Eine ganz normale Stadt

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Werter Freund!

Vier Jahre sind ins Land gegangen, seit uns die allseits bekannte Geschichte trennte. Sehnsucht an alte Freunde und Zeiten trieben mich dazu, deine Adresse ausfindig zu machen, und dir sofort diesen Brief zukommen zu lassen. Bin in 2 Tagen da.

Vaccin


Als Schendel aus dem Bahnhof auf die Straße tritt, findet er keine Menschenseele vor, sogar im Zug ist er allein gewesen. Feuer für seine Zigarette hat er gebraucht, da ist er durch den Zug gelaufen. Kein Mensch war da. Aber ein Hut, ein Mantel und eine Aktentasche. Er nahm an, den Besitzer auf der Toilette zu finden, die auch tatsächlich verschlossen war. An die Tür hat er gehämmert, gebrüllt, es wäre eine Kontrolle, aber die Tür blieb verschlossen.
Nun treffen seine Blicke auf das gepflegte Bauwerk des Hotels. Wut überkommt ihn bei dem Gedanken an seinen Koffer, der im Zug geblieben ist. Er hätte nicht erst rausspringen dürfen, um dann den Koffer nachzuholen. Sie haben nicht einmal gehalten. Nur die Fahrt gedrosselt, falls jemand abspringen wollte. Sein Fuß bleibt an einer Treppenstufe hängen. Platschend fällt er auf die restlichen Stufen, rollt von da zwei Meter durch den Straßenstaub. Der Staub kitzelt ihn in der Nase. Niesend erhebt er sich, klopft seinen Mantel ohne Erfolg ab.
Eine kleine Herde Menschen läuft auf allen Vieren über Schendel hinweg, jemand blökt, aber er wendet sich resignierend um. Der Himmel ist grau wie die Häuser und Schendels vorhin noch schwarzer Mantel. Müde, verärgert schleppt er sich ins Hotel hinein. Die Halle ist leer.
Hinter dem frisch geputzten Tresen wirbelt eine Staubwolke. Schendel sucht einen Klingelknopf, findet ihn nicht. Gereizt schlägt er mit der flachen Hand auf das Holz, ruft mit nicht zu lauter Stimme nach einem Portier. In den hinteren Räumen rührt sich nichts. Noch zweimal schlägt er auf den Tresen, bis ein nicht mehr junger Mann hinter einem Vorhang zum Vorschein kommt.
"Sie wünschen?"
"Ein Zimmer."
Der Portier beugt sich über den Tresen: "Sie haben kein Gepäck dabei?"
"Nein."
Der Portier nennt den Zimmerpreis, im voraus zu bezahlen. Der Gast sucht vergeblich nach seiner Brieftasche.
"Mach daß du rauskommst, Drecksau." Das Gästebuch fliegt an seinen Kopf. Den Arm zur Deckung hochgerissen, ergreift Schendel die Flucht, rennt, die Tür hinter ihm zukrachend, auf die Straße, rennt gegen etwas Weiches, Warmes. Der Mann stürzt, fällt gegen einen der viereckigen, steinernen Blumentöpfe, die hier zur Zierde stehen, wie jemand gemeint haben muß. Der Schädel des Umgerannten bleibt auf einer der vier Kanten liegen, so als hätte man ihn daran aufgehängt. Seine Augen sind blau, seine Lippen rot und sein Haar ist braun. Seine Augen starren ihn an, seine Lippen lallen und durch seine Haare läuft Blut.
Schendel ergreift entsetzt diesen Kopf, hebt ihn von der Kante des klobigen Blumentopfes, läßt ihn wieder zurücksinken. Er sieht sich um. Die Straße auf und ab, sieht an die Fenster, aber keines Menschen Auge verfolgt die Szene. Außerdem wird es gleich regnen.
Wieder nimmmt er den Kopf des Mannes auf, läßt ihn zurückfallen auf die Kante, noch einmal greift er danach, schlägt seinen Kopf ein-, zweimal auf, solange bis er endlich aufhört, ihn anzustarren. Schendels Hände werden wieder ruhiger. Er wischt das Blut an der Jacke des wesenlosen Geschöpfes vor ihm ab. Noch einmal sieht er die Straße entlang, doch kein Zeuge will sich zeigen.

