Eine Reise, zwei Rentner und unendliche Weiten

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Rainer Lieser

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Eine Reise, zwei Rentner und unendliche Weiten

Fast genau vor 36 Jahren hatten Ingeborg und Radebrecht Rippendocht zuletzt das kleine Reisebüro in der Burgstraße betreten. Sie wollten damals ihre Hochzeitsreise buchen. Doch eine Reise wie die beiden sie sich vorgestellt hatten, konnte man ihnen dort nicht anbieten. Auch nirgendwo sonst. Da heirateten sie ohne Hochzeitsreise.
Später fragten sie sich oft, ob all die vielen unglücklichen Kompromisse welche sie in ihrem weiteren Leben hatten eingehen müssen, womöglich als Strafen für die ausgefallene Reise anzusehen waren. Vielleicht war der Herr im Himmel ja der Ansicht eine Hochzeitsreise sei mit das wichtigste an einer Ehe, hatte Radebrecht einmal als Vermutung geäussert, und weil sie diese hatten ausfallen lassen, sei der Herr zornig auf sie – wodurch sich dann auch das außergewöhnlich arbeits- und entbehrungsreiche Leben erklären würde, das er und Ingeborg führten.

Seit vier Tagen nun waren die Rippendochts offiziell Rentner und hatten zum ersten Mal etwas mehr Zeit als bisher, um sich Gedanken über ihr weiteres Leben zu machen. Sie beschlossen sich mit ihrem Schöpfer zu versöhnen, in der Hoffnung dadurch den Rest ihrer Tage unter angenehmeren Lebensumständen verbringen zu können. Deshalb wollten sie baldmöglichst ihre Hochzeitsreise in der ursprünglich geplanten Form nachholen. Heutzutage konnte das ja nicht mehr so problematisch sein. Dessen war sich Radebrecht ziemlich sicher.

Im Reisebüro stellte sich den Rippendochts Frau Hasselblatt als Ansprechpartnerin vor. Eine nette junge Dame der Ingeborg und Radebrecht sogleich vertrauensvoll erzählten, dass sie gerne eine Reise in einem Raumschiff zu den Sternen buchen möchten, woraufhin das Gesicht von Frau Hasselblatt von einer Sekunde zur Nächsten versteinerte. Doch schon einen Augenblick später hatte sich die überaus professionell ausgebildete Reisebüroangestellte wieder halbwegs gefasst. »Sie möchten also zu den Sternen fliegen so wie in "Star Trek"?« fragte sie mit dem Blick auf Radebrecht gerichtet.
»Genau so!« antwortete dieser.
Frau Hasselblatt drehte ihren Kopf zu Ingeborg Rippendocht. »Wir sind jetzt nämlich Rentner und wollen unserem Leben nochmal einen positiven Schubs geben.« bestätigte die ältere Dame.
»Einen positiven Schubs« wiederholte die Reisebüroangestellte.
Radebrecht setzte an, um der jungen Dame den Reisewunsch noch etwas genauer zu erklären »Ja, in "Star Trek" gab es doch immer diese positive Grundstimmung, die es hier auf der Erde doch kaum noch gibt – und da dachten wir uns ...«
»Ich verstehe schon« unterbrach ihn Frau Hasselblatt und tippte einige Buchstaben in den Computer.
Radebrecht Rippendocht sah voller Zuversicht zu seiner Frau.
Kurz darauf unterbreitete die Reisebüroangestellte dem älteren Paar mit nahezu überzeugend gespielter Selbstverständlichkeit mehrere Angebote.
Enttäuscht mussten die Ripendochts sich selbst und Frau Hasselblatt jedoch eingestehen, dass sie kein einziges davon würden bezahlen können.
Zum zweiten Mal nach 36 Jahren verliessen sie das kleine Reisebüro in der Burgstrasse ohne ein befriedigendes Ergebnis. Auch nirgendwo sonst erhielten sie ein finanziell akzeptables Angebot. Ein alternatives Reiseziel kam für die beiden nicht in Frage. Man besänftigte den Schöpfer nicht mit faulen Kompromissen. Damit gaben sich allein Menschen zufrieden.
Um sich über die jähe Enttäuschung ein wenig hinweg zu trösten, entschieden die Ripendochts sich für eine Fahrt in einem Tretboot. Das hatten sie vor 36 Jahren ebenso gemacht. Seither nicht wieder. Doch jetzt war eine Entscheidung eh so gut wie jede andere.

