben, selbst wenn er nicht mal ihre Sprache lernen wollte. Wer hatte gedacht, daß sie für ihn auch das Studium als letzte Insel des Freiraums aufgibt? Unser "Uns" war das erste, was sie aufgegeben hatte. Ich hatte noch einen Kampf geschlagen, aber die Schlacht habe ich verloren. Versucht habe ich ihr zu beweisen, daß dieser Mann nichts ist, worauf sie wert legen sollte. Doch sie erinnerte sich nicht daran, wie sie mir die Augen geöffnet hatte, damals, bei meinem ersten. Sie war so verletzt. Sie hatte auch ausdrücklich gesagt, daß sie ihn nicht teilen werde, und wenn ich ihn mir nähme, dann wüßte sie nicht, was sie täte. Sie hatte sich nicht getraut, zu sagen, was sie dann tun wollte. Ich war erfolgreich und sagte es ihr, bei einer Tasse Tee im Café. Wir stritten uns, aber wir machten keine Szene. Wir hatte tränennasse Gesichter. Wir trennten uns mit Hoffnung. Aber wir telefonierten nur noch selten, es fehlte vielleicht auch an Zeit.
Ihr Studium vernachlässigte sie, und sie zog zu ihm. Beides ging sehr schnell. Manchmal klingelte das Telefon und er war dran. Jedesmal wollte er wissen, ob ich allein sei und Lust hätte auf seine Gesellschaft. Schließlich sprach ich ja auch etwas französisch, wenn kannte er denn auch sonst schon. Er war zwar eifersüchtig auf jeden Mann, der kurz zu Madita sah, aber er selbst hatte für sich keine Probleme damit. Madita hielt es für ein Zeichen der Liebe, daß er eifersüchtig war. Sie kokettierte anfangs damit. Ich habe seitdem dem Gefühl der Eifersucht misstraut. Wenn ein Mann eifersüchtig wird, dann handelt es sich nur um das Gefühl von Angst vor Besitzesverlust. Ich bin kein Besitz. Und wenn ein Mann liebt, dann auch den Wunsch auf Freiraum. Aber das kriegt man nicht mit einem Mann zusammen. Ich habe das aufgegeben. Nur Eifersucht akzeptiere ich nicht als Liebesbeweis. Fehlende Eifersucht kann ist nach so einer Rechnung Ignoranz statt Toleranz? Madita machten seine kleinen Amorösitäten nichts weiter aus, sie war bei mir nur verletzt. Er war fies, wenn sie sich stritten, war ich die Waffe, die er auf sie richtete. Madita meldete sich nicht mehr. Sie glaubte mir nicht, nicht ein einziges Wort. Ich hatte verloren, ich hatte sie verloren in dem Kampf. Zuletzt blieb sie ganz in der Wohnung, ging kaum noch weg, fuhr höchstens einkaufen, damit sie ihm kochen konnte. Zu der Zeit schloß ich meine Ausbildung ab; ich war nicht so gebildet wie Madita, aber ich schaffte die Lehre. Sie hatte aufgehört zu schreiben und zu lesen. Sie hatte mit ziemlich allem aufgehört, außer mit ihm. Wir sprachen überhaupt nicht mehr miteinander, selbst seine Offstimme blieb aus. Ich arbeitete dann an meinem Beruf, ich arbeitete daran, mehr als nur Tellertaxi zu sein. Frankreich mied ich, obwohl ich durch ihn besser französisch als englisch sprechen konnte, also fuhr ich nach Spanien und lernte diese Sprache, diese Küche und diese Welt. Ich blieb und schickte Karten, ich blieb länger und schickte mal einen Brief; alles blieb unbeantwortet, dennoch bildete ich mir dann und wann ein, wir seien noch immer so gute Freunde, nichts könnte "uns" trennen. Aber wenn schon genügend räumlicher Abstand gewachsen ist, dann drehen sich die Gedanken um andere Dinge und ich wusste nicht, ob ich nicht einfach für immer in Spanien bleiben sollte. Deutschland war kalt und fremd.