"Unfall!"
"Unfall?"
"Ja, Unfall!"
"Wie kommt das Blut auf seine Jacke?"
"Er selbst war es. Das gibt es öfters."
"Wieso hat er dann kein Blut an den Händen?"
"Er hat es ja abgewischt."
"Ja, natürlich. Nehmen Sie ihn mit." Angewidert hebt er mit einem Kollegen den Leichnam in den Wagen. Die Tür klappt zu. "Ich kann leider nicht auf das abschließende Ergebnis warten, wissen Sie. Ich muß nämlich weiter. Mein Bruder hat heute Geburtstag und da darf ich nicht zu spät kommen."
"Viel Vergnügen, Herr Inspektor."
"Danke schön."
Zappelnd wendet er sich zum Gehen um, macht ein paar Schritte, sieht sich noch einmal um, trippelt ein paar Schritte rückwärts, sagt einige Grußworte, bevor er mit dem Rücken den Laternenpfahl rammt, sich dann endgültig umwendet und wegläuft.

Endlich im Leichenschauhaus beginnt ihre Arbeit. Es ist das erste Mal, daß sie froh ist, hier allein zu arbeiten. Sie will fliehen aus Eutin, wo kleine Staubklumpen durch die Straßen wehen, wo die Züge ihre Fahrt nur verlangsamen, ohne zu halten, wo seit langem schon niemand mehr gestorben und noch weniger geboren worden sind. Seit Jahren hat sie nur noch am Schreibtisch gesessen und die Spinne in einem der Winkel des Raumes beobachtet. Gestern ist sie gestorben. Sie lag in ihrem Netz, in dem nicht eine Fliege, nicht einmal eine Mücke war, obwohl sie jede Nacht die Lampe brennen und das Fenster offen stehen ließ. Sie muß verhungert sein. So lange hat sie gewartet. Trotzdem ist sie verhungert. Sie wird jetzt seinen Kopf amputieren. Sie wird ihn auf indianische Weise präparieren. Ganz wie es in einem ihrer vielen Bücher steht. Da steht auch, viele Leute würden viel geben für so einen präparierten Kopf. Damit würde sie fliehen aus diesen Straßen, in denen nur Staubbällchen, nicht einmal Blätter entlanggeweht wurden. Das Blut muß aus seinen Haaren gewaschen werden, bevor sie beginnen kann. Sie will sein Genick nicht zersägen. Sie hat Angst davor, seinen Körper zu berühren. Mit dem Tranchiermesser oder der Axt wäre es nur ein Schlag.

"Ein schöner Kopf, wirklich. Ich danke ihnen, daß sie an mich gedacht haben." Er nimmt ihn in die Hände, wendet und dreht ihn unter der Lampe.
"Sie haben sicherlich mein Buch gelesen, nicht wahr? Ja, natürlich haben sie, wie hätten sie denn sonst meine Adresse haben sollen.", kichert der dunkel gekleidete Mann, während seine zitternden Hände den Kopf in weiches Papier einwickeln, um ihn dann behutsam in einen Karton zu legen. Er wirft ihr einen Umschlag auf den Schreibtisch, stiert sie mit Froschaugen hinter Brillengläsern an, macht ihr ein ungeschicktes Kompliment, welches sie überhört. Sie öffnet den Umschlag, der voll zugeschnittenem Zeitungspapier ist, auf jedem Schein ein Betrag eingetragen. Zusammen wären Sie das Zehnfache von dem vereinbarten Betrag für den Kopf.