»10 Euro die Stunde. Einen Rabat für Rentner gibt es hier nicht.« Sagte der Bootsverleiher und musterte das ältere Paar dabei derart scharf, dass es die beiden als unangenehm empfanden. »Wenn sie nicht spätestens nach einer Stunde zurück sind, wird das Konsequenzen haben.« Fügte er in strengem Ton hinzu, als er sah wie Ingeborg in der Handtasche kramte. Unfreundlichkeit hin oder her – diese Kosten waren akzeptabel. Ingeborg bezahlte und stach zusammen mit ihrem Mann in See.

»Was meinst du wohl wie der unaustehliche Kerl darauf reagieren wird, wenn er feststellt dass wir nach einer Stunde nicht zurück sind, vielleicht noch nicht einmal nach einem Tag?« fragte Radebrecht seine Frau.
»Du führst doch da wohl nicht etwas im Schilde, mein Herzblatt?«
»Ich meine, bisher haben wir immer streng nach den Vorschriften gelebt – und was hat es uns gebracht? Warum kann eine Frau Hasselblatt uns nicht für zwei ordentlich geführte Leben zwei bezahlbare Tickets ins Weltall anbieten? Und warum haben wir keinen Rentnerrabat für diese Tretbootfahrt bekommen? Warum läuft bei uns immer alles schief? Haben wir den lieben Herrgott mit der ausgefallenen Hochzeitsreise wirklich so verärgert, dass er uns dafür den Rest des Lebens bestraft?«
Manchmal gab es im Kopf ihres Mannes nur wenig Freiraum für einen vernünftigen Gedanken, wusste Ingeborg. Gerade eben war es wohl wieder Mal soweit. Am besten liess man dann seine wahllos aneinandergereihten wortreichen Fantastereien Teilnahmslos über sich ergehen, um ihn am Ende der Ausführungen, wenn er meist völlig den Faden verloren hatte, mit ein paar gezielten Argumenten wieder hurtig in die Wirklichkeit zurück zu holen. So wollte sie es auch diesmal handhaben, aber heute verhielt sich Radebrecht anders als gewohnt. Er schweifte nicht unendlich aus, sondern gelangte umgehend zu einer verblüffend überzeugenden Schlussfolgerung. »Wenn man uns nicht gibt was uns zusteht, sollten wir es uns nehmen. Schön, ein Raumschiff können wir uns nicht einfach nehmen, dieses Tretboot aber schon. Wir könnten damit weit wegfahren. Sehr weit weg.«
Ingeborg war völlig überrascht. »Äh ...« fing sie unschlüssig an »Wir würden damit aber eine Straftat begehen. Die erste in unserem Leben. Womöglich hetzt uns der Bootsverleiher dafür die Wasserschutzpolizei oder was weiß ich wen auf den Hals und wir enden wie Bonnie & Clyde. Außerdem wäre es eine Sünde. Damit hätten wir beim Herrn im Himmel dann wohl vollends verspielt.«
Radebrecht Rippendocht fuhr sich nachdenklich mit der Hand über das Kinn. »Ich meine wir sollten es dieses eine Mal darauf ankommen lassen. Vielleicht ist das die letzte Chance in unserem Leben über die Grenzen dieser Stadt hinaus zu kommen. Bisher hat uns der liebe Herrgott immer die Zunge rausgestreckt, dann strecken wir sie ihm jetzt ebenfalls raus.«
Dem wusste Ingeborg auf Anhieb nichts entgegen zu setzen. Sie war zu verwundert über die ungewohnt nachvollziehbaren Gedankenketten ihres Mannes. Aber irgend etwas musste sie erwidern, bevor Radebrecht sie beide vollends um Kopf und Kragen brachte.