Damit ich einen kleinen Kontakt nach Deutschland behielt, kaufte ich mir am Touristikstand täglich eine Zeitung aus Deutschland. Aus Neugier und Langeweile habe ich mir angewöhnt, die Todes- und Geburtsanzeigen zu lesen. Ich blätterte eben gerne durch die Tageszeitung, weil ich dann zumindest gebildet aussah. Kann man sich Bildung aneignen? Unser Plan steht irgendwo geschrieben und in meinem sah niemand vor, daß ich gefördert werden müßte, daß ich die Ballettschule besuchen sollte, daß ich eine berühmte Bildhauerin werden sollte, daß ich Professorin oder auch nur Ärztin werden sollte, auch kein Klavier war vorgesehen. Irgendwie hatte ich eben nur den Plan des ganz normalen, des durchschnittlichen und des einfachen. Von mir gibt es mehr, als von jenen, die Bildhauerin, Schauspielerin oder Professorin werden. Von mir gibt es so viele, daß sie auf den Straßen alle gleich gelangweilt aussehen. Zumindest hat mir mein Plan eine Ausbildung gegönnt, die ich sogar geschafft habe. Mein Plan hatte mir noch ein Jahr Spanienaufenthalt und Lebenserfahrungen in einem fremden Land beschert. Dann hat der Plan mir noch Kinder und ein bißchen "Zuschauen" gegeben. Allerdings kamen die Kinder etwas früher als ich mit meiner beruflichen Laufbahn fertig war; so gesehen war mein Plan vor mir mit dem Planen der beruflichen Laufbahn fertig. Ich hatte gedacht, daß ich noch ein bißchen zur See fahre, und daß ich danach nach Deutschland zurückkehre und zur Schule gehe, um mich weiter zu bilden und dann eine Managertätigkeit im gastronomischen Bereich anstreben kann. Aber ich hatte abbrechen müssen. Mein Plan kreuzte sich mit dem Plan, der in einem größeren Zusammenhang zu stehen scheint. Als ich meinen Mann kennenlernte, war das zu einer Zeit, da ich Hilfe brauchte, ich war so einsam und so allein, so verletzlich und ungeschützt. Nur wegen Madita und weil sie dem ?Uns? keine Chance mehr gegeben hatte.
Der Winter kommt dieses Jahr etwas zu früh, das Laub hängt noch Grünbraun in den Zweigen und der Schnee liegt obenauf. Der Schnee vertreibt die Wilde und das Wüste des Herbstwindes, zähmt den Wind und macht ihn kälter. Die schneevermatschten Blätter dreht der Wind nicht in kleinen Wirbeln über den Platz; kleine dreckige Blätterknäule liegen an den Straßenrändern und hier und da an den Wiesen. Wenn doch jetzt noch Krokuse durch die Erde brächen, oder schon die ersten Schneeglocken. Wenn der Frühling so früh käme, dann könnten wir Weihnachten Ostereier färben. Jesus wäre gestorben, bevor seine Geburt zu feiern sei. Madita ist auch Ostern gestorben; ich habe es in der Tageszeitung gefunden. Niemand rief mich an, weder ihre Familie noch er. Ich war ja auch nicht da, ich arbeitete in der spanischen Frühjahrssonne. Ich wußte nicht, ob ich hin sollte. Für sie? Sie hatte mich nicht mehr sprechen und nicht mehr sehen wollen. Sie hatte mir nicht mehr geglaubt. Sie hatte auch an ?uns? nicht geglaubt. Sollte ich trotzdem hingehen? Er würde es wieder als Chance sehen, er würde mich nicht lassen können. Und ich, ich machte ihn verantwortlich. Wieso war sie gestorben? Lange dachte ich darüber nach, weil ich nicht wußte, was passiert sein könnte. Ich kannte sie so gut, sie hatte so viel Lust am Leben gehabt. Endgültig war ich allein. Die Hoffnung war jetzt begraben. Und, sollte ich nicht doch hingehen? Ihr die letzte Ehre erweisen? Sie sehen und erfahren, was ihr angetan wurde, wollte ich dringlich. Ich trug Trauer; ihr Halstuch und ihr Parfum, die Haare ließ ich mir abschneiden, ganz kurz. Nein, kein schwarz, sie liebte die Sonne und gelb, ich zog ein gelbes Kostüm an, ein schwarzes Tuch trug ich bei mir. In meinem Herzen war alles so kalt und finster, die Tränen kamen von woanders. Nach einem Jahr kehrte ich also schon wieder zurück nach Deutschland, der Grund meiner Abreise war der meiner Ankunft. Ich fügte mich dem. Deutschland hatte anders ausgesehen, als ich wieder einreiste. Es war dunkler, hatte viele Schattierungen, die ich von den spanischen Inseln nicht kannte. Die Menschen sahen alle anders aus; bunter waren sie, nicht von der Kleidung, sondern viel mehr von ihren Formen. Deutschland ist ein buntes Volk, ich hatte das vorher nur geahnt. Jetzt wusste ich es genau, alle sehen einander anders aus; ähnlich müsste es in Amerika sein.