Hinter Baccer knarrt der Schlüssel im Schloß und über die Schwelle tritt, wie er glaubhaft versichert, das Traumpaar des Jahres. Baccer und Vaccin laufen sich schreiend in die Arme. Lachend und johlend tanzen sie, Wange an Wange, als Paar in das Wohnzimmer hinein. Hätte man sie auf offener Straße in dieser Stadt gesehen, wären sie angezeigt worden, hier aber ist nur eine verständnislose Haushälterin, die, obwohl sie durchaus mit menschlichen Qualitäten versehen und hübsch zu nennen ist, nur ein einziges Mal einen Mann für ihre Person zu interessieren vermochte. Er ist ihre große Liebe gewesen, der, der sich heute Vaccin nennen läßt, ausgerechnet heute ist er wieder da, nachdem er ihr damals emotionslos Rache schwor, als sie sagte, sie liebe ihn nicht mehr. Sie sagte es zu ihrer Mutter, die sie fragte, nicht zu ihm, der vielleicht etwas Rationaleres erwartet hatte, da sie nie ein Zeichen in dieser Richtung hatte deutlich werden lassen, so daß es für ihn überraschend kommen mußte. Damals, als sie ihm sagte, sie liebe ihn nicht mehr, erwiderte er leidenschaftslos, er würde Rache nehmen. Und ausgerechnet heute ist er wieder da, nachdem sie endlich sich wieder hat verlieben können, in diesen Mann mit Namen Baccer.
Der Himmel ist grau. Niemand kann sich mehr erinnern, ihn jemals anders gesehen zu haben oder wer hier die Häuser gebaut hat, keiner der Anwesenden, dem die Namen etwas bedeutet hätten, sind ja schließlich schon lange tot oder so etwas. Sechs Fuß soll ein Loch tief sein. Dieses ist keine drei Fuß tief. Niemanden kümmert es. Die Witwe steht weinend am Kopfende des Grabes, dem Himmel dankend, wenigstens bei der Leichenhalle eine so freundliche Ärztin vorgefunden zu haben. Schade nur, daß sie schon den Sarg verschlossen hatte, einen letzten Kuß wollte sie ihm auf die erkalteten Lippen drücken, sein dünnes Haar noch einmal streicheln. Doch sie war um Minuten zu spät gekommen. Die betrunkenen Trauergäste umringen sie. Sie hat sie direkt aus der Kneipe mitgenommen. Der einzige Platz, wo man hier noch auf Menschen treffen kann. Und auch nur selten.
Aber heute waren welche da. Sie feierten irgendeinen "Arschtritt in den Himmel", sie begriff nicht, was damit gemeint war und es war ihr auch egal. Sargträger brauchte sie und sie wollte nicht so allein sein auf dem Begräbnis des Mannes, den sie so umschwärmt hätte, der vielleicht sogar ihr Mann hätte sein können, wenn er sie nur beachtet hätte.
Ein Träger rutschte aus, die anderen traten ihn johlend noch tiefer in den Dreck, um ihn gleich mitzubeerdigen, wie sie sagten, aber ihm gelang die Flucht. Wie rauh, wie pietätlos Männerhumor doch sein konnte. Danach hatten sie den Sarg auch noch in den morastigen Dreck sinken lassen, weil sie sich ausruhen mußten, sagten sie, setzten sich auf den Sarg und rauchten.
Jetzt lag er schon in der Grube. Nicht ganz richtig zwar, doch er lag. Taue waren keine vorhanden, da hatten sie ihn einfach reinfallen lassen. Der kirchliche Würdenträger ist nicht da. Er bleibt unauffindbar. Sie will nichts sagen, fragt aber die Umstehenden, ob von ihnen nicht jemand ein gutes Wort wüßte. Einer der Totengräber nimmt sein Organ aus der Hose, pinkelt ins offene Loch. Glückwünsche gellen durch die Luft. Alle pinkeln in die Grube.
Die Trauernde schlägt die Hände vor das Gesicht, bittet, man möge die Grube verschließen. Es regnet. Man erwidert ihr, sie würden für den Regen nicht extra bezahlt. Und sie steht allein.

"Ich könnte die vereinbarte Summe verzehnfachen. Aber Köpfe brauche ich nun einmal nicht mehr." Er lächelt. Einfach so verzehnfachen. Als wär`s nichts. Sie beneidet den Mann, der für eine Leidenschaft soviel ausgeben konnte. Sie beneidet ihn um all die glücklichen Jahre, die er bestimmt schon gehabt hat damit. Sie denkt wehmütig-sarkastisch an Heirat und den Wohlstand, aber fühlt instinktiv, daß sie nach kurzer Zeit ausgestopft mit blauen Knopfaugen und gespreizten Beinen bei ihm liegen würde. Auf einmal kommt es ihr auf ein paar Tage oder Wochen, vielleicht auch ein ganzes Jahr nicht mehr an. Leute sterben hier nicht oft. Sie wird warten und dann für immer aller Sorgen ledig sein. Ihr Lebensstil ist bescheiden. Sie schimpft sich eine blöde Kuh, die geköpfte Leiche so schnell für die Beerdigung freigegeben zu haben. Vielleicht kann man sie noch ausgraben. "Verstehen Sie..." Vertraulich flüsternd beugt er sich vor: "Ich bräuchte einen vollständigen, präparierten Menschen. Eine Frau würde ich natürlich einem Mann vorziehen." Ein zaghaftes Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen. Es ist heiß in diesem Raum. Man sollte das Fenster öffnen. Geradezu stickig heiß ist es hier. "Das Fünfzehnfache für eine Frau." Seine Blicke gehen zur Decke, seine Hände fahren unruhig in seinen Hosentaschen herum, suchen ein Taschentuch, um den dünnen Schweiß von der Stirn zu wischen.
"Ja." Räuspern. "Das Fünfzehnfache für eine unvergängliche Frau. In sitzender Pose bitte." Als er sie in einer Mischung von Gier nach Erfüllung seiner Träume, jämmerlicher Angst eines immer Geprügelten, Leidenschaft, geboren aus einer schnellen Idee und Besitzlust mit starren Froschaugen anstiert, öffnet sie emotionslos eine Schublade, entnimmt vier Skalpelle und rammt sie dröhnend in die Tischplatte.

