Einmal Glück und zurück

Felix Ludwig

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Es war ein regnerischer Tag, genau wie vor 6 Jahren, am Tag von Emma's Geburt. In all den Jahren hatte sich in der Stadt kaum etwas geändert. Die alten Backsteinbauten trotzten dem Wetter noch immer und hielten den Schmutz fest wie ein Kind einen Dauerlutscher. Selbst die heftigsten Regenschauer vermochten den Russ und sonstigen Dreck nicht mehr abzuwaschen. Die grossen Schornsteine spiehen weiterhin ununterbrochen ihren schwarzen Rauch gen Himmel, der sich mit den schwarzen Regenwolken zu einem undurchdringbaren Etwas vermischte. Am Horizont verschwamm der Himmel schließlich mit den hochaufgetürmten Kohlebergen.
Emma's Eltern stritten nahezu jede freie Minute, es ging dabei natürlich um Geld, den Haushalt und die Frauengeschichten von ihrem Vater. Wenn es dann soweit war zog sich die kleine Emma immer in ihr Zimmer zurück und starrte die meiste Zeit über aus dem Fenster. So auch an diesem trostlosen regnerischen Tag.
Das Geschrei und Gezeter drang durch die geschlossene Tür in ihr Zimmer und während tausende Regentropfen an der Fensterscheibe zerplatzten spürte sie diese unbeschreibliche Traurigkeit in sich aufsteigen. Sie hätte sie nicht in Worte fassen können, wenn sie jemand danach gefragt hätte. Sie ließ den Regen alleine und ging langsam in die Mitte des kleinen Zimmers. Als sie sich auf den Boden setzte ging im Wohnzimmer gerade die grosse Blumenvase von ihrer geliebten Oma Catherine zu Bruch. Es war ein Erbstück gewesen, dass ihr Vater kurz nach Omas tot eher wiederwillig angenommen hatte.
Im Schneidersitz sass Emma vor ihrer Holzeisenbahn, die sie von ihrer Tante Stephanie bekommen hatte. Da sie nicht sonderliche viele Spielsachen hatte, spielte sie die meiste Zeit mit der Eisenbahn.
Draussen wurde es immer lauter, im ganzen Haus musste man sie schon hören. Emma starrte mit ihren grossen Rehaugen gebannt auf die rote Lokomotive, holte sie vor dem inneren Auge immer näher heran.

Dann stand Emma vor einem alten Kartenverkaufsschalter in einem riesigen alten Bahnhof. Mit einem kleinen roten Köfferchen in der Hand und ihrem grünen Mantel bekleidet, schaute sie zu dem alten Mann hinter der Glasscheibe hinauf. Aus seinen Ohren spriesen dichte graue Haarbüschel hervor.
"Wohin des Weges, kleines Fräulein?" fragte der Mann mit der Stimme eines Märchenerzählers, die dafür sorgte das man bei jedem Wort wie gebannt an seinen Lippen hing.
"Einmal Glück und zurück," lächelte die kleine Emma und reichte ihm einen glänzenden schwarzen Knopf, den sie aus ihrer Jackentasche hervorholte. Mit seiner grossen faltigen Hand nahm er den Knopf an sich, sah ihn kurz prüfend an und reichte Emma dann eine grosse goldene Fahrkarte.
"Einmal Glück und zurück. Angenehme Reise." In Emma's kleinen zierlichen Händen wirkte die Karte noch grösser, als könnte sie sich auf sie setzten und als fliegenden Teppich verwenden. Schlendernd bewegte sie sich in Mitten des Menschenstroms in Richtung Bahnsteig voran. Ließ sich treiben wie ein Blatt in einem ruhigen Bach. Nur noch wenige Meter von dem einzigen Zug im Bahnhof entfernt, blieb sie stehen. Als die Menschenmenge sich langsam lichtete wurde für sie der Blick auf die grosse strahlende rote Dampflock frei. Majestätisch stand sie dort, dampfte leicht vor sich hin, mit all ihren Wagons im Schlepptau, aufgereiht wie bei einer Perlenkette.
Während Emma noch völlig begeistert vor sich hin starrte, trat aus einem der Wagons ein dicker Schaffner.
"Wollen Sie auch noch mit? Dann müssen Sie jetzt aber einsteigen!" Emma lächelte über das ganze Gesicht und rannte sofort los. Das Echo der tapsenden Füsse auf dem Betonboden erfüllte den ganzen Bahnhof. Sie reichte ihm rasch ihre Fahrkarte, die er sorgsam lochte und an sie zurückgab.
Begeistert ließ sich Emma an einem Fensterplatz nieder, während der Zug ruckelnd anfuhr. Dampfend fuhr der lange Zug aus dem Bahnhof und entfernte sich immer weiter von der verdreckten Stadt, wobei es schien als wollte er sie so schnell wie möglich hinter sich lassen. Denn nun fuhr er dem blauen Himmel, der Sonne und der Schönheit der Natur entgegen. Während die Landschaft drumherum mit jedem weiteren Meter Gleise lebhafter und schöner wurde, saß Emma an ihrem Fenster und genoss die Fahrt sichtlich. Ihre Augen strahlten und sie konnte gar nicht mehr aufhören zu Lächeln.