Ich ging zur Trauerfeier, begrüsste die Familie. Tatsächlich, er war auch da. Sie war bei ihm geblieben. Meine Neigung, ich beobachte die Trauergemeinde und vergesse, daß ich ein teil von ihr bin. Ich will nicht dazu gehören; ich hätte sie nicht sterben lassen. Alle tragen Schwarz; schwarze Strümpfe, schwarze Schleier, schwarze Schuhe. Es tropft aus meinem Gesicht. Der Pfarrer erzählt eine traurige Geschichte von einer Frau, die zu jung starb, weil sie nicht essen wollte. Suppenkasper. Seine Kleidung ist auch schwarz. Der Krokus und die Schneeglöckchen blühen schon überall, die Erde ist nass und aufgewühlt. Macht sie sich Gedanken? So wie ich? Ich werde fast irr, er erzählt doch Lügen. "Woran ist sie gestorben?" ich hatte ungläubig ihn gefragt, in französisch; und wie mühelos das klappte, allerdings hatte ich ein verräterisch spanisches R in der Aussprache, Akzentverschiebung. "Magersucht!?" Seine fast schon lakonische Antwort quittierte ich mit mehr Unglauben. "Madita hat sich zu Tode gehungert, seit Jahren schon? Ich kann es nicht glauben?" Warum hatte ich das nicht gewusst? War ich so blind für ihre Sorgen und Probleme? Sie konnte doch immer zu mir kommen? Es gab nichts, wovor sie sich hätte schämen müssen! Nichts, weswegen ich sie nicht getragen hätte! Nichts! Stille. Ich wollte nicht ihm erzählen, was ich durch diese Offenbarung durchmachte; es war peinlich genug, daß er es augenscheinlich gewußt hatte, während ich ahnungslos um unsere Freundschaft getrauert hatte. Ihre Mutter lächelte tröstend zu mir herüber, auch geschwollene Augen. Und das, obwohl ich für sie der Erzengel war, der ihre Tochter verführt hatte. Milde sahen mich ihre Augen an. "Warum denn? Wieso hatte sie keine Therapie gemacht?" fast hysterisch klang meine Stimme und das rollende R wirkte wie ein ironischer Kommentar. "Plötzlich? War sie denn nicht bei Spezialisten? Nicht in einer Spezialklinik?", ich rang nach Worten, mir fehlte das Vokabular. "Zu spät für künstliche Ernährung? Das kann nicht sein. Sie war doch immer sehr schlank." Ich musste völlig blind sein, ich habe das nicht gesehen. "Seit ihrem 15. Lebensjahr?" Sie hat nicht gekämpft. Nicht um unsere Freundschaft und nicht um sich selbst. Warum war sie magersüchtig? Niemand gab darauf eine Antwort. Ich sah ihn an; er grinste dämlich aus seinen angeschwollenen Augen. Sollte er sie geliebt haben? Doch? "Und was hat ihr gefehlt?"; die Frage löste sich nur schwer von meinen Lippen. Ich wusste es auch nicht. Trauer und Hilflosigkeit mischten sich in mir zu einem endgültigen Grau. Keine Worte mehr. Keine Berührung und kein Sehen. Hatte sie dafür eine Sprache gesucht? Sie war immer gut gewachsen, nie dick, aber hätte ich es nicht sehen müssen. Nichts konnte ich ändern, und ich konnte nicht verstehen. Jede Veränderung wächst, selten erschlägt sie uns plötzlich von einem zum anderen Moment. Ich kann auch immer noch nicht verstehen, was damals geschehen war. Ich weiss nur, daß ich mein Versprechen nicht gehalten habe, ich war nicht da, als sie mich am meisten gebraucht hatte. Seit der Beerdigung gibt es ein Wort mit einer Bedeutungsvielfalt mehr in meinem Sprachschatz - Endgültigkeit.