»Wir könnten dem Bootsverleiher doch wenigstens eine SMS schicken.« Bravo altes Mädchen, etwas dümmeres hättest du nun wirklich nicht sagen können, dachte sich Ingeborg.
»Du glaubst wenn wir ihm eine SMS schicken, lässt er uns einfach so ziehen? Haben wir überhaupt ein Handy?«
Das Tretboot hielt an. Radebrecht und Ingeborg sahen sich stumm in die Augen. Sie lächelte ihn zaghaft unbeholfen an, fühlte sich so unwohl wie lange nicht mehr in ihrer Haut.
»Selbstverständlich besitzen wir ein Handy. Allerdings habe ich vergessen es mitzunehmen.«
»Dann können wir das mit der SMS wohl vergessen oder erwartest du, dass wir wegen eines vergessenen Handys umkehren?
»Irgendwie fände ich es schon besser umzukehren. Mir ist nicht wohl bei dieser Reise ins Ungewisse.«
»Aber bei der Reise ins Weltall wärest du mit dabei gewesen. Klingt das in deinen Ohren nicht auch ein klitzekleines Bisschen widersprüchlich?«
»Bei der Reise ins Weltall wusste ich ja im voraus, dass daraus nichts werden würde. Deshalb hatte ich davor keine Angst.« Oje – zu spät bemerkte Ingeborg was sie da eben gesagt hatte. Das würde Ärger geben.
»Und wie um Himmels willen konntest du das im voraus wissen?« Fragte ihr Mann mit lauter Stimme.
»Sowohl vor 36 Jahren, wie auch heute, habe ich alle Reisebüros bereits im Vorfeld aufgesucht und mich dessen vergewissert. Wäre die Antwort anders ausgefallen, hätte ich die Angestellten gebeten zu lügen damit die Reise nicht zustande kommt.« Seit Anbeginn ihrer Ehe hatte sie dieses Geheimnis wie ihren Augapfel gehütet. Jetzt war ihr in einem Moment der Unachtsamkeit die Wahrheit rausgerutscht. Ohrfeigen hätte sie sich für diese Dummheit können.
»Du hast was?« Radebrecht glaubte nicht was er gerade gehört hatte.
»Böse?« Fragte Ingeborg leise.
»Sehr Böse.« Grunzte es ihr entgegen.
»Aber ich habe es doch nur gut gemeint, hielt es für vernünftiger ein wenig zu mogeln als uns beide in unnötige Gefahr zu bringen.«
»Du hattest Angst davor mir zu folgen. Hast mir nicht vertraut. Ich möchte nicht wissen, wie oft das in all den Jahren noch der Fall war. Fast fürchte ich, deine so genannte Vernunft hat uns dorthin geführt wo wir heute sind – und nicht der Zorn des lieben Herrgotts. Was habe ich dem armen Kerl unrecht getan.«
»Und nun?«
»Findest du nicht, dass du lange genug die Hüterin der Vernunft in unserer Ehe warst? Ist es nicht an der Zeit dem kleinen alten Jungen ein wenig Mitbestimmungsrecht einzuräumen?«
»Und was möchte der kleine alte Junge?« lenkte Ingeborg ein, in der Hoffnung Radebrecht möge ihr die Unaufrichtigkeit verzeihen.
»Er möchte irgendwo da raus auf das offene Meer. Zu irgendeinem fernen Eiland. Vorher möchte er aber noch die nächste Stadt anlaufen um ein paar Vorräte und eine aufblasbare Rettungsinsel zu kaufen.«
»Aye Captain. Mit Warp fünf auf zur nächsten Stadt.« Entfuhr es Ingeborg freudestrahlend. Sie trat räftig in die Pedale.
Radebrecht kniff seiner Frau liebevoll in die Wange. Vielleicht erfüllte sich ja ihrer beider Hoffnung auf wundersame Weise nun doch noch – und dies war wirklich der Beginn eines besseren Lebens.
 



 
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