"Ich liebe dich nicht. Lange nicht mehr."
"Wieso läßt du dich jetzt Vaccin nennen?"
"Falsch. Ich ließ mich damals Vaccin nennen. Was hätte es für einen Eindruck gemacht, wenn ich jetzt mit einem anderen Namen auftauchen würde?"
"Dann hast du gar nicht gewußt, daß ich hier bin?"
Er gähnt.
"Du bist nicht wegen mir gekommen?"
Grunzend dreht er sich auf die andere Seite.
"Wärest du nicht gekommen, wenn du gewußt hättest, daß ich hier bin?"
Die Frage bleibt ohne Antwort.

Vor dem Regen fliehen sie in die Kneipe zurück. Man spielt Karten und man trinkt. Schendel ist einer von ihnen. Er war auch auf dem Begräbnis, so wie Baccer desgleichen dabei war. Es war sehr lustig. Schendel sitzt jetzt auf dem Tisch. Er erzählt. Erzählt, daß es mehr als nur ein Unfall, daß es seine Tat war.
Man applaudiert ihm. Ein kleiner Buckliger, der sich für seine Anwesenheit entschuldigt, reicht ihm ein Glas in die Hand, man prostet ihm zu. Wie denn diese Stadt hieße, fragt er noch. Niemand antwortet ihm, zu sehr ist man mit Glückwünschen beschäftigt. Man applaudiert ihm, bis er seine Frage vergessen hat.

Der kleine Mann mit dem Pappkarton unter dem Arm weicht zurück. "Ich möchte betonen, daß ich nur meine, wenn sie wieder einen Todesfall haben." Das Taschentuch wischt über seine Stirn: "Sie wissen ja, wo sie mich erreichen können. Guten Tag." Er stürzt aus dem Zimmer, an der flennenden Witwe vorbei.

Baccer taumelt aus der Kneipe auf die Straße hinaus, froh wenigstens noch stehen zu können. Er will jetzt zur Ärztin. Will endlich das Verhältnis ausbauen. Sie soll endlich ja sagen zu ihm, genauso wie seine Haushälterin ja auch ja zu ihm gesagt hat. Danach will er endgültig verschwinden. Raus aus diesen Straßen, in denen nur dichter Nebel liegt und Abwasserkanäle geräuschvoll unter der Straße entlanggluggern. Er geht auf alle Viere nieder, Beine mit Unterleib und dem was daranhängt voran, weil er es für einen besonders guten Einfall hielt.

"Ich bin immer noch eine junge Frau, Vaccin. Warum also kommen wir nicht überein? Du nimmst mich, hast die Genugtuung mich gedemütigt und deinen besten Freund betrogen zu haben und dafür gibst du mir Geld. Ich will hier weg, weißt du?"