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"Mit der Rose in der rechten Hand und der Distel in der linken schwöre ich dir, dass ich dich nehme, wie du bist, dass ich dich liebe, wie du bist und dass ich dir zur Seite stehe, wann immer du mich brauchst. Die Rose für dein Leben und die Distel für deinen Schatten, alles was ist, was war und was bleibt."
 

JoshHalick

Mitglied
Hallo ScarlettMirro,

leider hatte ich beim Lesen deines Textes einige Schwierigkeiten und kam nur sehr beschwerlich voran.
Jetzt habe ich in den ersten Seite, sehr viele Dinge bemerkt, die meines Erachtens verbesserungsfähig sind, dennoch habe ich ein gutes Gefühl. Hm, wie soll ich es erklären. Ich finde, dass du eine sehr große Wortvielfalt besitzt aber diese Worte scheinen in meinen Augen sozusagen falsch angeordnet.
Lediglich die erste Seite las ich mit aller Aufmerksamkeit, den Rest überflog ich und schaute hier und da mal rein. Das lag daran, dass du einfach zu viel erklärst.
Möglicherweise habe ich auch einfach keinen Sinn oder nicht genügend Geduld für so einen Text. Das ist dann mein Vergehen.

Deine Geschichte fängt mit den Beobachtungen an. In den ersten paar Sätzen ist das noch interessant und klingt viel versprechend aber nach und nach, wird, was du beschreibst immer wirrer und unüberschaubarer, so das ich letzten Endes überhaupt keine Vorstellung mehr davon hatte worüber du überhaupt schreibst. Ich weiß nicht ob es für dich möglich ist, diese ganzen… ich nenne es mal Philosophien zu kürzen oder mit ein bisschen Bewegung zu verknüpfen. Etwas Abwechslung wäre ganz schön. Vielleicht auch ein kleiner Fingerzeig, damit man weiß worum es in der Geschichte überhaupt geht. Ein wenig fehlt einem mit der Zeit die Motivation weiter zu lesen, es ist kein Anreiz da, nichts das einen lockt.

Aber wie gesagt, obwohl ich in meiner Kleinlichkeit sehr viel zu meckern habe, hatte ich ein gutes Gefühl beim Lesen der Worte, als steckte da viel mehr in dir als du hier gezeigt hast.
Viele deiner Sätze sind so abgehackt. Ich denke mal du schriebst das bewusst so, für mich klingt es dennoch falsch. Wer von uns beiden nun richtig liegt und wer nicht, weiß ich nicht. Mir bleibt nur die Möglichkeit die Dinge aus meiner Sicht zu beurteilen.

Hier meine Anmerkungen.


Eine Geste, ein Schwung. Ich kann hier sitzen in der Sonne und den Passanten zusehen, ohne das mir langweilig wird. Sie beobachten und beobachten. Blicke kreuzen sich und dann trennen sie sich, so als sei es ein Zufall, das sie einander begegnet waren. Jeder beobachtet jeden irgendwie.

