Einer geht noch

4,40 Stern(e) 19 Bewertungen

arle

Mitglied
Er fängt an zu schielen. Das heißt: Er hat sein Level erreicht. Von nun an wird er jedes Wort, das er sagt, mit einem Punkt versehen. Es. Tut. Mir. Leid. Dabei verrutscht sein gezwungen überlegenes Lächeln, und er sieht plötzlich aus wie ein Idiot. Seine Augen, sonst hellblau, sind tiefschwarz von der Anstrengung, den Aschenbecher zu fokussieren. Er hält die Zigarette zwischen Daumen, Mittel- und Zeigefinger, wie ein uralter Mann, und schafft es nach einer Ewigkeit, sie auszudrücken. Beifall heischend schaut er sich um. Er rülpst, kichert über den langen Furz, der ihm entfährt, hustet, rotzt, spuckt. In ein paar Minuten wird er sich mühsam erheben, in Kleidern und Schuhen aufs Bett fallen und zwölf Stunden im hell erleuchteten Zimmer schlafen. Er wird gut erholt aufwachen und sich fröhlich pfeifend ein riesiges Frühstück einverleiben. Siehst du, wird er dann zu ihr sagen, ich kann trinken, was ich will. Ich bekomme keinen Kater. Also werde ich auch nicht besoffen, ganz egal, wie viel ich trinke.

Du. Entschuldigst. Mich. Bitte. Er rüstet sich für den Gang zur Toilette. Auf den fünf Metern dorthin verliert er die Orientierung, bleibt stehen, lässt die Hose herunter und pisst mitten in den Flur.

Sie steht langsam auf, hat überhaupt keine Angst mehr und schlägt zu. Stellvertretend. Für den, der heulte und lamentierte im Suff. Für den, der nur im Suff potent war. Für den, der zynisch und verletzend wurde im Suff. Für den, der prügelte im Suff. Für den, der krepierte am Suff.

Raus, sagt sie, wirft die Tür hinter ihm zu, dreht den Schlüssel dreimal um, wischt seine Pisse weg, kotzt, geht schlafen.
 
B

bonanza

Gast
arle, du kennst dich aus!
auf nüchterne wirkt ein besoffener immer wie ein idiot,
volltrottel oder riesenbaby.
ich amüsierte mich prächtig beim lesen.
ein highlight an diesem tristen sonntagnachmittag.
gut, daß ich gestern noch bier holen ging.
mit jedem schluck wird dein text besser ...
prost!

bon.
 

arle

Mitglied
Oh ja, ich kenn mich ziemlich gut aus, Bonanza. Und wenn dieser kleine Text wirklich so amüsant ist, sollte man überlegen, ihn in "Humor und Satire" zu verschieben. Ich freu mich, dass er dir den Sonntag versüßt hat und danke dir für die gute Bewertung.

arle
 

arle

Mitglied
Liebe/r Dreierbewerter/in,

du meinst, dieser Text sei "stark überarbeitungsbedürftig", sagst aber nicht, inwiefern er das ist. Obwohl ich das noch nie erlebt habe bei unterdurchschnittlichen Bewertungen, finde ich es nach wie vor sehr schade und nicht einsehbar.

Denn warum, wenn nicht um zu lernen, wie man's besser machen könnte, sollte man in der Lupe veröffentlichen? Also, raus mit der Sprache!
 
B

bonanza

Gast
arle, inzwischen kommt mir dein text göttlich vor.
er ist furchtbar gut aus dem leben gegriffen.
unwahrscheinlich realitätsnah. für mich speziell.
drum bewertete ich gut. er ist auch super geschrieben.
zumindest bis zur mitte. dann wirst du müde.
du machst kurzen prozeß. eigentlich hattest du bereits
alles ausgesagt. im vorspiel.
da verträgt das ende schon einen abfall in der qualität
der sprache.
ich sehe diesen (besoffenen) mann bildlich vor mir.
er ist ein furzender halbgott.
und es gibt doch tatsächlich frauen, die immer auf
dieselben typen fliegen. um sie schließlich vor die tür
zu setzen.
okay, ich möchte die aussage deiner kleinen prosa nicht
überdehnen. dafür reicht auch mein pegel noch nicht.