An der weinenden Witwe vorbei. Sie sieht sie an. Sie schätzt sie auf unter dreißig. "Aber bitte, lassen Sie sich nicht so überwältigen." Kein Wort kommt über die schluchzenden Lippen. Mitfühlend legt die Ärztin ihren Arm um die Patientin, dabei ekelt sie nichts so an wie die Trauer anderer Menschen, als wenn sie nicht so schon Sorgen genug hätte! Die Dame in Schwarz hat sich gefangen. Es war nicht der Tod selbst, nur diese unanständige Beerdigung. Aber jetzt war zum Glück gut für sie gesorgt. Sie hatte, als sie noch an Horoskope glaubte, vor vielen Jahren, für diesen Mann eine Lebensversicherung abgeschlossen, weil sie ihn im Traum als tot gesehen hatte. Sie hatte zwar auch davon geträumt, daß er um ihre Hand anhalten würde, jedoch gesprochen hatte sie nur einmal mit ihm. Es war ein Kleinmädchentraum, der da auf eine Verkaufskanone von Versicherungsvertreter getroffen war. Eine eigentlich lächerliche Illusion, die sie da so lange gepflegt hatte. Aber es wäre ihr peinlich gewesen, nicht immer überall einen Partner erwähnen zu können. Entlastend blitzten noch zwei Gedanken durch ihr bescheidenes Gehirn, der eine, wie klug sie doch war, diese Versicherung abgeschlossen zu haben, der andere, daß sie sich jetzt eine gebildete Freundin leisten konnte.
Es mußte schön sein, jemanden zu haben, der zumindest ein wenig abhängig von einem war. Es war schließlich genügend Geld da, damit könnte sie als noch junge Frau den Männern und dem Leben wieder nachstellen. Sie würde ihrer - ihrer - also der Ärztin natürlich ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen konnte. Den Männern würde sie es mit diesem wirtschaftlichen Rückhalt schon zeigen.
Sie brauchte nur noch aus diesem tristen Grau, diesem ewigem Nebel herauszufahren und das Geld zu holen. Die Ärztin hat inzwischen eine Beruhigungstablette aufgezogen, denn die in Schwarz ist kaum älter als dreißig. Doch die Dame lehnt ab, sie habe Angst vor Spritzen, außerdem sei ihr jetzt viel besser zumute. Die Ärztin versucht darauf zu bestehen, denn nur so sei eine dauerhafte Besserung zu erwarten, die Patientin wehrt jetzt aber schon lächelnd ab, fängt stattdessen an zu erzählen, von dem Mann den sie nie wirklich kennenlernte, sich aber alltäglich und nächtlich erträumte.
Aber Frau Doktor ist unkonzentriert, hört nicht hin, knetet die Giftspritze in ihrer Hand. Es war wohl doch nur so eine verrückte Idee. Dann wird sie eben warten müssen. Sie resigniert schulterzuckend und erleichtert und hört wieder zu, als sie gerade um eine Tasse Kaffe oder einen Likör gebeten wird. Gutgelaunt, froh einmal Gesellschaft von ihrer Art und ihrem Alter zu haben, schenkt Sie Cognac aus. Die jetzt schon sehr aufgeblühte Witwe hustet über das harte Getränk, beginnt irgendetwas von einem Vorschlag, den sie zu machen habe, schenkt sich nach, erzählt weiter, aber die Gedanken ihres Gegenübers sind schon wieder woanders, dort wo das Fünfzehnfache ihr mehr als nur ein Leben in Bescheidenheit garantiert hätte.
Da stürmt Baccer trampelnd in die Praxis, brüllt ihren Namen. Die Ärztin läuft ihm entgegen: "Schrei nicht so, Idiot!" Wütend reißt er sie an sich, will sie in ihr Zimmer zerren, sie verweigert sich ihm, versucht schon wieder ihn abzuwimmeln. Seine Bewegungen werden langsamer, er ist mißtrauisch, sogar eifersüchtig, stößt sie von sich, um in ihren Privatraum zu stürzen, sieht "die von der Beerdigung".
"Was ist mit ihr?"
"Besuch. Was geht es dich an?"
Baccer resigniert etwas, fällt fast in sich zusammen. Trotz seiner Trunkenheit stellt er sich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Mit einem Mal lächelt Frau Doktor:
"Trink doch noch etwas mit ihr. Ich habe noch zu tun. Komm rüber, wenn du fertig bist. Nimm meine Geheimreserve aus dem Medizinschrank."
Baccer grinst wieder, und die Ärztin schließt lächelnd die Tür hinter ihm. Die Gedanken der nicht mehr Trauernden und Baccers scheinen sich irgendwo zu treffen. Sie denkt, daß er der Freund ihrer Gastgeberin sein müsse. Wie lustvoll, wie sehr pralles Leben es wäre, wenn sie ihn, nun da sie sich so vieles leisten könne, auf die Schnelle verführen würde! Und Baccer produziert sich, stellt sich in Positur und die "Geheimreserve" auf den Tisch. Minuten später stürzt er aus der Halle, kreischt die mit Skalpellen hantierende Ärztin an, was sie mit der von der Beerdigung gemacht hätte.
Im Laufe eines dramatischen Gesprächs, erfährt der heulend zusammenbrechende Baccer, daß er sich wohl in der Flasche vergriffen haben müsse. Dieses würde sie ihm vielleicht noch glauben, aber ganz bestimmt werde sie nicht vor Gericht aussagen, daß sie die Mitschuldige daran sei. Er hätte ja fragen können, oder?
Außerdem wolle er ihr bestimmt nicht erzählen, daß eine eben noch Trauernde sich freiwillig spontaner Liebe in einer Arztpraxis mit ihm hingegeben habe. Er winselt sie um Hilfe an und eine Stunde später hat sie ihm ihren Plan von der Präparation und dem Verkauf der Leiche erzählt. Dieses zukünftige Geld ist ihre Lebensversicherung, um nicht als einzige Zeugin einem Verzweiflungsakt von seiner Seite zum Opfer zu fallen.
"Du mußt mir noch mir noch einen Gefallen tun, Baccer. Überbring doch bitte dem Leiter der Nervenheilanstalt dieses Medikament." Eine blaue Dose rollt über den Tisch.
"Warum sollte ich?"
"Um mir auch einen Gefallen zu tun, denke ich." Mißgelaunt steckt er die Dose ein. "Sonst noch etwas?"
"Nein danke. Komm morgen wieder."
"Das werde ich. Und sei froh, daß ich dich heute gehen lasse."
"Die Freude ist ganz deinerseits. Was wäre, wenn ich mich mit dem zehnfachen begnügen würde? Oder gar beides würde haben wollen?"