Eine Geste, ein Schwung… das sagt für mich überhaupt nichts aus. Die Geste ist noch in Ordnung, aber der Schwung? Das könnte alles sein. Möglicherweise könnte man das etwas genauer definieren.
In den folgenden Sätzen ist es genau der Schwung, der mir fehlt. Sie klingen leblos, diese Sätze, mechanisch. Fast wie eine Gebrauchsanweisung. Ein wenig unklar, die Aussage das die Erzählerin dort sitzen kann ohne sich zu langweilen. Das könnte ich auch, vielleicht für eine halbe Stunde, der nächste könnte das auch, für 5 Minuten. Vielleicht könnte man auch hier etwas präzisier werden, z.B. könnte man schreiben: Ich kann stundenlang in der Sonne sitzen und die Passanten beobachten, ohne das es mich langweilt.
Dieses „Sie beobachten und beobachten“, gibt dem ganzen Text etwas Träges. Zumal es überflüssig ist da du bereits im Satz zuvor erklärtest das sie den Passanten zusieht.
Auch der Satz darauf ist ein wenig schwerfällig. Ich frage mich auch ob im „kreuzen“ nicht schon inbegriffen ist, das sie sich wieder trennen. Kreuzen bedeutet doch soviel wie, durch die Mitte und dann weiter geradeaus.
Das „irgendwie“ würde ich unbedingt streichen. Es vermittelt mir eine unangenehme Unsicherheiten, vonseiten des Autors und der Protagonistin.

Wir beobachten wohlwollend, kleinlich, zimperlich, ängstlich, neugierig, interessiert oder sogar gelangweilt. Ich beobachte so viel ich kann. Ich liebe es, den Menschen bei ihrem ewig Gleichen zuzusehen.

Ich bin nicht sicher ob „zimperlich & kleinlich beobachten“ so treffend ist und klingt.

….ob sie dann die Zunge erwartungsvoll der Speise entgegenstrecken oder ob sie nur den Mund aufmachen und den Genuß im geschlossenen Raum erkennen.

…den Genuss im geschlossenen Raum erkennen. Sehr seltsam und uneindeutig...


Ich schaue ihnen zu, wenn sie sich unauffällig oder unbewußt kratzen, vielleicht nur die Haare zur Seite schieben. Kleine Gesten, die wir von uns vielleicht nicht kennen, die suche ich, ein zitternder Finger oder einzuckendes Auge. Wir wissen, daß wir beobachtet werden, immer und überall. Manchmal wollen wir das, manchmal ist es uns unangenehm und oft auch peinlich.

Ich habe mir noch nie Gedanken darüber macht, ob man einem Menschen ansieht ob er sich bewusst oder unbewusst kratzt. Meinst du nicht das dass etwas viel ist, zu behaupten man wüsste das? Angesichts der Abermillionen individuellen Verhaltenweisen der Menschen wenn es irgendwo juckt? Es ist zwar eine Winzigkeit über die man sicher ein Buch schreiben könnte wenn man wollte… Wie dem auch sei, ich würde das noch mal genau durchdenken.
Einzuckendes Auge, hast du aus versehen zusammen geschrieben. Wie ein zuckendes Auge aussieht kann ich mir auch schlecht vorstellen. Ein zuckendes Lid … aber ein Auge? Klingt als ob das weh tut.
Unangenehm und peinlich ist doch ein und dasselbe, oder bin ich schon so verkalkt das ich mich da irre?

Fotografieren ist auch ein Beobachten, Beobachten auf Zeit eben, eine fixierte Beobachtung für andere. Und die Perspektive des Auslösers ist preisgegeben, für alle anderen Beobachter. Mit einer Fotographie hole ich ein Stück Vergangenheit in die Gegenwart und mache Veränderung sichtbar und vergleichbar.

Fotografieren ist Beobachten auf Zeit… hm, das empfinde ich nicht so. Die Perspektive des Auslösers. Im Grunde genommen ist der Auslöser der kleine Knopf auf den man drückt um ein Bild zu schießen, der Mensch dahinter drückt den Auslöser und löst somit wohl auch was aus aber allein zum besseren verstehen würde ich ihn Fotograf nennen.
Hole ein Stück Vergangenheit in die Gegenwart… das erschließt sich mir nicht. Richtiger müsste doch sein, ich nehme ein Stück Vergangenheit mit in die Gegenwart. Holen, klingt so nach Zeitmaschine. Verstehst du, was ich meine?

