Eine ganz normale Nacht

Rebecca

Mitglied
Sie saß auf der Feuerleiter, die von ihrem Apartment hinunterführte. Von dort hatte sie einen hervorragenden Blick auf die Straße. Sie sah die Menschen in den Autos an ihr vorbeifahren, sah Kinder in Mülltonnen nach Essensresten suchen und sah die Leute auf der Straße, die ihrem Schicksal zu entkommen versuchten. Dies war kein gutes Viertel. Hier herrschte Obdachlosigkeit, Armut und Hoffnungslosigkeit. Jugendbanden machten die Straßen unsicher. Es gab viele Tote im Laufe der Jahre. Aber das kümmerte sie nicht. Das Sterben begleitete sie schon seit langem. Ein Schuss fiel. Ein Kreischen war zu hören. Eine Mutter, die neben ihrem erschossenen Sohn kniete, war am anderen Ende der Straße zu sehen. Mitten ins Herz. Das konnte sie sehen. Mal wieder. Hierher kam nur selten ein Krankenwagen oder Polizei. Das Viertel existierte praktisch nicht. Niemand von der sogenannten besseren Gesellschaft traute sich noch hierher. Es war eine Art Niemandsland. Und das war auch gut so. Hier konnte sie ungestört leben. Hier fielen ihre nächtlichen Aktivitäten nicht weiter auf, und Tote gab es in diesem Viertel zur Genüge. Es kümmerte die meisten Menschen nicht. Es war perfekt für jemanden, der unerkannt und unbehelligt bleiben wollte. Sie war nur die seltsame Nachbarin aus dem dritten Stock, die tagsüber schlief und nachts aus dem Haus ging. Niemand wusste wohin, und es interessierte auch niemanden. Schließlich hatten die Menschen hier, mehr mit sich selbst zu tun. Hier ging es ums Überleben. Auch für sie. Sie kannte dieses Viertel schon seit gut dreißig Jahren. Es hatte sich nicht viel geändert. Unten an der Treppe tat sich etwas. Eine Gestalt huschte vorbei. Sie konnte spüren, dass es ein Mensch war. Es stank nach Alkohol. Dann sah sie eine alte Frau, die sammelte Müll ein. Die Frau trug ein altes zerrissenes Sommerkleid mit einem alten Mantel darüber. Ihr graues Haar war völlig verfilzt. Von oben konnte sie die Frau gut sehen. Menschen wurden älter, das war nun einmal so. Aber das galt nicht für sie. Menschen starben irgendwann, doch nicht sie. Der Tod war ihr Begleiter seit langer Zeit. Er war stets an ihrer Seite, ohne seine Finger nach ihr auszustrecken. Das konnte er nicht mehr. Die Zeit saß nicht mehr wie ein hungriges Raubtier in ihrem Nacken. Dies alles war vorbei. Alt wurden nur noch die Menschen dort unten auf der Straße. Sterben würden nur noch die anderen in ihrer Umgebung. Sie stand nun über diesen Dinge, war in der Nahrungskette ganz oben angelangt. Das Raubtier unten den Raubtieren. Doch auch sie wurde mit der Zeit müde. Ihr Körper war zwar äußerlich noch jung, aber ihr Inneres alterte. Die Nächte waren immer gleich. Sie ging hinaus auf die Leiter und beobachtete die Menschen. Irgendwann wurde der Hunger so groß, dass sie jagen gehen musste. Die alte Frau unter ihr hustete. Plötzlich wurde der Husten schlimmer. Die Frau rangt nach Luft und warf einige Müllcontainer um. Es wurde immer schlimmer und schließlich hustete die Frau nicht mehr. Jetzt lag nur noch ein toter, lebloser Körper am Ende der Treppe von Abfall bedeckt. Die alte Frau war gestorben, ohne dass es jemand auf der Straße es bemerkt hatte. Nur sie saß immer noch auf der Leiter und sah hinunter. Wieder eine arme Seele auf den Weg ins Nichts. Sie wusste, wie das Sterben war. Kalt und ohne Hoffnung. Es gab keinen Himmel, keine Hölle. Es gab nur Leere. Sie hatte es gesehen, sie war schon einmal dort gewesen. Und diese Erfahrung trug sie mit sich. Doch Angst hatte sie nun keine mehr. Denn sie war bereits tot. Eine Tote unter Lebenden in einer Welt vom Tod bestimmt. Sie kannte sein Gesicht. Er war ihr im Laufe der Zeit schon tausend Mal begegnet. Sie wusste, was er war. Sie hatte ihn auf vielen Schlachtfeldern der Welt gesehen. Die Kriegsführung war moderner geworden, die Folgen nicht. Man starb jetzt nur noch schneller und moderner. Und auch die Gründe hatten sich nicht verändert, sie trugen nur andere Namen. Man versuchte sie weniger grausam zu gestalten, aber sie brauchten genauso den Tod wie vor Hunderten von Jahren. Sie kannte die Grausamkeiten der Menschen. Und dabei nannte man sie grausam.
Die Zeiten hatten sich nur oberflächlich verändert.
Sie würde den Schlachtfeldern wie früher folgen, sie würde dem Tod wieder und wieder begegnen, wie in dieser Nacht. Die alte Frau würde dort unten verfaulen, bis nichts weiter als ein paar Knochen übrig blieben. Alles ist vergänglich, selbst die Unendlichkeit. Irgendwann würde auch sie gehen müssen, um anderen Platz zu machen. Unsterblichkeit bedeutet nicht ewig zu leben. Sie wusste das. Die Zeit würde eines Nachts oder im tödlichen Schein der Sonne ihren Preis fordern. Dann würde sie sich in Staub auflösen wie die alte Frau dort. Zumindest hatte sie Jahrhunderte kommen und gehen sehen dürfen. Sie hatte die Welt so kennengelernt, wie sie wirklich war. Doch in dieser Nacht war es wieder der Hunger, der sie daran erinnerte, was sie tun musste. Sie sprang hinunter und landete vor der toten Frau am Boden. Sie sah zu ihr runter und lächelte. Dann schwang sie sich in die Lüfte und suchte sich ihr Opfer wie jede Nacht.
 



 
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