Sie sei zwar nur eine Haushälterin, aber sie liebt ihn, sie liebt ihn und sie liebt ihn. Außerdem wird sie trotzdem viel für ihn tun.
"Warum denn das?"
"Du bist doch nicht arm, oder?", fragt sie erschrocken.
"Baccer ist es. Warum also ihn?"
"Weil er da war. Du hattest ihn mir vorgestellt. Baccer will mich heiraten und von hier wegbringen."

"Herrn Dr. Schwindtler, bitte. Ja, ich warte."
"Schwindtler."
"Guten Tag. Hier spricht eine entfernte Kollegin von ihnen."
"Ah, Sie sind es. Was kann ich für Sie tun?"
"Erinnern Sie sich noch an die beiden Wölfe? Ich hatte als Todesursache Sturz angegeben. Sie wissen, was ich meine?"
"Natürlich."
"Ich habe eben einen Mann zu Ihnen geschickt, mit dem Auftrag Ihnen ein Medikament zu übergeben. Ich möchte, daß Sie ihn dabehalten. Das läßt sich doch machen, oder?"
"Selbstverständlich. Eine Hand wäscht die andere."
"Wunderbar. Bitte melden Sie sich heute abend noch einmal bei mir."
"Selbstverständlich."
"Fein. Bis dann."
"Bis dann." Aus der feuchten Hand eines Arztes in einer Nervenheilanstalt fällt der Hörer auf die Gabel. Seine gesamte Arbeit ist in Gefahr. Sie fängt an Forderungen zu stellen. Für eine Sekunde dachte er daran, an ihr Kollegenethos zu appellieren, verwarf die Idee aber sofort wieder. Wenn er ihren Wunsch erfüllte, würde sie ihn damit weiter erpressen können.

Es ist vier Uhr nachmittags als der in dieser Stadt neu eingetroffene Schendel völlig betrunken unter dem Tisch zusammensackt. Wie vergänglich der Ruhm doch ist. Vorhin noch hat ihn jeder gefeiert, und jetzt kennt ihn keiner mehr. Außerdem muß er doch noch diesen anderen, wie heißt er doch gleich, treffen. Extra wegen ihm, nach so vielen Jahren, hergekommen. Aber er wird sich schon noch bemerkbar machen, sie werden ihm schon zujubeln, ihnen allen wird er es zeigen, nachher, nachher, wenn er wieder so ein bißchen... Er schnarcht.