über die kommentarlosen miesbewerter würde ich mich nicht
ärgern. mitunter gibt es sehr ätzende nüchterne zeitgenossen.

bon.
 
Bonanzas Götter hin, unerklärte Punktphänomene her, liebe arle, hier ist dir, insbesondere in den ersten beiden Absätzen, gelungen, mit nicht mehr Worten, als erforderlich sind, einen typischen Ausschnitt aus einem der in vielen Details so erschreckend gleich ablaufenden Alkoholikerleben in der deinem Schreiben eigenen Einprägsamkeit zu schildern. Auch der Fortgang der Geschichte, in gewisser Weise ein Happy End, das es nicht immer gibt, eröffnet eine interessante Perspektive, könnte doch diese Szene auch beispielhaft aus einem anderen Blickwinkel auf den Niedergang des Trinkers betrachtet werden - für "sie" eine längst überfällige Befreiung, für ihn eine weitere zwingende Konsequenz, von denen es so viele gibt und die er nurmehr hinzunehmen in der Lage sein wird. Ein kurzer Text also, der viel eröffnet, was will man mehr.
 
B

bonanza

Gast
klar, die frau handelt immer richtig, wenn sie den
trinker vor die tür setzt.
 
Sehr schöne Suff-Skizze!

Liebe Arle,

eine kurze, prägnante Skizze. Ein Beispiel für genau abgestimmte Wortwiederholungen. Suff. Suff. Suff.
Das mit dem Punkt hinter jedem Wort kennen wir inzwischen zwar aus der Literatur zu genüge, es gibt Bücher, die das im Titel verwenden, trotzdem bei dir wegen des Themas berechtigt und treffend.

Ein Blick in Alltagsabgründe. Ganz toll. Der letzte Satz - wie hier die kleinen und die großen Handlungen zusammengezogen werden. Beste Kurzprosa.

Überzeugte Grüße
Monfou
 

arle

Mitglied
Lieber Alexander, lieber Monfou,

vorweg ganz herzlichen Dank für Eure lobenden Worte und die guten Bewertungen.

Zum Thema, das mir schon seit langer Zeit unter den Nägeln brennt: Diese Skizze ist ein Konzentrat aus vielen, vielen Gedanken und Gefühlen, die im Laufe der Jahre auf Dutzenden von Zetteln festgehalten wurden. Die Palette reicht von großem Verständnis über große Wut bis zu agrundtiefem Ekel. Da ist die Gefahr schon sehr groß, in Geschwafel und Schwulst, wenn nicht gar Kitsch, abzurutschen.

Eure Worte bestätigen mir wieder einmal, dass in der Reduktion die größte Kraft liegt. Und obwohl es mir manchmal sehr schwer fällt, immer weiter zu reduzieren (es gäbe doch noch so viel zu erzählen!), werde ich versuchen, auf diesem schmalen Grat weiter zu balancieren.

Ich hab den Text mit bangem Herzen eingestellt und bin nun sehr erleichtert, dass er sein Ziel nicht verfehlt hat.
 

Gagjack

Mitglied
hingepisst und drauf gekotzt

aus tiefem Verständnis, hallo arle.


Dieser Text ist für mich eine Art der Offenbarung und ich kann Dich mehr als gut verstehen.

Siehst Du doch die Widerlichkeit und beschreibst sie bis ins Detail.
Mit diesem Text kann jeder etwas anfangen, der einmal mit Alkoholismus konfrontiert wurde.

Die " Suff-Passagen" am Ende des Textes sind sehr beeindruckend. Es ist auch der Spiegel der Gefühle des Alkis.

Ich danke Dir dafür; mein inneres Auge ist um einiges größer geworden.