Ab der Pubertät lernen wir, daß es unschicklich ist, wenn wir Freude daran haben, uns zu präsentieren. Wir dürfen keinen voyeuristischen und auch keinen narzisstischen Spass an unseren oder fremden Fotografien haben, Fotos werden entweder aus beruflichen Gründen oder aus sozialen Anlässen geschossen, aber nicht zum Vergnügen am Beobachten und am Beobachtet?Werden. Und doch suchen wir heimlich uns auf dem Papier, suchen das Bild, welches wir von uns geben, weil wir den Verlust der Außenperspektive immer und überall spüren.

Was du hier schreibst ist wirklich sehr seltsam. Das verstehe ich nicht. Nein ich kann dir nicht folgen. Mir wurde ab der Pubertät nicht beigebracht Fotografien sein etwas Schlechtes. Fotos aus beruflichen Gründen oder aus sozialen Anlässen.
Ich vermutet diesen Absatz solltest du wirklich noch einmal genau studieren. Meines Erachtens nach werden die meisten Fotos aus Vergnügen und zum Vergnügen geschossen.
Wenn ich mir ansehe was dort oben steht, könnte ich mir höchstens vorstellen das es hier um anrüchige Bilder geht oder so etwas aber das geht wiederum auch nicht hervor. Also wovon sprichst du hier und was hat das zu bedeuten? Ich bin absolut ratlos. Das verwirrt mich alles…


Die Lust an den Fotographien verlernt sich wie von selbst. Aber das Beobachten ist mir nicht vergangen, selbst, wenn ich im Fahrstuhl züchtig den Blick wie alle anderen senke, mir schnell eine Ecke suche, die ich dann eingehend studiere. Doch auch in der Nische kann ich beobachten. "Zeigt her Eure Füße, zeigt her Eure Schuh." Und die Hosenbeine sind so verschieden wie die Menschen, ein Fleck hier und eine Bügelfalte dort. In die Details versinken bis die Tür den Anlaß zum Weggehen und Wegsehen gibt.

Den Blick züchtig im Fahrstuhl senken… kommt mir wirklich bald vor als liefen in dieser Geschichte nur Nackte rum ;o)
Eine Ecke eingehend studieren… hm…
Dann diese Tür die Anlass zum Weggehen gibt. Das beschwört leider eine unfreiwillige Komik herauf. Eine Tür die einen veranlasst zu gehen. Möglicherweise könnte man gerade noch schreiben: bis die sich öffnende Tür mir erlaubt zu gehen …

In den folgenden Zeilen wird der Text für mich noch etwas unverständlicher. Zum Beispiel verstehe ich nicht wie Beobachtungen „ihre“ (wer auch immer ihre ist) Geschichten vorantreiben.

Ich springe mal zu den einzelnen Holpersteinen die ich noch an späteren Stellen in dem Text markierte.


Das konnte ich mit ihr auch gut. Fröhliches Leben leben. Vielleicht dabei einen Tee trinken, oder auch nicht. Manchmal haben wir nur so gesessen und Heringssalat zum Frühstück gegessen. Aber lustig war es mit ihr. Meine beste Freundin. Frauen haben immer eine beste Freundin, selten keine oder zwei.

Fröhliches Leben leben. Das ist Doppelgemoppelt. Klar lebt man ein Leben. Seltsam ist es, das du schreibst. Man lebt ein fröhliches leben und trinkt dabei einen Tee. Wie mag man sich das vorstellen?
Manchmal haben wir nur so gesessen…. Im Gefängnis? Ich weiß, das meinst du nicht, aber so klingt es. Und nur so gesessen trifft es eigentlich auch nicht, da sie ja frühstückten.
Und dann folgt: Aber lustig war es mit ihr… Warum aber? Setzt der Hering voraus, dass das Frühstück nicht lustig war?
Meine beste Freundin… müsste es nicht heißen: Aber lustig war es mit ihr, meiner besten Freundin…. ?