"Ah, Sie kommen sicher von meiner geschätzten Kollegin, nicht wahr?"
"Das hier soll ich Ihnen geben." Baccer wirft die Dose auf den Schreibtisch.
"Danke. Aber kommen Sie doch bitte auf einen kleinen Rundgang mit. Ich möchte Ihnen meine - "Menagerie" zeigen." Lustlos wandert Baccer an der Seite des Doktors durch die Korridore.
Gelegentlich tritt der Mann im weißen Kittel an eine Tür, öffnet ihr kleines Sichtfenster und nötigt Baccer hineinzusehen. "Was Sie bisher gesehen haben, waren, wenn man so sagen kann, normale Verrückte. Hier aber ..., " Er schiebt Baccer vor die Öffnung, "sehen Sie ein besonderes Exemplar von einem Patienten. Was glauben Sie, für was er sich hält?"
"Für eine Maus."
"Richtig. Sie haben es an den Bauten erkannt, nicht wahr? Herrlicher Fall." Er tut selbst noch einen schnellen Blick hindurch, dann eilen sie auch schon zur nächsten Tür.
"Und hier: Was glauben Sie, will er darstellen?"
"Eine Katze."
"Wieder richtig." Begeistert tritt er an das Sichtfenster.
"Neulich hat sich ein Vogel durch die Gitter in das Katzenzimmer verirrt, sie ist sofort auf ihn losgesprungen und hat ihn gefressen. Mit jeder Feder. Vor zwei Wochen machten wir ein Experiment. Wir ließen die Katze und die Maus auf den Hof. Sie beide wußten nicht, was der andere darstellte. Sie haben einander solange nicht beachtet, bis wir der Maus ein Stück Käse hinwarfen."
Eine neue Tür, ein neues Sichtfenster.
"Hier noch eine Maus. Fällt Ihnen etwas an der Einrichtung auf?"
"Da steht eine Mausefalle."
"Gut. Behalten Sie sie im Auge, vielleicht tut sich etwas. Wo hatte ich mich doch gleich noch unterbrochen? Ah ja, wir warfen der Maus ein Stück Käse hin..."
Die Maus schnüffelt in der Luft, kriecht leise durch das Heu, nähert sich... ".... laut quiekend, wodurch die Katze natürlich sofort..." ... erkennt das Gerät aber als eine Falle ... " ... nicht getrennt hätten, hätte die Katze sie umgebracht." .. die Falle schnappt zu, die Maus läuft unbehelligt quiekend und schreiend in ihre Höhle zurück.
"Machen Sie mit allen diesen - "Tieren" Experimente?"
Ein Schatten des Bedauerns trübt das fröhliche Arztgesicht. "Leider nicht mehr. Wir hatten einmal zwei Wölfe, als wir die beiden zusammen auf den Hof ließen, vertrugen sie sich untereinander sehr gut, nur daß sie die Wärter angriffen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß das zwei wahre Hünen waren. Leider waren die beiden nicht auf einen Angriff gefaßt und so genügte ein einziger Biß, um einem mir sehr ergebenen Mann das Lebenslicht auszulöschen. Der zweite konnte sich noch wehren, allerdings hätte auch er sein Leben lassen müssen, wenn wir nicht rechtzeitig herbeigeeilt wären. Leider starb einer der Wölfe an einer Kopfverletzung, als wir ihn abzuwehren versuchten. Wirklich bedauerlich. Heute machen wir nur noch sehr kleine, an und für sich unbedeutende Experimente. Aber darum geht es nicht. Sehen Sie, wir geben den Patienten einen neuen Lebensinhalt. Eine Identität, mit der sie leben können. Irgendwann möchten sie Menschen sein. Wölfe, Geschäftsleute, Katzen und Mäuse Ehepartner und so weiter und so fort. Eine einfache, aber geniale Idee, nicht wahr?" Der Arzt lächelt versunken, wird aber schnell wieder fröhlich.
"Ich sehe, Ihnen ist das Thema etwas komplex. So sind wir Ärzte nun einmal. Wir vergessen immer, daß wir die anderen nicht mit Fachgesprächen langweilen sollen. Trotzdem möchte ich Ihnen noch ein Angebot machen. Kommen Sie, wir gehen in mein Büro."

"Wegen mir bist du nicht da, Vaccin. Weshalb dann?"
Er prüft seine Krawatte im Spiegel: "Ein Mörder hat mich hergeführt."
"Wer ist es?"
"Ich." Die Krawatte ist in Ordnung

"Hier Schwindtler. Ihr Patient ist bis jetzt noch nicht hiergewesen."
"Warten Sie. Ich werde ihn aufsuchen und sofort persönlich vorbeikommen."
Baccer kommt gerade herein. "Warum bist du nicht da gewesen?"
"Ich hatte keinen Grund."
"Komm mit!"
"Warum sollte ich?"
"Wegen dem Mädchen."
"Damit habe ich nichts zu tun."
"In Ordnung. Hilf mir sie einzuladen, dann fahren wir zusammen hier raus."
Nach vollendeter Tätigkeit klebt sie die Adresse des Empfängers auf den Pappkarton, in den sie den präparierten Körper taten. Sie erzählt, wie sie dazu gekommen ist. Sie müßte jetzt nur noch schnell ihren Kollegen in der psychiatrischen Pflegeanstalt besuchen, dann würden sie den Körper persönlich abliefern und dann würde ein ganz neues Leben für sie beide beginnen.

"Zu Herrn Dr. Schwindtler." Die Tür vor ihnen schwingt auf.
"Tag."
"Tag. Nun erfüllen Sie meinen Wunsch, ich habe nicht viel Zeit." Die Ärztin winkt mit dem Kopf in Richtung Baccers. Auf einen Wink treten zwei kräftige Wärter in den Raum, legen der schreienden Ärztin die Zwangsjacke an.
"Einen Moment." Baccers Hand angelt in die Brusttasche der Gefesselten, um ihre Brieftasche herauszuholen. Noch ein Wink und die beiden Kraftmenschen greifen ihn an. Baccer gibt aus der Jackentasche einen Warnschuß ab.
"Den Koffer."
Fröhlich resignierend öffnet der Nervenspezialist einen kleinen Koffer auf dem Schreibtisch.
"Die obersten Bündel anheben." Baccer vergewißert sich von der Richtigkeit des Betrages, verschwindet dann lächelnd durch die offene Tür, ohne auf die kreischende Stimme einer gefesselten, am Boden liegenden Ärztin zu hören, die seinen Namen quietscht. "Ratte" und "Meerschweinchen" nennt er sie, als er geht. Aber da ist noch ertwas anderes zu klären...