Bleibe bei der Reduzierung, kaum jemand gelingt sie besser als Dir.

Christoph
 

arle

Mitglied
Na ja, Christoph,

es gibt hier schon etliche Leute, denen die Reduzierung und alles, was dazu gehört, weit besser gelingen als mir. Ich bin ja immer noch Azubi in der Lupe. Aber vielleicht habe ich das Glück, dass meine Themen die Leser manchmal besonders ansprechen.

Trotzdem weiß ich gerade dein Lob und die gute Note für diesen Text sehr zu schätzen. Vielen Dank!
 

chrissieanne

Mitglied
hi arle,
dies ist zwar kein beitrag zur textarbeit, aber ich drück den button trotzdem, weil ich dir nunmal mein lob aussprechen will.
amüsiert hat mich der text nun wahrlich nicht. aber beeindruckt schon. in der begründung würde ich mich
alexanderredayusw anschliessen.
auch den satz von gackjack kann ich unterschreiben.
"damit kann jeder was anfangen, der einmal mit alkoholismus konfrontiert wurde."
oder ständig wird. und es selbst kennt.
jo. das haut rein, ums mal salopp auszudrücken.
lg
chrissieanne
 

arle

Mitglied
Ja, liebe chrissieanne, da bleibt mir eigentlich nur ein hoch erfreutes "Danke schön".

Wie schwer es mir fiel, den Text endlich hinzukriegen, habe ich ja schon gesagt. Und so richtig doll amüsiert hab ich mich beim Schreiben auch nicht. (c;

In diesem Sinne, danke fürs Lesen: Silvia
 
Hallo arle,

da hast du ein großes Problem so beschrieben, dass es beim Lesen richtig unter die Haut geht. Man kann darüber Lächeln aber wenn ich mir vorsstelle, dass so etwas mal Wirklichkeit wird...Auch die Punktwörter finde ich gut.

LG Walter
 

arle

Mitglied
Er fängt an zu schielen. Das heißt: Er hat sein Level erreicht. Von nun an wird er jedes Wort, das er sagt, mit einem Punkt versehen. Es. Tut. Mir. Leid. Dabei verrutscht sein gezwungen überlegenes Lächeln, und er sieht plötzlich aus wie ein Idiot. Seine Augen, sonst hellblau, sind tiefschwarz von der Anstrengung, den Aschenbecher zu fokussieren. Er hält die Zigarette zwischen Daumen, Mittel- und Zeigefinger, wie ein uralter Mann, und schafft es nach einer Ewigkeit, sie auszudrücken. Beifall heischend schaut er sich um. Er rülpst, kichert über den langen Furz, der ihm entfährt, hustet, rotzt, spuckt. In ein paar Minuten wird er sich mühsam erheben, in Kleidern und Schuhen aufs Bett fallen und zwölf Stunden im hell erleuchteten Zimmer schlafen. Er wird gut erholt aufwachen und sich fröhlich pfeifend ein riesiges Frühstück einverleiben. Siehst du, wird er dann zu ihr sagen, ich kann trinken, was ich will. Ich bekomme keinen Kater. Also werde ich auch nicht besoffen, ganz egal, wie viel ich trinke.

Du. Entschuldigst. Mich. Bitte. Er rüstet sich für den Gang zur Toilette. Auf den fünf Metern dorthin verliert er die Orientierung, bleibt stehen, lässt die Hose herunter und pisst mitten in den Flur.

Sie steht langsam auf, hat überhaupt keine Angst mehr und schlägt zu. Stellvertretend. Für den, der heulte und lamentierte im Suff. Für den, der nur im Suff potent war. Für den, der zynisch und verletzend wurde im Suff. Für den, der prügelte im Suff. Für den, der krepierte am Suff.

Raus, sagt sie, wirft die Tür hinter ihm zu, dreht den Schlüssel dreimal um, wischt seine Pisse weg, kotzt, geht schlafen.
 



 
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