Nein, das sollte ich lieber nicht liegen lassen, er erschlägt mich, wenn ich das Handy schon wieder vergesse. Muss ja auch nicht alles wissen. Ich faule Tüte. Eigentlich ist es ja egal, ob er weiss, dass ich hier gesessen habe oder nicht!


Wenn ihr bewusst ist, dass dort das Handy liegt, kann sie es doch gar nicht mehr vergessen, sondern lediglich noch mutwillig zurücklassen.


Das war es soweit erstmal.
Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht bis zum Ende dranbleiben konnte aber es war einfach zu schwer lesbar für meinen Geschmack. Man kann an den Gedankengängen der Frau auch so schlecht teilhaben da sie soweit ich es überblickte kaum nachvollziehbar waren. Ich denke es wäre hilfreich wenn man dem Leser den Weg der zu diesen Ansichten führte nicht ganz verschweigt, damit er mitziehen kann. Ich hatte bei dir nun oft das Gefühl du setzt mich an irgendeinem fremden Bahnhof aus in der Erwartung ich könne mir schon denken aus welcher Richtung ich hätte kommen können.
Meine persönliche Meinung ist, dass du dir, was hier steht als Vorlage nehmen solltest um den Text noch einmal komplett neu zu schreiben. So tu ich es auch oft. Nachdem ich etwas schrieb, schaue ich mir noch mal genau an, wo die Prioritäten in der Geschichte liegen und worauf ich überhaupt hinaus will. Danach fällt es dann leicht eine Struktur hineinzubringen. Man schaut einfach welche Gedanken dazu beitragen, die Geschichte voranzutreiben, zu erklären und letzten Endes auf den Punkt zu bringen. Ein wenig mehr Dichte, könnte, denke ich, diesem Text auf keinen Fall schaden. Ich mag mich irren, ich weiß nicht.

Beste Grüße
Josh
 
Ja, danke erstmal für die ausführliche Kritik zu dem ersten Teil des Textes!

Hallo Josh!

Mir ist schon ziemlich schnell klar, was du meinst. Es fehlt an Aktion! Wenn es mir darum gegangen wäre, dann hätte ich sicher den Text kürzer fassen können ... Um es ganz kurz zu machen, dieser Text ist ein Teil einer NOvelle, der als Homage an R. Musils "Drei Frauen" gedacht ist u ist tatsächlich dem Stil einer seiner Geschichten nachempfunden! Also ganz klassisch nachgearbeitet mit ner ganz anderen Intention allerdings!
Zweitens meine ich, dass der Inhalt mit der Form hier durchaus zusammengeht ..., ich finde es jedoch total legitim, wenn man manche Formen der Literatur nicht mag, sie einem zu träge oder fade oder zu langweilig sind!

Viele deiner Anmerkungen kann ich sogar nachvollziehen, aber dennoch gibt es kaum etwas... was ich ändern würde: bspl. Fotographieren... ich habe ne andere Vorstellung von der Zeit! Habe mich im Rahmen meines Studiums vor allem immer wieder mit der Zeit auseinandergesetzt!
Dann sind das alles die Gedanken meiner Figur, insofern müssen sie nicht logisch einwandfrei sein, sondern können auch den Charakter des assoziativen tragen ... seh ich so... u die Gedanken drehen sich dann vielleicht auch im Kreis, haben keine genaue Aussage oder ähnliches... U ganz deutlich gesagt, es gibt hier überhaupt keinen anderen Erzähler als die Stimme der Ich-Erzählerin!
Hier liegen die Feinheiten - bilde ich mir ein - im Detail! ABER: das ist ganz klar auch einfach GESCHMACKSACHE! ... (habe dazu auch schon verschiedenste Meinungen gehört nach zwei Lesungen)

Trotzdem danke, dass du dir soviel Mühe gemacht und gegeben hast, ich werde mir deine Anmerkungen alle noch mal durchlesen u gucken, was ich für mich herausziehen kann ... wie gesagt, vieles davon versteh ich nur zu gut!

liebe Grüsse
Scarlett
 



 
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