"Du hast mit dem Mädchen geschlafen, Vaccin. Das war gegen unsere Abmachung. Sie sollte mir gehören."
"Duellieren wir uns."
"Ja, duellieren wir uns."
Schendel erwacht unter dem Tisch. Er tritt nach draußen. Neue Taten wollen von ihm getan werden. Er ist der Größte. Sie werden ihm alle zu Füßen liegen. Alle. Er taumelt nach draußen.

Von links kommt das Mädchen. Sie setzt sich auf eine Bank um den Sieger abzuwarten. Auf der anderen Seite kommt Schendel. Neben Baccer verhält er. "Was ist hier los?"
"Ein Duell."
Schendel zieht die Pistole und schießt auf Vaccins Bauch und Brustkorb. Er ist der Größte. Sie werden ihm zu Füßen liegen. Alle. Brüllend entleert Baccer sein Magazin auf Schendel: "Habe ich dir erlaubt, zu schießen, du Stück Mist, habe ich es dir erlaubt?" Ein Schuß, die Frage, ein Schuß, die Frage,...
Das Mädchen geht auf Baccer zu, legt den Arm um ihn. Mit dem Koffer und dem Mädchen geht er über die Straße. Vaccin schießt durch seinen Schädel. Das Mädchen zieht den Arm zurück, fängt den Koffer und die Autoschlüssel in seiner Hand auf, Baccer fällt in eine Pfütze.
Vaccin geht auf sie zu.
Das Mädchen legt zärtlich den Arm um ihn:
"Sag, wer war der andere Mann, der auf dich geschossen hat?"
"Ein guter alter Freund von mir. Ich hatte ihn vorgeschickt, um Baccer zu erledigen und dich zu mir zu bringen."
"Ist alles so gelaufen, wie du es dir vorgestellt hast?"
"Ja, alles lief nach Plan."
Engumschlungen fahren sie mit Baccers Auto davon, verscherbeln seine Fracht, Vaccin veräußert bei der Gelegenheit auch gleich seinen lebenden Ballast an dieselbe Adresse, einen Monat später versetzt er den Inhaber der Adresse samt seinem inzwischen mit blauen Knopfaugen präpariertem Ballast an einen bekannten Nervenspezialisten, den wieder an die Öffentlichkeit, nimmt den blauäugigen Ballast als Erinnerung an seine einstige große Liebe, seine Rachegedanken und als Schlafzimmerschmuck wieder zurück, läßt alle anderen wo sie sind und erzielt bald darauf einen sehr guten Preis für den Verkauf der Öffentlichkeit, deren höchster Anführer er unter dem Jubel des Volkes wird.
 

Rainer

Mitglied
hallo jörg feierabend,

gratulation zu diesem unklassischen, rasanten und mit klischees herrlich spielenden krimi - er hat mir viel freude gemacht. vielleicht muß ich mich erst einlesen, aber so langsam komme hinter den "sinn" deiner schreibe; es ist halt keine kost für schnell-mal-zwischendurch.
eine frage habe ich aber noch: wie konnte die ärztin bei der wolf/wärter-sache helfen - ist mir irgendwie unklar.

gruß

rainer
 
Dank, Dank :)

gratulation zu diesem unklassischen, rasanten und mit klischees herrlich spielenden krimi - er hat mir viel freude gemacht.

Das ist schön. Man hört ja gern auch einmal, daß irgendetwas auf Anhieb eingeleuchtet hat. Passiert mir leider nicht sehr oft.


vielleicht muß ich mich erst einlesen, aber so langsam komme hinter den "sinn" deiner schreibe; es ist halt keine kost für schnell-mal-zwischendurch.

Tjaaa .... ich wollte eigentlich immer besonders leicht und locker und unterhaltsam schreiben. Aber leider werde ich im Grabenkrieg zwischen Anglisten und Germanisten zerrieben.


eine frage habe ich aber noch: wie konnte die ärztin bei der wolf/wärter-sache helfen - ist mir irgendwie unklar.

Nuuuun, ein kleines Gefälligkeitsgutachten zur rechten Zeit. Unpassende Verletzungen müssen eben nur passend erklärt werden.

Danke dir für deine herzerwärmende Lesefreude.


Winkewinke,

Jörg
 



 
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