Vorbei an Wiesen auf denen gefleckte Kühe grasten, dichten Wäldern in dessen Bäumen Vögel zwitscherten und klaren Gewässern in denen sich unzählige Fische tummelten. Emma's Herz schlug schneller, passte sich schier dem Rhytmus der dampfenden Lock an und strahlte mit der Sonne um die Wette. Etwas so wunderschönes hatte sie daheim noch nie gesehen.
Hier gab es keine trostlosen Backsteinbauten und dunklen deprimierenden Farben. Es schien einfach alles zu leuchten und die Farbpracht war überwältigend. Sie sah Farben die sie noch nie gesehen hatte.
Emma war noch dabei all die eindrücke in sich aufzunehmen, als sich eine ältere Dame neben sie auf die Bank setzte.
"Es ist herrlich, nicht wahr?!" Die Kleine drehte sich nicht um, denn sie wollte nichts davon verpassen, nickte aber eifrig. Kurz darauf war die Fahrt auch schon zu ende und der Zug stoppte an einem kleinen Märchenhaften Bahnhof.
"Wir sind da," sagte die alte Dame und erhob sich zusammen mit Emma. Nebeneinander stehend war die Dame kaum grösser als das Mädchen. Als sie ihren Wagon verliessen wehte ihnen eine frische angenehme Briese entgegen, die nach herrlichen Blumen roch. Die alte Dame nahm Emma bei der Hand und zusammen schlenderten sie den Bahnsteig entlang.
"Schauen wie uns ein wenig um, auch wenn die Zeit knapp ist."
Da hielt Emma kurz an, setzte den Koffer ab und kramte eine alte Kamera aus ihm hervor. Sie machte Schnappschüsse vom Bahnhof, dem Zug und den verschiedenen Fahrgästen.
"Zur Erinnerung," sagte sie lächelnd und machte sogleich ein Foto von der alten Dame. Diese nahm sie nun wieder bei der Hand und blickte freundlich zu ihr herab.
"Das ist eigentlich nicht nötig. Du wirst schon bald wieder hier sein." Emma schloss die Augen und dachte darüber nach, während es um sie herum immer leiser wurde.

Im nächsten Augenblick schlug sie wieder die Augen auf und saß vor ihrer Holzeisenbahn auf dem Fussboden. Es war völlig ruhig, kein Geschrei mehr zu hören. Nachdem sie aufgestanden war, warf sie einen kurzen Blick aus dem Fenster. Draussen regnete es noch immer Eimerweise. Langsam ging sie an ihre Zimmertür uns lehnte sich seitlich mit dem Kopf daran. Nicht das geringste war zu hören, es war als befände man sich im Auge des Orkans. Vorsichtig zog sie die Tür einen Spalt breit auf und spähte vorsichtig hinaus. Niemand war zu sehen. Ihr Blick wurde besorgter als sie langsam durch den Flur ging, bis zur Schlafzimmertür ihrer Eltern. Dort blieb sie stehen. Noch immer war nicht das geringste Geräusch zu hören. Ruckartig zog sie die Türe auf und ging hindurch.

Hand in Hand stand sie mit ihrer Mutter auf einer saftig grünen Wiese. In der Ferne konnte man den kleinen Bahnhof erkennen. Emma blickte glücklich zu ihrer Mutter auf, die jetzt so schön, unschuldig und jung aussah. Ihr Haar war frisch gebürstet und ihre Augen wirkten so klar. Alles war nun wunderbar ...
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Felix,

die Welt aus der Sicht eines kleinen Mädchens zu betrachten, ist eine sehr schwierige Angelegenheit und darum möchte ich Dir erst einmal meine Anerkennung dafür aussprechen, dass Dir das recht gut gelungen ist.
Außerdem ist die Geschichte flüssig erzählt und auch die Flucht in eine Traumwelt erscheint mir glaubwürdig.

Allerdings glaube ich nicht, dass ein kleines Mädchen in solch einer Situation traurig ist - das ist der äußere Anschein. Im Grunde ihres Herzens hat sie Angst, fürchterliche Angst, denn in diesem Alter ist man noch von der Aufmerksamkeit der Erwachsenen dermaßen abhängig, dass man eine Atmosphäre der Gewalt und des Streits als normal hinzunehmen bereit ist, solange man Aufmerksamkeit bekommt. In der vorgegebenen Situation leidet sie unter der mangelnden Aufmerksamkeit der Eltern, die nur mit sich beschäftigt sind. Das könnte auch eine zu große Liebe füreinander bewirken.

Die Vernachlässigung hast Du gut herausgearbeitet und die Schilderung der Flucht von der grauen, lauten Welt in die Traumlandschaft hat mir sehr gut gefallen - wenn ich auch das Bedürfnis, Fotos zu machen, bei einer 6jährigen nicht unterstellen würde.

Im gesamten Kontext erscheint mir der Einschub aber zu lang - vor allem im Hinblick auf die Schlussphase, die quasi nur einen Schlenker in die Realität macht, um dann wieder im Irrealen zu enden.

Du schilderst nicht, was sie sieht, und warum sie nahtlos in die Traumwelt zurückkehrt und das emfinde ich als unbefriedigend.
Mir erschiene rund, wenn sie ihre Mutter leblos auf dem Bett fände, sich an sie kuschelt und dann 'mit ihr zusammen abhebt'. Oder wenn sie die Wohnung leer vorfände, sich gleichfalls verkriechen würde und die äußere und innere Leere mit der Phantasie ausfüllte.
Wie Du es schilderst, handelt sie parallel in der realen Welt, indem sie die Tür öffnet und ins Schlafzimmer hineingeht, und flüchtet vor ihr. Ich bin mir nicht sicher, dass das überhaupt geht - ob man seine Aufmerksamkeit in solch einer Situation zwischen real und irreal aufteilen kann.

Insgesamt eine überzeugend anrührende Geschichte.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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